Schon Henry Ford hatte vor fast einem Jahrhundert verkündet, dass es nicht darauf ankommt, wie lange jemand arbeitet, sondern dass die Produktivität die größte Rolle spielt. Die Leistung des einzelnen Arbeiters pro Arbeitsstunde zählt also mehr als seine Anwesenheit im Betrieb. Mit den modernen Technologien wie der IT, Künstlicher Intelligenz oder Robotern ist in vielen Unternehmen bereits in den letzten Jahren eine enorme Steigerung der Produktivität möglich geworden. Hohe Kapitalinvestitionen haben Arbeitsplätze humaner gemacht, viele auch wegrationalisiert. Das Volumen der Arbeit wurde in vielen Branchen deutlich verringert – vor allem in der industriellen Produktion.
Nachfolge-Modell für die 35-Stunden-Woche
Inzwischen ist die einst so heftig abgelehnte 35-Stunden-Woche in den meisten Branchen die Regel geworden. Die Gewerkschaften haben sich in dem Kampf dafür vor Jahrzehnten erfolgreich durchgesetzt und das bei vollem Lohnausgleich. In der aktuellen Tarifrunde geht es indessen nicht um eine weitere Verkürzung der Arbeitszeiten, sondern um kräftige Lohn- und Gehaltserhöhungen, um Kaufkraftverluste durch die hohe Inflation auszugleichen. Dieses Ziel soll mit Streiks der Arbeitnehmer erreicht werden. Die Gefahr einer Preis-Lohn-Preis-Spirale zeichnet sich bereits ab. Zugleich droht der Abbau von Arbeitsplätzen in zahlreichen Firmen, die hierzulande mit den explodierten Energiekosten, lähmender Bürokratie, hohen Steuern und Sozialabgaben zu kämpfen haben. Auf der anderen Seite besteht ein großer Bedarf an Fachkräften, IT-Spezialisten, Pflegefachkräften, Kraftfahrern und Service-Personal.
Auflösung starrer Arbeitszeiten
Ohne die Gewinnung von Arbeitskräften aus dem nahen und fernen Ausland wird es nicht gehen. Denn für die Arbeiten in deutschen Betrieben stehen nicht mehr ausreichend Erwerbstätige zur Verfügung. Deshalb haben immer mehr Läden im Einzelhandel ihre Öffnungszeiten verkürzt: Bäcker oder Metzger schließen vielfach am frühen Nachmittag, Eisdielen und Cafés öffnen nur noch an 4 oder 5 Tagen; in der Gastronomie wird nicht selten an 4 Wochentagen bedient. So befindet sich der einst so fixe Wochenbetrieb bereits in Auflösung.
Ein britisches Pilotprojekt: ein Vorbild?
Aufhorchen lässt in diesen Tagen ein Pilotprojekt in rund 60 Betrieben in Großbritannien. Nur 4 Tage arbeiten bei vollem Lohn – dieser Versuch wurde dort 6 Monate lang praktiziert. Nach dieser Testphase wollen nun 80 Prozent der Betriebe an dem 4-Tage-Konzept festhalten, 18 Firmen haben es bereits dauerhaft eingeführt. Die Verkürzung der Arbeitszeit hat nämlich zu einer Steigerung der Produktivität geführt. Die Krankheitstage gingen gar um 65 Prozent zurück: Vier von fünf Mitarbeiter fühlten sich weniger gestresst. Die Zahl der Angestellten, die ihren Arbeitsplatz aufgaben und zu einem anderen Arbeitgeber wechselten, war um fast 60 Prozent niedriger. Beteiligt an diesem Test waren Unternehmen aus verschiedenen Branchen – aus dem Finanzsektor, dem IT-Bereich, aus dem Baugewerbe, der Gastronomie und dem Gesundheitswesen. Einige Firmen führten ein dreitägiges Wochenende ein, andere verteilten den freien Tag über die Woche oder verständigten sich auf andere Ziele.
Die größte Herausforderung: Die Organisation der Arbeit
Eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeiten wird die große Herausforderung der Zukunft sein. Starre Arbeitszeiten lassen sich nicht mehr auf Dauer durchsetzen. Das gilt für die Tages-und Wochenarbeitszeit ebenso wie für die Jahres- und Lebensarbeitszeit. Die Organisation des richtigen Personaleinsatzes wird zu einer der wichtigsten Aufgaben in allen Firmen. Viele, die heute die Probleme auf dem Arbeitsmarkt beklagen, haben nicht früher an später gedacht: So wurden nicht genug junge Menschen zu Handwerkern, Händlern und Dienstleistern ausgebildet. So wurde lange Zeit viel zu wenig in die Fortbildung investiert. Auch wurde die innerbetriebliche Umschulung vernachlässigt. Ebenso wurden die Rahmenbedingungen für die Beschäftigung von Frauen nicht ausreichend verbessert. Angebote von Firmenwohnungen sind zur Rarität geworden.
Beim Blick auf Umsätze, Kapital-Renditen und Cashflow wurde viel zu lange übersehen, dass das Humankapital für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens entscheidend ist. Mitbestimmung und Mitverantwortung sind inzwischen wichtiger denn je, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch in gegenseitigem Einverständnis die Arbeitszeitkonditionen bestimmen.
In vielen Bereichen lassen sich die Arbeitszeiten besser als bisher aufteilen und individueller gestalten. Die Bedürfnisse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern haben sich verändert und werden in Zukunft noch anders sein als heute. Das gilt ebenso für die Lebenssituation der Erwerbstätigen – etwa mit oder ohne Familie mit Kindern. Selbst 35 oder 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche lassen sich zeitlich flexibel gestalten; allerdings sieht das Arbeitszeitgesetz – eine maximale Zeit von 10 Stunden pro Tag vor. Mit mehr Flexibilität könnten Reserven auf dem Arbeitsmarkt mobilisiert, Familie und Beruf besser auf einen Nenner gebracht und sozialer Wohlstand gesteigert werden. Die Kosten für Arbeit werden dadurch nicht wesentlich steigen, um nicht die Wettbewerbsfähigkeit zu verringern. Weniger Stress, Krankentage und Arbeitsverdichtung, dafür mehr persönliche Freiheit, eine höhere Leistungsbereitschaft und Produktivität könnten zu einer Win-win-Entwicklung führen. Konkrete Modelle in Nachbarländern (Großbritannien, Belgien), aber auch in bisher wenigen deutschen Firmen beweisen dies deutlich. Die Unternehmen, Verwaltungen und Behörden sollten die Zeitenwende realisieren.