„Und wenn er gestürzt wird?“ Allein die Fragestellung in der „Spiegel“-Kolumne des im Berliner Exil lebenden türkischen Journalisten Can Dündar(61) zeigt, wie unsicher der Wahlausgang am Sonntag in der Türkei ist. Ich könnte für mich und meine Familie die Frage beantworten: Wenn Erdogan gestürzt wird, machen wir wieder mal Urlaub in diesem herrlichen Land, wo wir immer auf freundliche Menschen stießen, die uns sofort als Deutsche erkannten. Kann ich Ihnen helfen? Wie oft habe ich diese freundliche Frage gehört, wenn wir in Istanbul, in Antalya oder in Ephesus waren. Am Sonntag heißt es: Erdogan oder Kilicaroglu. Oder verkürzt, weil einem der Name des Herausforderers nicht so geläufig ist: „Er oder nicht er“, so der Titel des Leitartikels in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Türkei ist ein großes Land, ein strategisch wichtiges obendrein am Bosporus, mit 85 Millionen Einwohnern eines der bevölkerungsreichsten dazu.
Der Wahlausgang ist natürlich für einen wie Can Dündar wichtiger, lebenswichtiger als für Touristen wie unsereinen. „Ich habe eine 80jährige Mutter, die am Fenster in Ankara darauf wartet, dass ich nach Hause zurückkehre“. Beschreibt er in einem feinfühligen Text seine Stimmung, mit der er aus dem fernen, aber sicheren Berlin der Wahl entgegenfiebert. Warum er im Exil leben muss wie andere Türken? „An unserem Wiedersehen hindern uns meine Gefängnisstrafen von insgesamt mehr als 50 Jahren: zum einen wegen eines von mir veröffentlichten Zeitungsartikels, zum anderen wegen der vermeintlichen Anstiftung zum Gezi-Aufstand vor zehn Jahren.“
Der Gezi-Aufstand: Im Mai 2013 protestierten in Istanbul vor allem junge Menschen zunächst für den Erhalt der sogenannten Gezi-Parkanlage in der türkischen Metropole, für den Erhalt von Bäumen und gegen den Bau eines Einkaufszentrums, dann gegen die Einschränkung demokratischer Rechte. „Selbst, wenn wir unterliegen, den Geschmack von Aufstand haben wir auf der Zunge.“ So war es auf einer Mauer im Zentrum von Istanbul zu lesen. Die zumeist jungen Demonstranten gingen auf die Straße und protestieren gegen Zensur, staatliche Willkür und Polizeigewalt. Gezi wurde zum Symbol für eine junge türkische Demokratiebewegung, ein Ausdruck für Widerstand, Solidarität und Zusammenhalt. Der viel zitierte Geist von Gezi besagt nicht nur die wochenlange Besetzung des Taksim-Platzes und das teils lebensgefährliche Katz- und Maus-Spiel mit der brutal vorgehenden Polizei, sondern vor allem die Hoffnung auf eine andere Türkei, in der die verschiedensten Gesellschaftsgruppen Seite an Seite für ein besseres Land streiten.
Der Traum der Protestierenden im ganzen Land wurde mit Gewalt niedergeschlagen. bei Zusammenstößen zwischen Beamten und Demonstranten in mehren Landesteilen kamen elf Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Erdogan betrachtete den Aufstand als eine Verschwörung des Westens, um ihn aus dem Amt zu jagen.
Zwischen Freiheit und Unfreiheit
Die Wahl am Sonntag sei mehr als eine Wahl, schreibt Düncar im „Spiegel“, „es ist ein Referendum, zwischen Unfreiheit und Freiheit“. Diese Wahl werde darüber entscheiden, zitiert Düncar einen Freund aus dem Gefängnis, „ob ich meine Mutter noch einmal sehen kann.“ Oder ob er den Rest des Lebens hinter Gittern verbringen muss. Düncar weiß von einem Abgeordneten, dass dieser sich nach der Stimmabgabe auf eine Insel in der Ägäis zurückzieht, weil er befürchtet, dass im Falle eines Sieges von Erdogan „die Verhaftungen noch in derselben Nacht beginnen könnten.“ Derselbe Erdogan, dessen Land Mitglied der NATO ist, der Mann, dessen Türkei Beitrittskandidat der EU ist, aber mehr nicht, was ihn ärgert. Ein Präsident, der immer noch mit Russlands Präsidenten Putin kann, aber auch enge Kontakte mit Peking pflegt. Die Türkei beherbergt fast vier Millionen Geflüchtete aus Syrien und bekommt dafür viele Milliarden Euro aus Brüssel. Dank eines entsprechenden Deals zwischen Erdogan und der damaligen Kanzlerin Angela Merkel. Wer weiß, was passierte, wenn dieser Deal von Erdogan aufgekündigt und die Grenzen geöffnet würden? In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen türkischer Herkunft, 1,5 Millionen von ihnen haben Wahlrecht. Berlin blickt mit einiger Sorge Richtung Ankara.
Der Mann, der Recep Tayyip Erdogan besiegen könnte, heißt mit dem für Deutsche fast unaussprechlichen Namen Kemal Kilicdaroglu. Ausgerechnet ein 74jähriger soll den ewigen Sieger bezwingen, einer, der wie der ewige Verlierer aussieht. Sie hätten ihn oft mit dem indischen Freiheitskämpfer Gandhi verglichen, lese ich, was aber nicht als Kompliment gedacht gewesen sei. Sondern Ausdruck seiner Harmlosigkeit, seiner wenigen Reden, will sagen: Der ist viel zu still für ein solches Land und dann gegen einen wie Erdogan, der alle Mittel einsetzt gegen seine politischen Gegner, auch um sie zu diffamieren. Aber dieser Langweiler sei auf dem Weg nach oben, Erdogan müsse das erste Mal mit seiner Abwahl rechnen. Eben weil der Herausforderer als Mann gilt, der Ruhe ausstrahlt, der nicht poltert und droht, ein Mann, der schweigen könne. Und der sogar bekennt, dass er Alevit sei, kein Sunnit, also Mitglied einer Minderheit, obendrein mit kurdischen Wurzeln. Und er lebt auf kleinem Fuß, anders als Erdogan in seinem Palast mit 1000 Zimmern, einer, der seine Videos für den Wahlkampf in der eigenen Küche gedreht hat, ein studierter Verwaltungswissenschaftler, der gegen Korruption gekämpft hat. Ein Mann, der die ersten 53 Jahres seines Lebens nicht in der Politik war, dann einfacher Abgeordneter. Mit 62 Jahren wurde er an die Spitze der oppositionellen CHP gewählt, der Mann ohne Ehrgeiz überließ in zwei Wahlen anderen die Spitzenkandidatur. Dieser blasse Kemal Kilicdaroglu soll gewinnen, meinen seine Freunde, er kann gewinnen.
Ob er die Niederlage akzeptierte?
Und dann? Würde der neue Mann Demokratie und Rechtsstaat wiederherstellen. Politische Gefangene können mit ihrer baldigen Freilassung rechnen. Er werde die 16 Flugzeuge, die Erdogan habe, alle verkaufen. Er wolle eine Wiederannäherung an Europa. Erdogan hängen immer noch die schlimmen Folgen des Erdbebens an, bei dem 50000 Menschen allein in der Türkei ums Leben kamen. Vorwürfe sind laut geworden, dass auch deshalb die Schäden und Zerstörungen so gewaltig gewesen seien, weil man beim Bau der Häuser gepfuscht und nicht erdbebensicher gebaut habe. Kritik an Bauunternehmen, die große Spenden an Erdogans Partei, die AKP, gegeben hätten. Viele Menschen fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Und der Staat ist eben: Erdogan, der Machthaber. Ein Autokrat, der sich sein Land unterworfen hat, dem eher zugetraut wird, seine ohnehin vorhandene Machtfülle noch weiter auszudehnen bis zu einer Präsidentschaft auf Lebenszeit. Ob ein solcher Erdogan eine Niederlage akzeptieren werde? Diese Frage wird im Lande gestellt. Also ganz nach dem Muster von Trump, der seine Anhänger zum Sturm aufs Kapitol hetzte, weil er das Wahlergebnis, seine Niederlage nicht anerkannte?
„Wenn der Tag kommt.“ So der Titel der schon mehrfach erwähnten Kolumne von Dündar im „Spiegel“. Für den Fall, dass passiert, was Dündar erhofft: Die Abwahl des Autokraten, sein Sturz. „Die Tür zur Demokratie wird sich wieder öffnen.“ Dann werden „diejenigen, die in den vergangenen 20 Jahren ausgegrenzt, beleidigt und zu Objekten des Hasses gemacht wurden, mit Stolz auf die Bühne zurückkehren.“ Die Flüge von Deutschland in die Türkei seien am 15. Mai, das ist der Montag nach der Wahl, schon jetzt fast ausgebucht. Mit ängstlichem Optimismus beginnt Dündar, seinen „Koffer zu packen“. Man möchte ihm einen guten Flug wünschen und ein fröhliches Wiedersehen mit seiner Mutter, damit sich sein Exil in Berlin nicht verlängere.