Willy Brandt streifte in seinen vielen Reden auf ebenso vielen Parteitagen seiner SPD gelegentlich die bewegte Geschichte der ältesten deutschen Partei und kam auf deren Widerstand gegen die Nazi-Diktatur zu sprechen. Und wenn er dann den Namen seines Amtsvorgänger Otto Wels erwähnte, kämpfte der große Sozialdemokrat gelegentlich mit den Tränen, ehe er den berühmt gewordenen Satz von Otto Wels bei dessen historischer Rede in der Berliner Kroll-Oper am 23. März 1933 zitierte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Mit diesen Worten hatte Wels einst das Nein der SPD zu Hitlers Ermächtigungsgesetz begründet, das die Weimarer Republik im Grunde abschaffte und dem braunen Diktator den Freibrief ausstellte für die Alleinherrschaft der Nazis. Der Historiker Heinrich August Winkler, selber Mitglied der Partei, hat vor vielen Jahren das Verhalten der SPD im Spiegel-Interview gewürdigt: „Die SPD kann stolz sein darauf, dass sie als einzige der demokratischen Parteien der Weimarer Republik dem Ansinnen Hitlers getrotzt hat. Die SPD hat damit nicht nur ihre eigene Ehre, sondern die der ersten deutschen Demokratie gerettet.“
Man muss sich das gespenstische Bild in der Reichshauptstadt Berlin 1933 vorstellen, eine gewaltbereite Stimmung, die aufgeladene Spannung in jenen Tagen, überall SA-Leute in ihren braunen Unformen, Angst verbreitend, die Nazis auf dem Sprung zur alleinigen Macht. Als der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, folgten noch in der Nacht danach die ersten Verhaftungen. Am 27. Februar des Jahres brannte der Reichstag nieder, ungeklärt bis heute die oder der Täter, was die Nazis selber mit einschließt. Einen Tag nach dem verheerenden Brandanschlag setzte die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ die Grund- und Bürgerrechte weitgehend außer Kraft.
„Schutzhaft“ für Ossietzky
Die Nazis nutzten die Gelegenheit zu einer wahren Terror-Welle gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, die Hitler als „November-Verbrecher“ oder Agenten Moskaus beschimpfte. Er warf ihnen vor, das deutsche Volk durch ihren „Klassenkampf“ spalten und in den Bürgerkrieg stürzen zu wollen.(Zitiert nach Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung). In „Schutzhaft“ genommen wurden u.a. Carl von Ossietzky, Herausgeber der Weltbühne, die Schriftsteller Erich Mühsam und Ludwig Renn, der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch. Wenige Tage später wurden der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann und einige seiner Mitarbeiter in einem Geheimquartier in Berlin-Charlottenburg festgenommen.(Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens)
Hitler wollte alle Macht, möglichst auf einem Wege, der zumindest den Anschein der Legalität erweckte. Dafür brauchte er ein Ermächtigungsgesetz und dafür war die große Mehrheit erforderlich. Bei den letzten halbwegs freien Wahlen vom 5. März 1933 war die NSDAP mit rund 44 Prozent zwar stärkste Kraft geworden, zur Zwei-Drittel-Mehrheit(erforderlich für eine Verfassungsänderung)fehlten den Nazis aber die Stimmen der Konservativen. Die braune Diktatur wäre also zu verhindern gewesen. Der Wahlkampf war von Hitlers Partei brutal geführt worden. Auf Plakaten war offen zur Gewalt aufgefordert worden. „Zerstampft den Kommunismus!“ Hieß es unverblümt. Und: „Zerschmettert die Sozialdemokratie!“ Der Historiker Karl-Dietrich Bracher hat die Wahl vom 5. März später als „halbfrei“ eingestuft. Die SPD erreichte 18,3 vh der Stimmen, über 7 Millionen Bürgerinnen und Bürger hatten trotz allem für die SPD gestimmt. Die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, ein Zusammenschluss von Deutschnationalen, Stahlhelm und anderen Konservativen, darunter Vizekanzler von Papen, kam auf 8 Prozent, auf das Zentrum entfielen rund 11 Prozent der Stimmen, auf die bayerische Volkspartei 2,7 Prozent.
Der Tag von Potsdam
Hitler suchte den Schulterschluss mit den alten preußischen Eliten. Beim „Tag von Potsdam“ in der Garnisonkirche am 21. März kam es zum berühmt-berüchtigten Handschlag zwischen Hitler und dem Reichsmarschall, Reichspräsident Hindenburg, ein riesiger Propaganda-Erfolg. Winkler beschreibt die Zeremonie in seinem großen Geschichtswerk: „Die Feierlichkeiten waren darauf angelegt, Hitlers Bekenntnis zur Verbindung von alter Größe und junger Kraft zu unterstreichen…Als Hindenburg in der Garnisonkirche allein in die Gruft zum Sarg Friedrichs des Großen hinunterstieg, um stumme Zwiesprache mit dem König zu halten, trat bei vielen Deutschen die gleiche patriotische Rührung ein, die seit Jahren die Fridericus-Filme aus Alfred Hugenbergs Filmkonzern, der Ufa, hervorriefen.“ So weit die Rührung. Zwischendurch griffen Hitlers SA-Schlägerbanden das Vorwärts-Gebäude in der Berliner Lindenstraße an und „räucherten es aus“, es folgten das Verbot des Reichsbanners. Die SA jagte mit ihrem Auftreten auf der Straße und in Kneipen vielen Menschen Ängste ein, Prügeleien, von Hitlers Freunden ausgelöst, waren an der Tagesordnung.
All das reichte Hitler aber nicht. Am 23. März holte er sich die „Scheinrechtsgrundlage“(zitiert nach Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung) für seine totalitäre Herrschaft. Das Parlament war zum Zeitpunkt der Debatte nur noch in Rumpf-Form vorhanden, die Kommunisten waren verboten, ihre 81 Parlamentarier verhaftet oder auf der Flucht. Einige Sozialdemokraten wie Wilhelm Sollmann lagen schwer verletzt im Krankenhaus, misshandelt von SA-Leuten, Rudolf Hilferding hatte sich aus Sicherheitsgründen krankgemeldet, andere waren schon ins Exil geflohen. Und wieder andere SPD-Köpfe wie Julius Leber und Carl Severing wurden auf dem Weg zur Kroll-Oper, dem Ausweichquartier für die Parlamentarier, verhaftet. Demokratie sieht anders aus, die Braunen hatten das Heft längst in der Hand, als andere noch glaubten, Hitler einhegen zu können. Die freie Wahl des Abgeordneten gestaltete sich so: „Der Einzug der sozialdemokratischen Abgeordneten durch die Phalanx der SA glich einem Spießrutenlaufen.“ Schrieb Manuel Gogos in „Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung.“
Draußen die SA, drinnen die SS
Draußen die SA, drinnen die SS und im Plenarsaal(der Oper) eine riesige Hakenkreuzfahne. Erlaubt oder nicht, so war es. Es ging um das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Artikel1 legte fest: „Reichsgesetze können… auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.“ Das war der Freifahrtschein für Hitler. Zunächst befristet, wurde das Gesetz später mehrfach vom Parlament verlängert, in dem aber nur noch Nazis saßen. Den Schein des Rechtmäßigen wollte die Tyrannei wahren.(Spiegel)Aber zunächst wurde die Geschäftsordnung geändert: die zum großen Teil verhafteten kommunistischen Abgeordneten wurden als anwesend geführt und sie sollten später als zustimmend gezählt werden. Ein schlechter Witz, die Kommunisten hätten nie dafür gestimmt. Ein Viertel der Sozialdemokraten saß bereits in Gefängnissen.
Um 14.04 Uhr sprach Adolf Hitler, der Reichskanzler. Um 18.17 Uhr hielt Otto Wels seine letzte freie Rede. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht… Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten… Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.“ Und dann der Schluss mit den Grüßen in die freie Welt. „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine helle Zukunft.“ Es folgte das Geschrei der Nazi-Abgeordneten, die randalierten, Sozialdemokraten applaudierten, Hitler ging erneut ans Rednerpult und donnerte unter Heil-Rufen der Nazis der SPD entgegen, er wolle gar nicht, dass die SPD für das Gesetz stimme. „Deutschland soll frei sein, aber nicht durch Sie.“ Um 19.52 Uhr war Deutschland eine Diktatur.
Auch Theodor Heuss stimmte dafür
Das bürgerliche Lager mit dem katholischen Zentrum und der bayerischen Volkspartei und die deutsche Staatspartei hatten für das Ermächtigungsgesetz gestimmt. Das Zentrum hatte gehofft, mit seiner Zustimmung Hitler von einer Willkürherrschaft abhalten und ihn beeinflussen zu können. Auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der eigentlich gegen das Gesetz war, hatte diesem letztendlich zugestimmt wie auch der spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Reinhold Maier, später FDP.
Das Ergebnis der Abstimmung in Zahlen: Ja-Stimmen: NSDAP(288), DNVP (52), Zentrum(72), BVP(19), DStP(5), CSVd(4), DVP(1), Bauernpartei(2), Landbund(1). Die SPD stimmte geschlossen mit Nein: 94 Stimmen. 68,6 vh votierten also mit Ja, 14,5 vh mit Nein.
Das Ja der bürgerlichen Parteien war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung, urteilt Winkler in seinem Geschichtswerk(Geschichte des Westens) Der Reichstag war ausgeschaltet, Hitler konnte schalten und walten, wie er wollte. Am 1. April 1933 folgte der Boykott jüdischer Geschäfte. Propagandachef Goebbels war zufrieden mit der Aktion gegen Juden, die er als erste Warnung und als Vorläufer dessen verstanden wissen wollte, was später gegen Juden inszeniert wurde und in Auschwitz den unrühmlichen Höhepunkt fand. Fast zur gleichen Zeit begann die Säuberung der Hochschulen, die Berliner und Frankfurter Universitäten verloren fast ein Drittel ihrer Lehrkörper, Heidelberg ein Viertel, Breslau mehr als ein Fünftel. Unter denen, die aus ihren Ämtern gedrängt wurden, waren die Nobelpreisträger Albert Einstein, Gustav Hertz sowie der Chemiker Fritz Haber. Viele Professoren verloren aus rassistischen oder/und politischen Gründen ihre Stellung, darunter Theodor Adorno und Wilhelm Röpke. Der Kampf der Nazis richtete sich gegen alles, was sie als undeutsch empfanden, dekadent oder zersetzend, sie kämpften gegen Lebende und Tote, verbrannten Bücher wie die von Heinrich Heine, Erich Kästner und Heinrich Mann und Kurt Tucholsky.
3000 Verhaftungen in einem Monat
Die Nazis zerschlugen Parteien und Gewerkschaften, was mit dem Verbot der KPD begann und sich am 21. Juni 1933 mit dem politischen Betätigungsverbot für die SPD fortsetzte(3000 Sozialdemokraten wurden in einem Monat verhaftet) und am 14. Juli in einem Gesetz endete: In dem legte Hitler fest, dass es in Deutschland nur noch eine einzige Partei gebe, die NSDAP. Und jeder würde mit Gefängnis- oder einer Zuchthausstrafe bedroht, der es wagen würde, „den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden.“ Weniger als ein halbes Jahr hatten die Nazis gebraucht, um sich als Monopolpartei durchzusetzen.
Kaum einer symbolisiert mehr das Leid und das Unrecht, dem Sozialdemokraten in der Nazi-Zeit ausgesetzt waren, als Kurt Schumacher. Schumacher, Invalide des Ersten Weltkrieges, hatte der Reichstags-Fraktion der SPD angehört, er hatte in der letzten Sitzung vor der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz dafür geworben, an der Debatte in der Kroll-Oper teilzunehmen und nicht aus Angst vor Repressalien fernzubleiben. Der steckbrieflich gesuchte Sozialdemokrat(Mitglied seit 1918)-wurde am 6. Juli 1933 in Berlin verhaftet. Es folgten Gefängnisaufenthalte in Berlin und Stuttgart, zehn Jahre musste Schumacher die Leiden in verschiedenen Konzentrationslagern erdulden, aus dem KZ Dachau wurde er entlassen. Nach dem gescheiterten Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er von den Nazis erneut verhaftet und in das KZ Neuengamme gebracht. Nach dem Krieg gehörte Kurt Schumacher, schwer gezeichnet von den Folterungen durch die Nazis, zu den ersten Politikern, die die SPD nach 1945 wieder aufbauten. Er wurde ihr erster Vorsitzender und behielt das Amt bis zu seinem Tod 1952.
Quellen: Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Verlag Beck.
Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung. Hrsg. Anja Kruske/Meik Woyke. Dietz-Verlag.
Die SPD erklärt sich zur alleinigen Partei, die gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis stimmten. Das ist glatte Geschichtsfälschung, denn die KPD war auch eindeutig gegen das Ermächtigungsgesetz – nur die Kommunisten saßen bereits bei den Nazis im Knast, in der Illegalität oder waren auf der Flucht. Die SPD hätte gemeinsam mit der KPD gegen die Nazis kämpfen sollen, das ist die Wahrheit, die man mit verfälschenden Unterlassungen heute nicht besser machen kann. Schon gar nicht, wenn die SPD heute zur Kriegspartei verkommt und mehr als 100 Milliarden für die Rüstung verpulvert, aber fürs eigene Volk nur Brosamen in den sozialen Belangen übrig hat. August Bebel würde sich im Grabe umdrehen.
Sehr geehrter Herr A. Pieper,
besten Dank, dass Sie mir meinen Standpunkt als Volltreffer so vorzüglich bestätigen, da Sie mit „…, ich habe lange nicht einen derartigen historischen Unsinn gelesen“, recht persönlich werdend keine Contenance mehr waren, obwohl sie mich zur Meinungsäußerung aufforderten. Wo Sie Unsinn sehen, sagen Sie aber nicht.
Da wir heutzutage in einer Welt der Überschriften und Sprechblasen leben, verlieren die gestrigen TV-Worte des Bundeskanzlers Scholz: „ NUR DIE SPD STIMMTE GEGEN DAS ERMÄCHTIGUNGSGESETZ“, bestimmt nicht ihre gewollte moralhebende Wirkung in der SPD und die angestrebte Außenwirkung, als die allein glückselig machende, wahre demokratische Partei. Und Sie selbst titelten auch: „ALS DIE DEMOKRATIE SICH SELBST ABSCHAFFTE – VOR 90 JAHREN: NUR DIE SPD STIMMTE GEGEN DAS ERMÄCHTIGUNGSGESETZ“ (SCHRIFTGRAD 30). Nur das bleibt bei den Leuten hängen und formt ein neues Geschichtsbild, das der SPD angenehmer und dienlicher ist. Die KPD war ja aus den bekannten Gründen der politischen Verfolgung durch die Nazis nicht mehr erschienen – konnte nicht mehr im Reichstag erscheinen, was Sie begründend ja durchaus unten im Text erwähnen. Ist es aber nicht peinlich, wenn Sie jetzt die Geschichte einseitig verkürzen, wohl um sich als die alleinigen und wahren Demokraten darzustellen, das berechtigterweise gegenüber den bürgerlichen Parteien auch tun – nur weil Sie das heute politisch gut gebrauchen können, gerade auch bei der heute gewollten Gleichsetzung von Links und Rechts? Im KZ Buchenwald haben aber beide Parteien eingesessen – wie die Genossen Rudolf Breitscheid (SPD) und Ernst Thälmann (KPD) – und verloren auch dort ihr Leben. Deutschlands Weg hätte anders ausgesehen, wenn beide Parteien damals schon gemeinsam gehandelt hätten.
Ich bin gespannt, ob Sie als eventueller Zensor in der SPD meine Rückantwort auch „dennoch“ veröffentlichen.