Auf einer Internetplattform fragt eine junge Frau nach Fiebersaft für ihr krankes Kleinkind. Die umliegenden Apotheken hat sie da schon abgefahren. Sie ist verzweifelt. Die Antworten, die sie auf ihren Hilferuf erhält, zeigen, dass sie mit dem Problem nicht allein ist. Einige empfehlen Wadenwickel, andere bieten den gesuchten Saft aus ihrem eigenen Vorrat an, und die meisten schildern, wo sie es selbst schon vergebens versucht haben.
Das RS-Virus verbreitet sich seit Wochen, verursacht vor allem bei kleinen Kindern schwere Atemwegserkrankungen, und Medikamente sind Mangelware. Die Kinderstationen der Krankenhäuser sind überlastet, die Kindernotaufnahmen verzeichnen einen Rekordandrang. Mit Wucht werden Schwachstellen in unserem Gesundheitswesen bloßgelegt, das seit Jahren rigoros auf Profit ausgerichtet, auf Kante genäht ist und in Krisenzeiten zu kollabieren droht.
Hohe Krankenstände in den Kliniken, fehlendes Pflegepersonal, überlastete niedergelassene Kinderärzte: Viele Faktoren beeinflussen die Misere, die für Kinder lebensbedrohliche Folgen haben kann. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat Anfang Dezember erste Vorschläge zu einer Krankenhausreform vorgestellt. Er sprach von einer Revolution und meinte damit, was an sich selbstverständlich sein sollte: dass die Medizin wieder Vorrang vor der Ökonomie erhalte.
Die Fallpauschalen hätten eine Tendenz zu billiger Medizin bewirkt, sagt Lauterbach mit später Einsicht. Der Minister will das seit Beginn der Einführung 2004 heftig umstrittene System überwinden. Jahrzehntelang waren Warnungen vor den Fehlentwicklungen, wie sie sich schon mit dem Niedergang kleinerer Krankenhäuser im ländlichen Raum abgezeichnet haben, in den Wind geschlagen worden. Jetzt ist nicht mehr zu leugnen: Wer das Gesundheitswesen dem freien Spiel des Marktes überlässt, riskiert seinen Ruin.
Die Knappheit bei inzwischen vielen Arzneimitteln – auch Antibiotika, Brustkrebsmedikamente, Blutdrucksenker und Magensäureblocker, insgesamt mehrere Hundert Produkte fehlen – verschärft die Notsituation in den Kliniken und geht ihrerseits auf neoliberale Entwicklungen der Globalisierung zurück. Während Deutschland früher wegen der hohen Herstellungskapazitäten im eigenen Land als Apotheke der Welt bezeichnet wurde, hat die Pharmaindustrie die Mehrheit ihrer Produktionsstätten inzwischen nach Asien, vor allem China und Indien verlegt.
Trotz der Beteuerungen der Konzerne, europäische Produktionsstandards würden auch am Ganges eingehalten, gab es in der ARD eindringliche Berichte von massiven Gesundheitsrisiken für die Mitarbeiter und rücksichtslosen Umweltverschmutzungen. Erst jetzt, da in großem Umfang Lieferungen ausbleiben, werden einige wach. Doch Maßnahmen des Gesetzgebers helfen nicht, die akute Not abzuwenden.
Das Lieferkettengesetz, das die Konzerne stärker in die Verantwortung für Menschenrechte und Umweltschutz nehmen soll, tritt erst im kommenden Jahr in Kraft. Die Krankenhausreform wird noch langsamer greifen. Und schon führt die Pharmabranche die gestiegenen Energie-, Rohstoff- und Transportkosten ins Feld, um die Rabattverträge mit den Gesetzlichen Krankenkassen zu attackieren. Würden die gelockert, müssten die Beiträge steigen. Wie man es dreht und wendet: ein Ende der Geschäftemacherei mit der menschlichen Gesundheit ist nicht in Sicht, und dass das Streben nach Gewinnmaximierung vor Kindern nicht halt macht, ist skandalös.
Frustrierte Eltern erinnern an die Corona-Pandemie, in der den Kindern einiges an Rücksichtnahme abverlangt worden sei. Tatsächlich dämmert es vielen erst allmählich, wie hoch der Preis ist, den Kinder mit Kita-Schließungen, Homeschooling, Sport- und Spielplatzverboten gezahlt haben. Die relative Untätigkeit nun in einer Notlage, die vor allem Kinder trifft, gibt zumindest Anlass darüber nachzudenken, ob die Kinder in der Gesellschaft den ihnen angemessenen Stellenwert genießen.
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