Als er vor ein paar Jahren viel zu früh starb (geb. 1955, gest. 2016), haben viele einen tiefen Schmerz über den Verlust eines großen kulturschaffenden Menschen empfunden. Roger Willemsen war bekannt als Autor und Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen, Musikkenner und Literaturliebhaber, Dozent und Herausgeber, Übersetzer und anderes mehr. Er war in den Medien präsent mit hochwertigen Beiträgen, er befragte Größen des Kulturbetriebs und gab selber Interviews, stets zu relevanten Themen und besonderen Ereignissen im In- und Ausland. Seine Vielseitigkeit ließ es nie an Tiefenschärfe seiner Gedanken und Reflexion fehlen, ja, man kann ihn als einen modernen Universalgelehrten der jüngeren Generation bezeichnen, und bei all dem war er einer der Bescheidendsten, die man sich auf öffentlicher Bühne vorstellen kann.
Dass Roger Willemsen sich auch „in der Welt“ auskannte, davon zeugt sein 2011 beim Fischer-Verlag erschienenes Werk von den Enden der Welt, in dem er sich mit nahezu ethnologischem Blick und Spürsinn reisend in fünf Kontinenten auf die Suche macht nach dem Unentdeckten, den Geheimnissen, denen er in Landschaft und Natur sowie im Leben der Menschen nachspürt – so wie einst Georg Forster, der Frühsozialist, auf den er sich beruft, genauso wie auf Joseph Conrad, den großen Literaten und frühen Kolonialismus- und Rassismus-Kritiker; und auch den Maler Gauguin, der auf Tahiti nach einer neuen Heimat für seine Kunst suchte, hat Willemsen im Blick, weil dieser sich mit seinen Bildern dem Leben der Indigenen und ihrer Kultur widmete.
Das Buch, das Reiseberichte aus drei Jahrzehnten bündelt, ist mit einer Weltkarte versehen, in die der Autor handschriftlich seine Ziele markiert hat. Dabei fallen Clusterbildungen auf: am meisten und häufigsten war Willemsen im Großraum Südostasiens, also Pazifik/Polynesien/Ozeanien unterwegs, gefolgt von Zielen in Afrika, vereinzelt in Südamerika, Grönland, Sibirien, sogar am Nordpol – nie aber in den USA/Nordamerika. Das verrät Vorlieben und besondere Interessen des Autors, die in den jeweiligen Texten für sich sprechen.
Will man sein Motiv des Reisens zusammenfassen, so könnte es dieses sein: Da ist einer auf der Suche nach Extremen, Endpunkten in der Topografie von Landschaften und ihrer Erreichbarkeit, nach Abgründen des Sozialen und Existenziellen, unvorstellbarer Armut und Überlebensstrategien – mithin nach Extremen des Schönen und des Hässlichen, dort, wo der gewöhnliche Tourismus nicht hinkommt.
Daraus erschließt sich auch Willemsens Verständnis vom Reisen und dem Reisenden als dessen Subjekt:
Reisende sind Auf-der-Suche-Seiende. Ihre Bewegung verwandelt Orte in Schauplätze. Sie kommen an, sehen sich um, beobachten Menschen dabei, wie sie in fremden Räumen sich und andere bewegen, und schon dieser Blick verfremdet die Fremde. Alle hier Lebenden sind Geschichte und schleppen ihre Geschichte durch den Raum. Nur der Reisende ist reine Gegenwart, nur er sieht die Stadt in ihrem Jetzt.
Es ist dieser hohe Grad an Reflexivität, der an Stellen wie diesen aufblitzt. Mit dem Begriffspaar der Fremde und der Verfremdung lädt der Autor zum Nachdenken über das Phänomen des Reisens ein. Während die Einheimischen in ihrer Alltäglichkeit stecken, sind sie gleichwohl Träger von Geschichte, ihrer eigenen Lebensgeschichte wie der ihres Lebensraums. Dass die Reisenden von diesem „Ballast“ frei sind, ist nicht ihr Verdienst, sondern der Zufälligkeit geschuldet, dass sie sich im Augenblick des Hier und Jetzt befinden. Sie müssen sich nur über ihren Status der Gegenwärtigkeit bewusst sein.
In dieser Gegenwart ist auch der Tourist, doch ihn treiben nicht dieselben Motive um wie den Reisenden; Willemsen unterscheidet beide Reiseformen an einer Stelle so:
Der Tourist sucht den Ort in seiner Augenblicklichkeit, er sucht die Sehenswürdigkeit, den Schnappschuss, der Reisende dagegen sucht die Dauer, das Immerwährende. Man muss deshalb lange an einem Ort gewesen, immer wieder an dieselben Stellen gegangen sein, um seinen Geist zu erahnen.
Der Tourist macht demnach Momentaufnahmen, wortwörtlich aus dem Augenblick heraus geschossen (wozu das digitale Fotografieren mit dem Smartphone geradezu einlädt und die ideale Technik dafür bietet) und ist dann schon wieder weg, auf dem Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit. Der Reisende hingegen verweilt nicht nur länger an einem Ort, sondern auch zum wiederholten Male, weil er auf anderer Suche ist als der Tourist: er muss die Orte immer wieder aufsuchen, um das zu finden, was bleibt und dahintersteckt.
Zu den Besonderheiten dieses Reisebuchs gehört die Kunst Willemsens, seine Beobachtungen, Erlebnisse und Erfahrungen, die er aufgrund seiner ethnologisch angetriebenen Neugierde und seines empathisch-kommunikativen Vorgehens macht, genau zu beschreiben, um diese Beschreibungen, sofern sie es bedürfen, im Anschluss zu erklären und auch zu hinterfragen. So hat er beispielsweise in Bombay/Indien als Beobachter ein Bordell aufgesucht, in dem sich Unvorstellbares an Elend, Krankheit, Verwahrlosung und Ausbeutung abspielt, das er detailliert beschreibt und als Verschwendung im Elend bezeichnet:
Die Verschwendung im Elend. Das ist der Überfluss des Überflüssigen, die Ornamentik der Blumengirlanden und Malas, der Tätowierungen, der schwarz gezeichneten Augen und geschwungenen Damenbärte … der Blumenkränze, der gerahmten Götter unter Glas. Ja, selbst das Aufbauschen der Gewänder in schwelgerischen Draperien, das Quellen der Haut in Rauchfalten ist wuchernde Opulenz. …
Die Huren leben hier in unterirdischen Existenzen, wie Nacktmulle im Geruch von feuchter Erde, im Atem der vielen Schlafenden, in Kabinen wie Särge. … Die Frauen tragen auch schlafend am Boden noch ihr volles Hurenornat, und die Freier steigen über sie hinweg, zu den nächsten Frauen, Frauen, die sich unter Goldschmuckgeklingel zum Blick dieses Freiers erheben, um gleich wieder zusammenzusacken. …
Die kleinen Mädchen hat man besonders aufgetakelt, mit Schminke schattiert. Die mittelalten Kinder blicken schon milieuschlau in die Welt, wenn nicht verdorben. Früh Alternde sind dies. Die Abhärtung in ihren Gesichtern folgt auf die Durchtriebenheit, die Bitterkeit, die Raffgier, und schließlich ist auch diese nicht mehr frisch in Augen, deren Blick tot im Blick des Gegenübers verweilt.
Dieser drastischen Beschreibung schließt Willemsen nachdenkliche Fragen und Versuche der Erklärung an; er kommt zu diesem Schluss:
Die Lebensklugheit der Huren ist eine Erfindung des kulturellen Oberbaus. Es gibt auch in diesen Katakomben keine nicht-professionelle, keine nicht-taktische Bewegung. Warum sollte die Frau noch irgendetwas anderes sein wollen als ‚der Entsafter‘, wie die Männer spotten, eine Maschine zur Hervorbringung von Sekreten?
Harte Kost, aber wohl mit dem gebotenen unromantisch-realistischen Blick auf eine Wirklichkeit zutreffend beschrieben, die sich unseren Vorstellungen aus dem Globalen Norden über dieses Ende der Welt gemeinhin entzieht: Hier wird Unvorstellbares vorgestellt, schockierend, eklig, sexistisch, gemein und brutal, so wie es wirklich ist. Der nackte Kampf ums Überleben bedarf auch oder gerade in den Niederungen der Zivilisation der Auftakelung – als Schleier und Trost, also nicht ganz überflüssig. Für solche Abgründe des Sozialen eine Sprache zu finden, wie es der Autor getan hat, ist schon etwas Besonderes.
Diese Schilderung kann als ein Beispiel für das Hässliche an den Enden der Welt gesehen werden. Eine ähnliche Wirkung hinterlassen Willemsens Berichte über das Leben der armen Bauern im nördlichen Afghanistan; oder über die Kindersoldaten in Kinshasa, die nichts anderes kennen als ein Leben im Krieg. Oder über Gorée, einer Insel am westlichsten Punkt Afrikas, in denen er vom Ursprung und der Geschichte der Sklaverei erzählt; von hier aus wurde der Menschenhandel über die Kontinente hinweg betrieben; und man erfährt auch, warum der Islam unter den Schwarzen in Afrika bis heute so verbreitet ist: die Menschen glaubten, mit dieser Religion einen Schutz vor der Versklavung zu haben, was sich als Irrtum erwies. Der Autor bezeichnet Gorée als einen Nicht-Ort und meint damit dieses:
Es gibt Orte, die den Flaneur zwingen, es nicht mehr zu sein. Orte, an denen das Schweifen zum Stillstand kommt. … Die Orte der Ratlosigkeit sind es, an denen sich keine Erfahrung befestigt, die kein Bedürfnis befriedigen, die eher das Verlangen, nicht zu sein, nähren. Sie sind Stätten der Auslöschung… Kein beteiligter Blick streift sie, keine Fürsorge hält sie aufrecht, keine Geschichte will hier beginnen. Der Reisende findet keinen Zugang zu diesen Orten.
Berichte wie diese zeugen vom Elend der Welt, auf das Willemsen immer wieder hinweisen will, um das Bewusstsein darüber zu schärfen, in welchem globalen Zustand wir leben, wovon wir das Meiste nicht wissen oder es verdrängen. Die Klimakrise verschärft bekanntermaßen die Not, die in solchen Regionen immer schon da war. Aber das macht nicht das Ganze dieses Buchs aus, denn auch in solchen Berichten finden sich Stellen von großer Schönheit, sei es über die Größe der Natur oder Landschaften, die eher ein Gemälde sind, über die Würde, den Stolz und die Menschlichkeit von Indigenen, das Lächeln von Jugendlichen in ihrer Perspektivlosigkeit: Sie lächeln ihr schönstes Lächeln, aber es ist in seiner Schönheit schon versetzt mit Spurenelementen von Fatalismus. Der Autor entdeckt auf diese Art das Schöne im Hässlichen, und er verfügt über ein sprachliches Vermögen von literarischer Ausdruckskraft, die Ihresgleichen sucht. Dafür ein Beispiel, eine Stelle aus dem umfangreichen Kapitel über eine Reise an den nordöstlichsten Zipfel Sibiriens:
Und dann fasst dich die Fremde an, und du bist plötzlich sehr weit weg, unüberbrückbar entrückt wie in einem Exil, ohne die Möglichkeit einer raschen Heimkehr, ausgesetzt und abgeschoben. Die Fremde schließt dich dann ein, du stößt dich dauernd an ihr, kannst dich drehen und wenden, wie du willst, sie wird dasselbe Gesicht, dasselbe Unverständnis zeigen. Sie wird dich abstoßen, ausscheiden, und du verlierst dich in der großen Wesenlosigkeit, auf den Gehwegen, die nirgends hinführen, zwischen den Häusern mit ihren blasigen Anstrichen, dem vom Salzwasser mitgenommenen Putz, in der grandiosen Tristesse einer Ansiedlung, die nicht behaust sein will, sondern zwischen den Versuchen, zu unterhalten, zu verwalten und zu ernähren, keine Sprache gefunden hat.
Zum Stil von Willemsens Schreiben gehört, dass er oft Dinge, also Objekte der Beschreibung, mit Subjekt-Eigenschaften versieht, was das Ästhetisch-Literarische in seinen Schilderungen steigert. Man könnte auch sagen, er male mit Worten. Dies darf aber nicht missverstanden werden dahingehend, dass er irgendetwas mit schöner Sprache zu verklären trachtet; ganz im Gegenteil: er erweitert und verfeinert mit sprachlichen Mitteln seine Ausdrucksmöglichkeiten, was dem Dargestellten noch mehr an Wirkung verleiht.
Zum Schluss sei noch auf das Verhältnis von Fremde und Heimat beim Reisen verwiesen, so wie es der Autor versteht. Im 1. Kapitel des Buches, das von der Voreifel handelt, der Region, aus der Willemsen stammt, heißt es hierzu:
Man reist ja nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch unter einen anderen Himmel. Allmählich verblasst das Zuhause. Man reist jahrelang, doch nie verblasst es ganz. Das Reisen beweist die Unzerstörbarkeit der Heimat, allerdings der verlorenen.
Und in einem der letzten Kapitel greift er das Thema nochmals auf: Reisen, so kam es mir in diesem Moment vor, das war wie die Projektion der Heimat auf die fremde Tapete. Dort findet man das Haus, das man verlässt und auslöscht, fühlt die Verankerung, die man vergessenmachen wollte. Man stürzt die Regale um, man reißt die Vorhänge herunter, aber es hilft nichts. In der Fremde baut sich das Zuhause immer theatralischer auf: Verlass mich, zerstör mich! Finde etwas, das nicht das Alte, Vertraute ist. Und dann liegt man in einem Hotelzimmer in Hongkong und fühlt, dass man sein Zuhause noch gar nicht verlassen hat, sondern alles ins Kinderzimmer verwandelt, und schließlich findet sich auf der Speisekarte des Etagenkellners die Bezeichnung ‚Winterliche Salate‘, und man bricht in Tränen aus.