Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, und dennoch beginnt der Wiederaufbau der Ukraine jetzt. Deutsche Städte gründen Solidaritätspartnerschaften mit umkämpften und zerstörten Kommunen. Direkte Hilfe von Stadt zu Stadt soll die Not rasch lindern und auch langfristige Perspektiven schaffen.
Bei den internationalen Geberkonferenzen geht es um gigantische Summen. 600 Milliarden Euro stehen im Raum, um die Folgen des russischen Angriffskrieges zu beseitigen; der ukrainische Ministerpräsident Selenskyi selbst hat den Bedarf seines Landes auf 750 Milliarden beziffert. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht von einer Generationenaufgabe. Nach den USA ist Deutschland zweitgrößter Geber. Auf die Europäische Union kommt eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau zu.
Angriffe zielen auf Stromversorgung
Noch sind Angriffe des russischen Militärs an der Tagesordnung. Luftalarm schreckt die Menschen in ihren Wohnungen auf, Raketen und Drohnen töten und zerstören. Zunehmend zielen Attacken auf die Strom- und Wasserversorgung. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wird an den Weihnachtstagen mit den Worten zitiert: „Geld allein schützt nicht vor dem Erfrieren und Verdursten, und deswegen ist die ganz konkrete technische Hilfe so wichtig.“
Mehr als hundert deutsche Städten haben das längst erkannt und die Initiative ergriffen. In länger bestehenden Partnerschaften mit ukrainischen Städten oder in spontan gebildeten Kooperationen entwickeln sie konkrete Projekte, die vor Hunger und Kälte, Flucht und Vertreibung schützen. Allein in Nordrhein-Westfalen sind neben Köln, Düsseldorf und Dortmund auch eine Vielzahl kleinerer Städte wie Dorsten, Lippstadt, Lindlar, Bergisch-Gladbach dabei.
Praktische Winterhilfe
Hunderte Generatoren und tonnenweise Hilfsgüter, Medikamente, Nahrungsmittel, Decken, warme Kleidung, haben sie nach Mykolajew, Buschta, Tacherniwitzi, Kolusch, Myrhorod und in die Hauptstadt Kiew geschafft. Praktische Überlebenshilfe, die die Menschen über den Winter retten und Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in Europa stiften kann.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte bei seinem Besuch in Kiew im Oktober den Aufbau eines Netzwerks von Städtepartnerschaften angeregt und zusammen mit seinem ukrainischen Amtskollegen die Schirmherrschaft darüber übernommen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit fördert die Idee. Die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) unterstützt die Umsetzung.
„Die Städte selbst dürfen ja nicht spenden“, erklärt Gabi Schock. Sie ist die Vorsitzende des Ausschusses für Kommunale Entwicklungszusammenarbeit im Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) und vermittelt zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Ebenen. Sie bringt zum Beispiel die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ins Spiel, das in der Entwicklungszusammenarbeit erfahrene Unternehmen des Bundes. „Da ist das Know-how, das jetzt gebraucht wird“, sagt die Sozialdemokratin.
Bürgermeister verzweifelt
Vordringlich dort, wo keine Waffen wüten. Gemeint sind ländliche Regionen, in die viele Städter vor den russischen Angriffen geflüchtet sind. „In manchen kleineren Orten hat sich die Bevölkerung in kürzester Zeit verdoppelt“, beschreibt Gabi Schock. Die Versorgungslage ist entsprechend schlecht. Ein völlig verzweifelter Bürgermeister habe die Menschen unter Tränen aufgerufen, den Ort zu verlassen. Wenn es zu Kampfhandlungen komme, könne er ihr Überleben nicht sichern.
Hilfe aus Deutschland kann Leben in Sicherheit schützen, wenn sie schnell kommt. Strom, Heizung, Wasser, Essen und ein Dach über dem Kopf sind erstmal das Wichtigste. Aus den Projektpartnerschaften entwickeln sich dann idealerweise stabile Beziehungen, die den Aufbau nach europäischen Standards bis zum EU-Beitritt der Ukraine fortführen. „Wenn wir die Ukraine wiederaufbauen“, so Bundeskanzler Olaf Scholz, „dann tun wir das mit dem Ziel einer EU-Mitgliedschaft im Kopf.“
Gelebter Europagedanke
Die Anzahl der kommunalen Partnerschaften wächst nach Aussage von Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) ständig. Laut der ukrainischen Generalkonsulin Iryna Shum hat sich allein in NRW die Zahl seit Kriegsbeginn verdreifacht. Zu den jüngsten vertraglich vereinbarten Kooperationen zählt die zwischen Köln und Dnipro. Kommunale Partnerschaften, so unterstrich es Svenja Schulze zur Eröffnung einer Vernetzungskonferenz in ihrer Videobotschaft, stünden für den europäischen Gedanken, für Engagement über Ländergrenzen hinweg, für Demokratie und Frieden.
Bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn hätten die Kommunen schnelle und unkomplizierte Hilfe geleistet. Durch gezielte Unterstützung hätten sie gezeigt, dass Kommunen für den Wiederaufbau der Ukraine zentral seien, insbesondere in den Bereichen der Energie-, Wasser- und Gesundheitsversorgung.
Ivan Lukerya, stellvertretender Minister für Entwicklung der Gemeinden und Territorien der Ukraine beschrieb die Lage in seinem Land: „Viele Städte müssen mit Bombardierungen leben. Kritische Infrastruktur, die Strom- und Wasserversorgung, wird täglich beschossen mit dem Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern.“ Allein in Charkiw sei jedes dritte Wohnhaus zerstört oder schwer beschädigt. In dieser Situation müssten Kommunen zusätzliche Aufgaben übernehmen, wie zum Beispiel die Versorgung von Binnengeflüchteten.
Der Plan, den Lukerya für den Wiederaufbau der Ukraine vorstellte, unterscheidet vier Regionen. Während die kriegsnahen Gebiete derzeit noch primär auf humanitäre Hilfe angewiesen seien, beginne in den befreiten Gebieten der Wiederaufbau der wichtigsten Infrastruktur. Für das Landeszentrum würden erste langfristige Entwicklungspläne entwickelt und im Westen des Landes stehe neben der wirtschaftlichen Entwicklung die Versorgung der Binnenvertriebenen im Vordergrund. In den kommenden zwölf Monaten soll der Fokus auf Reparatur oder Wiederaufbau von Wohnhäusern, der Bildungs-, Gesundheits-, Strom- und Wasserversorgung sowie Brücken und Straßen liegen. Hier könnten sich deutsche Partner engagieren. „Jeder Beitrag zählt, auch wenn er noch so klein ist“, sagte Lukerya laut Tagungsbericht.
Beratung und Förderung
Die Servicestelle SKEW leistet für interessierte Städten Partnerschaftsvermittlung, Beratung und Prozessbegleitung bis hin zu personeller und finanzieller Förderung konkreter Projekte. Ihre Unterstützung bieten auch Anka Feldhusen, Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine, und Iryna Shum, Generalkonsulin der Ukraine in Nordrhein-Westfalen an. Bei einer Tagung der Auslandsgesellschaft in Dortmund berichtete Feldhusen zugeschaltet aus Kiew von einer Schule in Irpin, die mit Unterstützung der deutschen Partnerstadt Solarpanels erhalten hat, und von Feuerwehrfahrzeugen aus Wandlitz, die aktuell beim Brand eines Umspannwerks in Makariv eingesetzt werden konnten. Kurze Wege zwischen den kommunalen Partnern erlaubten eine schnelle und unbürokratische Hilfeleistung vor Ort, betonte die Botschafterin.
Generalkonsulin Iryna Shum lenkte den Blick über die erste Phase schneller Nothilfe hinaus auf die Zukunft und den Wiederaufbau ihres Landes. Dabei sei die Einbindung der lokal ansässigen Wirtschaftsunternehmen, insbesondere der kommunalen Wirtschaft, in Partnerschaften, wie etwa von Stadtwerken mit ukrainischen Energieversorgern, eine wichtige Voraussetzung. Dieser Wiederaufbau fange schon jetzt an und nicht erst am Ende des Krieges, so die Generalkonsulin laut Tagungsbericht. Die dritte Phase sei dann die dauerhafte Kooperation, bei der die kommunalen Partnerschaften flankiert würden von Kooperationen auf weiteren Ebenen, wie etwa der Universitäten.
Schutz vor Korruption
Der Weg der Ukraine in die EU wird noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte brauchen. Allein der Status eines Beitrittskandidaten soll jedoch helfen, privatwirtschaftliche Investitionen zu mobilisieren. Dabei geht es dann um weitaus größere Dimensionen und ein gravierendes Problem, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi vor seiner Wahl offensiv angesprochen hat: die Korruption. Der aktuellste Korruptionsindex, der noch vor Kriegsbeginn erstellt wurde, sieht die Ukraine auf Platz 122 von 180 Ländern und damit als eines der korruptesten Länder in Europa. Staatliche Reformen bleiben unerlässlich, doch sieht Europapolitikerin Gabi Schock auch unter diesem Aspekt einen Vorteil der Kooperation von Stadt zu Stadt. „Die Gefahr der Korruption“, sagt sie, „ist in den Projektpartnerschaften deutlich geringer.“
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