Es gibt Dinge, die machen einen fassungslos. Man liest sie, schüttelt mit dem Kopf und sagt nur still vor sich hin: Das gibt es doch nicht, das kann doch wohl nicht wahr sein. Heute morgen, Samstag, Frühstückszeit, die SZ liegt auf dem Tisch. Seite 1 ein Foto mit Aiwanger von den Freien Wählern und daneben der Text in dicken Lettern: „Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben.“ So der Titel in weißer Schrift auf grauem Untergrund. So ganz klar ist mir die Sensation der Nachricht noch nicht, weil man dem Aiwanger ja schon immer vieles zugetraut hat. Aber die Blattmacher in München wissen natürlich um den Skandal, der sich da auftut. Deshalb besteht die erste Seite fast nur aus Aiwanger. Im Aufmacher heißt es: „Bayerns Vizeministerpräsident verbreitete in seiner Jugend offenbar rechtsextremes Gedankengut. Das legt ein Schriftstück nahe, das nun aufgetaucht ist. Der Freie-Wähler-Chef spricht von einer Schmutzkampagne.“
Aber dann kommt es knüppeldick, was die SZ-Redakteure offenbar in wochenlanger Recherche zusammengetragen haben. Man lese das Flugblatt, das der damals 17jährige Schüler der elften Klasse im Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf formuliert haben soll:
„Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter? Teilnahmeberechtigt: Jeder, der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält. Bewerber: Melden sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch. .. Und nun die zu gewinnenden Preise im Einzelnen: 1. Preis: Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz. 2. Preis: Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab.(Ort nach Belieben). 3. Preis: Ein kostenloser Genickschuß. 4. Preis: einjähriger Aufenthalt in Dachau. (Freie Kost und Logie). 5. Preis: Eine kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil. 6. Preis: Eine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe(Erfüllungsort ebenfalls das Vergnügungsviertel Auschwitz und Nebenlager). 7. – 1000. Preis: Eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller, dann ab nach Dachau. Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme und wünschen viel Vergnügen den Gewinnern der Plätze 1-1000!“
Bestialität im KZ
Das Flugblatt ist auf der Seite 3 der SZ abgedruckt, den Inhalt mit all den Preisen habe ich wörtlich aus der SZ übernommen. Es verschlägt einem die Sprache, wenn man so was liest. Ich war mehrfach in Auschwitz, habe die heutige Gedenkstätte besichtigt, Führungen mitgemacht, habe über die Bestialität im KZ Einzelheiten vernommen, stand meist still dabei, wenn über die Gaskammern berichtet wurde. Mir ist fast schlecht geworden in dieser ehemaligen Todesfabrik. Oder Dachau. Dort war das erste KZ, die Zeitungen berichteten darüber. Brutal wurden die politischen Häftlinge behandelt, verprügelt, totgeschlagen, man lies sie fast verhungern oder verdursten, oder man erschoss sie kaltlächelnd. Und dann verfasst ein 17jähriger Schüler eines Gymnasiums ein solches Flugblatt. Wes Geistes Kind muss dieser Jüngling gewesen sein? Wer denkt sich das aus: Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz? Ob es Aiwanger war?
Aiwanger hat, der SZ zufolge, durch seinen Sprecher dementieren lassen, dass er der Verfasser des Flugblattes gewesen sei. Dahinter stecke eine „Schmutzkampagne“. Das kenne ich aus anderen skandalträchtigen Geschichten der Bundesrepublik. Als der „Spiegel“ einst, vor vielen Jahren, kurz vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein die Barschel-Affäre aufdeckte, empörte sich sein Parteikollege, Minister Gerhard Stoltenberg über die „linke Kampfpresse“. Und natürlich hat Aiwanger damit gedroht, jeden zu verklagen, der dieses Flugblatt veröffentlicht. Als wenn eine Zeitung wie die „Süddeutsche“ sich davon abhalten lassen würde, eine solche Geschichte zu drucken
Die Journalisten des renommierten Münchner Blattes haben wochenlang recherchiert, mit ehemaligen Lehrern und damaligen Schülern von Aiwanger gesprochen. Nicht jeder habe sich getraut, zur Causa Aiwanger sich zu äußern. Und die sich äußerten, baten darum, anonym zu bleiben. Aus Angst? Wenn ja, vor wem? Dem Gericht? Den Anwälten des Freie-Wähler-Chefs?
Disziplinarausschuss der Schule
Aiwangers Lehrer haben der SZ bestätigt, dass es das Flugblatt gab, einer will Kopien in Aiwangers Schultasche entdeckt haben. Der Disziplinarausschuß der Schule habe sich mit dem Fall Aiwanger befasst, der Schüler sei bestraft, ihm sei zur Auflage gemacht worden, ein Referat über das Dritte Reich zu schreiben. Ob er es tatsächlich geschrieben und vorgelegt hat, ist bisher nicht bekannt. Schreibt die Süddeutsche. Wenn Aiwanger seine Urheberschaft bestreitet, sagen dann die Lehrer die Unwahrheit, oder seine ehemaligen Mitschüler?
Das Flugblatt sei auf einer Schreibmaschine getippt worden, lese ich in der SZ. Das Papier sei aufgetaucht im Schuljahr 1987/88 am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg, irgendwo bei Landshut. Ich kenne die Gegend, Freunde leben dort. Ländlich-sittlich, dörflich. Niederbayern. Hier ging also Hubert Aiwanger zur Schule, hier in der Nähe wuchs er auf, „hier hat die SS jüdische KZ-Häftlinge auf Todesmärsche getrieben“, erinnert die SZ an die letzten Wochen vor Ende des 2. Weltkrieges, als die Amerikaner näher rückten. Im genannten Schuljahr habe die Schule an einem Erinnerungswettbewerb teilgenommen. Deutsche Geschichte. Und da soll Huber Aiwanger „sein eigenes Preisausschreiben erfunden haben, antisemitische Fantasien. Das Flugblatt, ein Papier aus der Vergangenheit, das womöglich eine Linie ins Heute zieht.“ Wörtlich die „Süddeutsche Zeitung.“
Die SZ schreibt, sie habe mit zwei Dutzend Personen gesprochen, die Aiwanger aus der Schulzeit kennen. Und diese hätten ihn als Urheber des antisemitischen Druckstücks ausgemacht. Mehr noch, Aiwanger habe damals die Urheberschaft nicht bestritten. Es wird über fast zwei Seiten der Zeitung ein Bild des Freie-Wähler-Politikers gezeichnet, das ihn mindestens in der Nähe des rechten Rands sieht. Ihn sogar als jungen Mann darstellt, der eine Faszination für Hitler und das Dritte Reich gehabt haben soll. Die SZ berichtet von Äußerungen, Aiwanger habe damit geprahlt, er habe vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert und dessen verbotenes Buch „Mein Kampf“ gelesen.
Umsturz des Systems
Die SZ fragt weiter, ob dieses Flugblatt „die Linie vom Gestern ins Heute“ sei? Also von Mallersdorf bis Erding? Wir erinnern uns an seinen Auftritt in Erding vor Wochen vor über 13000 Menschen, eine Veranstaltung. u.a. von der Kabarettistin Monika Gruber mitorganisiert. „In Erding hat Hubert Aiwanger zum Umsturz eines Systems aufgerufen, das ihn selbst nach oben getragen hat, bis ins zweithöchste Amt in Bayern. So konnte man ihn verstehen.“ Originaltext SZ. Und trotz der verbalen Pöbelei ist er im Amt geblieben, schwimmt er auf einer Welle, die seine Freien Wähler in Bayern bei 14 Prozent sehen. Platz zwei hinter den Grünen. Er ist weiter im Amt, obwohl er derartig gegen die da oben ledert, dass es einem schlecht werden kann. In Erding zum Beispiel. „Die schweigende Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie zurückholen“, hat er getobt im Jargon der AfD. Und man müsse „denen in Berlin sagen: Ihr habt ja wohl den Arsch offen da oben“. Worte, für die er kritisiert wurde, mehr nicht, dabei ist die Tour, auf der sich Aiwanger befindet, gefährlich.
Aber einer wie er hat sich nie von anderen die Meinung verbieten lassen. Ob das was mit der Herkunft zu tun hat? In Niederbayern hat man es gern „krachert“, da ist der Aiwanger, schildert die SZ, ein Held, da wird der Rechercheur eher angegiftet, was er sich erlaube, im „Misthaufen zu wühlen“. Alles sei lang her: Wirklich, muss man nachfragen. Das Flugblatt eine Jugendsünde? Mit 17 ist man strafmündig, erklärt die Zeitung.
Hubsi, Hubsi-Rufe, damit dürfte es vorbei sein. Bayern besteht nicht nur aus Bierzelten. In wenigen Wochen wird ein neuer Landtag gewählt. Markus Söder, der CSU-Chef und Ministerpräsident, hat sich vor langer Zeit festgelegt: er will die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen. Klar, das ist bequemes Regieren. Söder hat dem Aiwanger manches durchgehen lassen, die Rede in Erding, Aiwangers Verweigerungs-Haltung damals in der Corona-Pandemie. Aber es kann eng werden. Das Flugblatt kann Aiwanger zum Verhängnis werden. Wie will er gegen all die Zeugen ankommen, die gegen ihn sprechen, die beteuern, er sei es gewesen. Drohungen allein helfen nicht. Und das Faß ist voll. Aiwanger ist nicht das Volk, wie er gern im Bierzelt dröhnt. 14 Prozent sind nicht das Volk. Und das Image des Mannes von der Straße, der mit der Schaufel umgehen kann anders als die in Berlin, der Mann, der aufs Volk höre und all die Sprüche, das gerät an ein Ende. Ilse Aigner, die Landtagspräsidentin, hat es bei der letzten Landtagssitzung vor den Ferien auf ihre feine Art verdeutlich: „Unsere Demokratie ist echt, sie ist lebendig und keinesfalls formal. Wir müssen uns die Demokratie auch nicht zurückholen.“ Jeder wusste, wen sie meinte. Aiwanger habe die Worte „wie eingefroren“ vernommen, niemand habe Hubsi gerufen, so die SZ, „die Vertreter des Volkes klatschten für die Landtagspräsidentin. Nur seine eigenen Leute haben stillgehalten. und die AfD, ganz rechts außen.“
Wenn die Welle bricht
Die Welle mit Aiwanger, begeisterte Anhänger, weil der sagt, was er denkt, der Mann, der auf dem Podium gern die „Ärmel aufkrempelt wie ein Metzger“, schreibt die SZ, „der gleich die Sau zerlegt“. Der die in Berlin, die noch nie eine Schaufel in der Hand gehabt hätten, attackiert. „Die sollen eine in die Hand nehmen oder das Maul halten“. Diese Welle um und mit Aiwanger ist gewachsen, aber irgendwann bricht eine Welle. Wie jetzt. Der Vize-Ministerpräsident des Freistaates Bayern, er mag daheim seine Fans haben, aber Bayern besteht nicht nur aus Bierzelt, wie die SZ feststellt. „Man schaut jetzt anders auf ihn, wenn man hört, was die Leute von damals erzählen. Wenn das alles stimmt, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass er in einer Gedenkstunde sitzen könnte für Auschwitz oder Dachau.“
Man frage die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. Die 90jährige Dame blickt auf ein Leben zwischen dunkler Zeit und großer Freude zurück. Während der Novemberpogrome 1938 floh ihr Vater mit der vierjährigen Tochter zu Freunden, die ihr Unterschlupf boten. 1942 dann tauchte ihr Name auf einer Deportationsliste der Gestapo auf, die 10jährige Charlotte wurde zu einer ehemaligen Hausangestellten gebracht, die das Kind als ihr eigenes, uneheliches Kind ausgab und mit ihr zusammen bis zum Kriegsende auf einem Hof in Mittelfranken lebte. Die Hausangestellte, ihre Retterin, Frau Hummel, wurde 2017 posthum als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Mit ihrem Vater, der als Zwangsarbeiter überlebte, kehrte Charlotte nach dem Krieg nach München zurück. Charlotte Knobloch wird bestimmt nicht solche Worte sagen wie Aiwanger: Wir müssen uns unsere Demokratie zurückholen. Nein, sie wird eher dem Bundespräsidenten zustimmen, der immer wieder betont: Es braucht Demokraten, die unsere gute Demokratie verteidigen. Gegen ihre Feinde. Im Bierzelt und an allen Orten der Republik.
Vorerst ein letztes Wort zu dem Schmierenthema: Viele Stunden kein Wort von Aiwanger. Dann erklärte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder das Flugblatt für „ekelhaft“ und forderte Aufklärung von seinem Vize. Und der beeilte sich zu betonen, dass er nicht der Verfasser des Flugblatts sei, er kenne ihn, der werde sich zu Wort melden. Das tat dann sein Bruder Helmut und der sagte mit Abscheu und Empörung, dass er die Schrift verfasst habe, weil er sich als Sitzenbleiber über die Schule geärgert habe. Er bedaure, dass er das Stück verfasst habe und distanzierte sich von dem Inhalt. Es folgten viel Kritik, Aufforderungen an den CSU- und Regierungs-Chef, er müsse handeln, auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Klein, meldete sich zu Wort und übte Kritik. Das Flugblatt wurde vor 35 Jahren verteilt auf einer Toilette der Schule, die Aiwanger besuchte, Kopien fanden sich auch in Aiwangers Schultasche, was er ebenso bestätigte wie das Disziplinarvergehen der Schule gegen ihn. Aber er sei nicht der Verfasser. Fragt sich, warum er solange gebraucht hat für sein Dementi und den Hinweis auf seinen Bruder. Die „SZ“ ließ einen Schriftexperten die Schrift prüfen. Ergebnis: Das antisemitische Blatt sei „sehr wahrscheinlich“ auf derselben Schreibmaschine getippt worden wie Aiwangers Facharbeit am Gymnasium 1990. Dementi hin oder her, auch wenn er nicht der Verfasser des Flugblatts war, hat er es mit sich rumgetragen und wohl auch verteilt. Aiwanger bleibt im Fokus der Angriffe. Am 8. Oktober wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Söder will mit Aiwanger und den Freien Wählern erneut die bayerische Regierung bilden. Fragt sich, ob sich Hubert Aiwanger, ob Söder Aiwanger halten kann. Die Vorwürfe wiegen schwer.
Bildquelle: Wikipedia, Stefan Brending / Lizenz: Creative Commons CC-BY-SA-3.0 de (hier nur Ausschnitt Aiwanger, Söder)