Als Günter Grass, damals 81 Jahre alt, im Sommer 2009 ein letztes Mal für seine SPD die Trommel schlug, resümierte der Literatur-Nobelpreisträger nach vielen Wahlkampfauftritten und Begegnungen mit der nachwachsenden Generation, besonders mit den seinerzeit für den Bundestag Kandidierenden, dass „das Geschichtsbewusstsein der Jüngeren doch ausbaufähig“ sei. Maximilian Mordhorst (27), jüngster FDP-Abgeordneter im Bundestag, und Isabel Cademartori (35), eine von stolzen 51 SPD-MdB im Juso-Alter, können diesem Befund ehrlicherweise nicht widersprechen. Vom 17. Juni 1953, dem Tag des Volksaufstands in der DDR, haben die beiden Parlamentsnovizen jedenfalls in ihrer langen Schulzeit nichts gehört.
Auf einem Spaziergang vom Jakob-Kaiser-Haus auf der Berliner Wilhelmstraße 68 zum „Denkmal für die Ereignisse des siebzehnten Juni Neunzehnhundertdreiundfünfzig“ auf dem Vorplatz des Bundesfinanzministeriums, einem in den Boden eingelassenen Glasbild aus einem vergrößerten und grob gerasterten Foto von Streikenden des Berliner Künstlers Wolfgang Rüppel, erzählen Cademarori und Mordhorst, dass sie von diesem einschneidenden Datum der deutschen Nachkriegsgeschichte erst erfahren haben, als sie sich schon politisch engagierten. Das ist bemerkenswert, weil die zwei Nachwuchspolitiker doch einen ziemlich unterschiedlichen Weg ins Hohe Haus an der Spree hinter sich haben.
Isabel Cademartori wurde 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, im brandenburgischen Bad Saarow geboren. Ihre Eltern hatten sich beim Studium in Leipzig kennengelernt, der Vater kam aus Chile. Dorthin zog die Familie noch zu DDR-Zeiten, Isabel ging auf die Deutsche Schule in der Hauptstadt Santiago. Nach der Trennung der Eltern kehrte sie mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück und beendete ihre Schulzeit mit dem Abitur in Hannover. Bis dahin fiel im Unterricht kein Wort über den 17. Juni 1953. Nicht anders bei Maximilian Mordhorst, der in Neumünster zur Welt kam und 2015 seine Reifeprüfung in Kiel bestand. Und heute, 70 Jahre nach der Volkserhebung in über 560 Ortschaften der DDR, gehören Cademartori und Mordhorst zu den 736 Abgeordneten, die am 16. Juni 2023 unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes an diesen Tag erinnern.
Weil der 17. Juni in diesem Jahr auf seinen Samstag fällt, zieht das Parlament die Sonderveranstaltung um 24 Stunden auf den letzten Tag der normalen Sitzungswoche vor. Nur eine Stunde nimmt sich das Plenum Zeit für das Gedenken – Bundestagspräsidentin Bärbel Bas begrüßt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht. Einige Rezitationen sollen die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 wieder aufleben lassen. Am Schluss erklingt die Nationalhymne. Max Mordhorst sagt:“Ich hätte mir eine Debatte dazu gewünscht.“ Und was sollte die bringen? Der FDP-Junior:“Dann würden die verschiedenen Perspektiven auf den 17. Juni deutlich – von Ost- und Westdeutschen, von Jüngeren und Älteren.“ Dass der Blick zurück sehr unterschiedlich ausfallen kann, beweisen gerade aktuelle Veröffentlichungen über die DDR, den SED-Staat, „den Osten“.
Auf ihrem Weg vom Bundestag zur Gedenkstätte an der Kreuzung Wilhelmstraße/Leipziger Straße halten Isabel Cademartori und Maximilian Mordhorst auch an einem anderen Denkmal inne. Die 17 Meter hohe Stahlskulptur mit der Silhouette des Profils von Georg Elser ist ein von Berlin-Touristen eher übersehenes Zeugnis deutscher Geschichte. Der Schreiner aus dem württembergischen Königsbronn hatte schon am 8. November 1939 versucht, den weiteren Aufstieg Adolf Hitlers durch einen Sprengstoffanschlag im Münchner Bürgerbräukeller zu stoppen. Das Attentat schlug fehl, Elser starb kurz vor Kriegsende im KZ Dachau. Ein früher Akt des Widerstands gegen den Diktator. Dass heute auch Vertreter der Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ behaupten, sie hätten keine andere Wahl für ihren Protest gegen die Umweltpolitik der Bundesregierung als massive Behinderungen des Straßenverkehrs oder andere Formen des „zivilen Ungehorsams“, erzürnt die beiden jungen Abgeordneten.
Isabel Cademartori findet:“Es gibt in der Demokratie genügend andere Möglichkeiten, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Das haben gerade auch beim Klimaschutz ‚Fridays for Future‘ und andere Initiativen gezeigt.“ Maximilian Mordhorst hält die Maßnahmen der „Letzten Generation“ sogar für „kontraproduktiv“, weil sie grundgesetzlich garantierte Freiheiten „für illegale Aktionen missbrauchen“. Auch Minderheiten, meint der Liberale, genössen Schutz, aber die Entscheidungen der Mehrheit nicht zu respektieren und stattdessen „die Demokratie und ihre Institutionen vorführen zu wollen,“ gehe eindeutig zu weit und stoße auf Ablehnung bei der Bevölkerung. Die Sozialdemokratin Cademartori empfiehlt den Demonstranten, sich parteipolitisch zu engagieren wie sie selbst: Schon als Studentin der Betriebswirtschaftslehre in Mannheim übernahm sie 2012 für die SPD Verantwortung als Bezirksbeirätin auf kommunaler Ebene.
Weiter geht es auf der Wilhelmstraße, über die vor sieben Jahrzehnten auch die Protestmärsche der Bauarbeiter von der Stalin-Allee führten, die sich gegen Normenerhöhung durch den Staat wandten und für freie Wahlen kämpften. Dort, wo heute Bundesarbeitsminister Hubertus Heil residiert, stand in der NS-Zeit das Propagandaministerium von Joseph Goebbels und 1953 das „Haus der Nationalen Front“, dem Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen der DDR. Auf wenigen Metern verdichtet sich auf dieser Straße im alten Herzen Berlins deutsche Zeitgeschichte – hier die Adresse von Hitlers Reichskanzlei, dort das ehemalige Gebäude von Wilhelm Piecks Amtssitz, hier der Protestzug der Freiheitskämpfer vom 17. Juni 1953, dort die beiden Volksvertreter einer Generation, die in einem vereinigten Deutschland groß geworden ist.
Für Isabel Cademartori und Maximilian Mordhorst existiert eine zusammenhängende Traditionslinie zwischen den Schicksalsdaten der Nation. Zusammenbruch und Befreiung am 8. Mai 1945, der 17. Juni 1953, der 9. November 1989, schließlich der 3. Oktober 1990. Mordhorst will auch den 13. August 1961 nicht vergessen, den Tag des Mauerbaus:“Das war für die Bürgerinnen und Bürger der DDR der ultimative Hinweis darauf, dass sie in Unfreiheit leben mussten.“ Für Isabel Cademartori hat die wechselvolle Geschichte von Demokratie und Unterdrückung noch eine ganz persönliche Seite: Ihr Großvater Jose Cademartori war Kommunist und ein paar Monate lang Wirtschaftsminister unter Salvador Allende in Chile. Nach dem Militärputsch von General Augusto Pinochet wurde er 1973 verhaftet und nach dreijähriger Gefangenschaft zum Exil gezwungen.
Heute lebt Jose Cademartori wieder in Chile, und er ist unverändert Mitglied der Kommunistischen Partei KPC. „Die ist“, meint Isabel Cademartori,“eine recht moderate und staatstragende Partei, nicht vergleichbar mit einer kommunistischen Partei in Europa.“ Natürlich streiten sich der Großvater und seine Enkelin auch über Politik, wenn sie sich sehen. Die deutsche Sozialdemokratin ist zum Beispiel anderer Meinung, wenn ihr kommunistischer Opa erzählt, dass er den Einmarsch der Sowjet-Armee 1968 in die Tschechoslowakei und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ damals verteidigte. Andererseits habe ihre Familiengeschichte sie von Anfang an „zum politischen Menschen gemacht, wir haben schon am Frühstückstisch über Politik debattiert“. Eigentlich also kein Wunder, dass sie bereits im jungen Alter im Bundestag gelandet ist. Am Ziel angekommen. Isabel Cademartori und Maximilian Mordhorst verweilen lange ins Gespräch vertieft am Gedenkort für die gewaltsam vereitelte Revolution am 17. Juni 1953. An einer Ecke des heutigen „Bundesministeriums der Finanzen“ erinnern eine Inschrift („Platz des Volksaufstandes von 1953“) und eine Wandplakette an den Protest von Millionen Menschen in der DDR, allein in Ost-Berlin gingen 100 000 Frauen und Männer auf die Straße, über 50 von ihnen kamen beim Einsatz sowjetischer Panzer und Waffen ums Leben. Vier Stelen informieren auf Deutsch und Englisch über die Ereignisse vom 16. und 17. Juni vor 70 Jahren. Dazu das Bodenrelief von Wolfgang Rüppel. „Das bleibt“, sagt Maximilian Mordhorst,“auch für uns eine Mahnung: dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind, sondern erkämpft und immer wieder verteidigt werden müssen.“
Erstveröffentlicht in Südwest Presse