Die Görlitzer waren am 17. Juni 1953 schon früh auf den Beinen. Um halb zehn hatten sich bereits ein paar hundert Arbeiter am Bahnhof versammelt, dazu stießen Werktätige von der Waggonbau im nahen Niesky. Schnell schlossen sich dem Demonstrationszug immer mehr Bürger an, rund tausend Menschen. Ihre Parolen schallten durch die geteilte Stadt am Fluss:“Freie Wahlen! Keine Oder-Neiße-Grenze!“ Auf dem Weg zum Obermarkt in der Altstadt (damals „Leninplatz“) umlagerten die Protestierenden zunächst das Frauengefängnis, später das Untersuchungsgefängnis. Aus beiden Haftanstalten konnten, teilweise auch unter Einsatz von Brechstangen und Schweißgeräten, 416 Insassen befreit werden – „politische“ wie „kriminelle“.
Diese erfolgreichen Aktionen machten den Demonstranten Mut, mittlerweile waren es 30 000, nicht bloß Arbeiter des VEB Lok- und Waggonbau (LOWA) sowie der EKM Maschinenbau, sondern auch Hausfrauen, Schüler, Verkäuferinnen, Geschäftsleute und Angestellte. Am Mittag skandierte die Menge auf einer Kundgebung ihre Forderungen:“Nieder mit der Regierung! Nieder mit der SED! Wir wollen freie Wahlen.“ Über den Stadtfunk, den einige der Aktivisten unter ihre Kontrolle gebracht hatten, verbreiteten sich die Sprechchöre und Reden per Lautsprecher in ganz Görlitz. Der SED-Oberbürgermeister Willi Ehrlich wurde für abgesetzt erklärt – ein 20-köpfiges Bürgerkomitee übernahm die Verwaltung der Stadt.
Zu diesem Komitee zählten der Rechtsanwalt Carl Albert Brüll, der Zeltplanenfabrikant Rudolf Erich Strohmeyer, der Autoschlosser Hermann Gierig, der Architekt Otto Cammentz und der Verwaltungsangestellte Richard Wagner. Obendrein gesellten sich Ärzte, Einzelhändler, Rentner und Jugendliche dazu. Einer von ihnen, der damals 34 Jahre alte LOWA-Angestellte Werner Herbig, wurde später als „Rädelsführer“ identifiziert und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Denn die Freiheit, die die Görlitzer sich vorübergehend erkämpften, währte nur ein paar Stunden. Um 14.30 Uhr war plötzlich eine Lautsprecherdurchsage zu vernehmen:“Achtung! Achtung! Der Stadtkommandant setzt die Stadt Görlitz in Anbetracht der Unruhen in Belagerungszustand und befiehlt den Menschen auseinanderzugehen. Sämtliche Ansammlungen sind verboten.“
Trotz dieser Warnung kam es noch zu einer zweiten Kundgebung, erneut mit 25 000 Teilnehmern. „Die Stunde der Freiheit hat geschlagen“, rief ein älterer Sozialdemokrat der Menge zu,“Die SED und ihre Funktionäre sollen sich aus dem Staub machen, bevor sie der gerechte Zorn der 18 Millionen trifft.“ Doch die aufflammende Euphorie verstummte bald. Gegen 16.00 Uhr wurden die ersten Militärfahrzeuge im Stadtzentrum gesichtet, sowjetische Mannschaftswagen mit je 20 Soldaten fuhren in Richtung Obermarkt. Weitere 90 Minuten dauerte es, bis bewaffnete Einheiten in das von den Bürgern besetzte Rathaus eindrangen und die Besetzer vertrieben. Auch einzelne Schüsse fielen, aber es gab keine Verletzten. Panzer zerstreuten die letzten Menschenansammlungen. Um 20.30 Uhr verzeichnet das Protokoll der Volkspolizei in Görlitz „Ruhe und Ordnung“.
Dass der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Görlitz erfolgreich war, wenn auch nur für einige Stunden, erfüllt den amtierenden Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU) noch heute mit Stolz. Der gelernte Musiker kam kurz vor der Friedlichen Revolution im Herbst 1990 als Solo-Trompeter an die Neue Lausitzer Philharmonie in Görlitz, als Student in Bukarest hatte der gebürtige Rumäne am Protest gegen das Regime von Diktator Nicolae Ceausescu teilgenommen. Die besondere Rolle der Stadt in der Chronologie des 17. Juni will er am 70. Jahrestag bei der Gedenkfeier am Postplatz zusammen mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), der aus Görlitz stammt, würdigen:“Die Erinnerung an diesen wichtigen Tag in der Stadtgeschichte dient uns allen auch als Mahnung, Unterdrückungssysteme nicht hinzunehmen, sondern Freiheit zu schätzen und zu verteidigen.“ Ursu kannte, als er vor 23 Jahren nach Görlitz kam, die lokalen Ereignisse am 17. Juni 1953 nicht, aber er lernte schnell zu rühmen, wie viel Mühe sich die Stadtgesellschaft gab, die Erinnerung an den Volksaufstand von damals an die Jüngeren weiter zu geben.
Daher hütet Ratsarchivar Siegfried Hoche die Berichte von Zeitzeugen und die Dokumente jener Stunden – Schriftstücke, Fotografien, Tonbandmitschnitte – mit besonderer Akribie, gerade auch die Namen der 20 Bürger des Komitees, die sich zur Mittagsstunde des 17. Juni 1953 im „Spatenbräu“ versammelten und den Görlitzer Bürgern versprachen:“Wer irgendwie ein Anliegen hat, hat sich dort bei uns zu melden. Wir werden dann gleich gemeinsam die Sache bearbeiten.“ Freilich wird aus den von Hoche gepflegten Unterlagen auch deutlich, dass nach der Niederschlagung des Aufstands an der Neiße „die Bürgerschaft ausblutete und viele Arbeiter weggingen“, meist in den Westen. Diejenigen, die blieben, waren zu DDR-Zeiten oftmals in den christlichen Kirchen aktiv, sehr zum Ärger der örtlichen SED. So wie Volker Bandmann (71), Werkzeugmacher und Betriebsrat bei Robotron, seit Dezember 1989 CDU-Mitglied und von 1990 bis 2014 Abgeordneter im Dresdner Landtag. „Nach der langen Schweigezeit in der DDR“, so erinnert sich der gebürtige Görlitzer heute,“bin ich stolz auf die Revolution von 1989, und es bleibt für mich ein Wunder, dass sie friedlich verlief.“ Für Bandmann steht der 17. Juni 1953 in einer Tradition mit dem Volksaufstand der Ungarn 1956, dem Prager Frühling von 1968 und dem Mauerfall am 9. November 1989, dem für ihn „emotionalsten Moment“ in seinem Leben. Dass er danach Teilnehmer am Runden Tisch in Görlitz war, zeigt für ihn, „dass es sich auszahlt, auf der richtigen Seite der Barrikaden zu stehen“. Wie auch für Oberbürgermeister Octavian Ursu, der einst in Bukarest zum Sturz von Diktator Ceausescu beitrug und heute an der Spitze einer Stadt steht, die sich spezielle Verdienste um die historische Bedeutung des 17. Juni 1953 erwarb.
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