In diesen Tagen des verbrecherischen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist von einer Zeitenwende die Rede. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die aktuelle Lage in seiner Regierungserklärung so bezeichnet und damit die veränderten Herrschafts- und Machtverhältnisse in der Welt ebenso umschrieben wie die Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland. Er hat das große Krisenszenario der Gegenwart sicher richtig umrissen. Das darf allerdings nicht verdecken, welche Herausforderungen der deutschen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft insgesamt gestellt sind – ganz unabhängig davon, ob und wie sehr dieser Krieg weiter eskalieren wird.
Um es provokant zu formulieren: Diese Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hat sich nett und bequem eingerichtet in ihrer Globalisierung, der Internationalität der Märkte sowie der vermeintlichen Stärke deutscher Unternehmen darin und darauf. Diese Stärke – schon der Blick auf die China-Reise des Kanzlers offenbart aktuell eher eine Schwäche – beruhte zu nicht unwesentlichen Teilen auf den Rationalisierungen und Optimierungen der neoliberalen Jahre einer auf die „Schwarze Null“ ausgerichteten Haushaltspolitik, wie sie vor allem mit dem Namen des ehemaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble verbunden ist. Auf der Habenseite dieser Politik steht die derzeit wohl noch beherrschbare Ausgangslage Deutschlands in den Energieversorgungsfragen der Zeitenwende.
Deutschland, die deutsche Wirtschaft, die deutschen Unternehmen brauchen neues Denken und einen neuen Blick auf diese Gesellschaft.
Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte hat der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm, Christdemokrat wie Schäuble, bis kurz vor seinem Tod nachhaltig thematisiert – und als Wertschöpfungsillusion bezeichnet. Die Privatisierung aller Lebensbereiche reißt tiefe Löcher in den Zusammenhalt der Gesellschaft. Darüber hinaus – und das ist das Dramatische an der aktuellen Lage – bedroht das Downsizing der Arbeit inzwischen die Zukunft einer international erfolgreichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft.
Deutschland, die deutsche Wirtschaft, die deutschen Unternehmen brauchen neues Denken und einen neuen Blick auf diese Gesellschaft. Ein Beispiel: Auch in diesem Blog klagen Handwerker und andere Unternehmer über Fachkräftemangel und Nachwuchssorgen. Immer noch leiten sie den stärker werdenden Mangel an Auszubildenden und Bewerbern für – früher gern „ordentlich“ genannte – Berufe zu wesentlichen Teilen aus einer Konkurrenz gegen steigende akademische Ausbildungswünsche ab. Das greift viel zu kurz und offenbart, dass die Herausforderung noch immer nicht verstanden ist.
„Quiet-Quitting“
Der Nachwuchs heute sucht seine Ausbildung nach völlig neuen und vor allem veränderten Kriterien aus. Geld spielt eine Rolle, ja. Leistung auch. Aber die Frage nach geregelten und familienfreundlichen, flexiblen Arbeitszeiten, bezahlbarem Wohnort inklusive guter Einkaufsmöglichkeiten, einer sozialen Heimat, guter und bezahlbarer Betreuung und Ausbildung für Kinder und Jugendliche wird stärker. Und sie wird entscheidend für den Gewinn neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Quiet Quitting“ – unter diesem Begriff diskutiert die so genannte „Generation Z“ ihre Vorstellungen von der Nachrangigkeit des Jobs bei gleichzeitig durchaus vorhandener Leistungsbereitschaft. In den USA ist dies bereits ein großes Thema – auch in Medien wie New York Times und Wall Street Journal.
Darauf müssen sich ein junges, neues Unternehmertum und sein Management auch in Deutschland einstellen. Aktuell besteht die Gefahr, dass dies von den Sorgen vor einer neuen Rezession überdeckt werden könnte. Tatsächlich wird in den kommenden Jahren zu einer Neuordnung der Welt aber auch eine Neuordnung der Wirtschaft gehören. Würden die Unternehmen dabei der Versuchung unterliegen, ihre Beschäftigungsstruktur ausschließlich an der internationalisierten Krisenlage auszurichten und Personal zu entlassen, verspielten sie zugleich Chancen auf eine erfolgreiche, effiziente Zukunft. Zu dieser gehören vorrangig qualifizierte, motivierte und einsatzfähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie schief das gehen kann, haben nach der Corona-Krise diverse Unternehmungen schmerzhaft erfahren müssen, als sie – etwa in der Gastronomie – keine Arbeitskräfte mehr fanden, weil die sich neuen, meist attraktiveren Jobs zugewandt hatten. Der kurze Blick reicht da eben nicht. Ein Fünf- oder gar Zehn-Jahres-Horizont wäre besser.
Wenn es richtig ist, dass Arbeitskraft künftig ein gefragtes Gut ist, dann gehen alle Lösungsvorschläge in eine falsche Richtung, die über Drohung und Druck statt über Motivation und Angebot Menschen für eine Tätigkeit im eigenen Unternehmen gewinnen wollen. Da bietet etwa NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit seiner eher floskelhaften und erwartbaren Meinung zum Bürgergeld zu wenig, wenn er formuliert, es sei „nicht gerecht, dass Menschen auf Kosten derer, die fleißig arbeiten gehen, ziemlich lange nicht mitwirken müssen“. Diese Gerechtigkeitsfrage mag zugespitzt und kurzfristig politisch nutzbar sein – das Arbeitskräfteproblem der Unternehmen löst man mit ihr nicht.
Neues Denken und neue Werte im Wettbewerb um Nachwuchs bei Arbeitskräften
Schon eher öffnet da der neue DFB-Präsident Bernd Neuendorf der Wirtschaft ganz neue Tore. Wenn ab 2026 der Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler in Kraft tritt, dann liegt darunter auch eine Aufgabe für Unternehmen verborgen, sich mit diesem Thema – gerade in NRW vielleicht gar in Kooperation mit auch lokalen Sportvereinen, die Neuendorf bedroht sieht – etwa durch ein Kooperationsangebot für Schulen und Vereine attraktiv zu machen für junge Familien, Eltern, Kinder. Auch nur als ein Beispiel.
Die Chefetagen der Unternehmen werden sich im Wettbewerb um Nachwuchs bei den Arbeitskräften jedenfalls auf neues Denken und neue Werte umstellen müssen. Künftig werden sie nicht mehr Arbeitgeber sein, also Arbeitnehmern Arbeit geben. Es wird eine Umkehrung der bisherigen, sicher geglaubten Verhältnisse: Arbeitgeber werden die jungen Menschen sein, die für Jobs gewonnen, eingekauft werden müssen. Arbeitgeber werden junge Singles, Paare und Eltern sein, die ihre Zeit zwischen Arbeit und Privatleben selbstbestimmt und motiviert gestalten wollen – mit Vier-Tage-Woche oder Homeoffice oder beidem. Auch Gehaltsfragen bleiben relevant, werden aber nachrangig.
Arbeit nehmen, also einkaufen und anwerben werden die Personalchefs müssen. Mit Geld, ja. Aber Geld allein reicht nicht mehr. Das ist die Herausforderung für Unternehmen einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland. Sie war es schon vor Putins verbrecherischem Ukraine-Krieg und sie wird es in und nach der Krise bleiben.
Das zu verdrängen wäre ein neuer Fehler – vielleicht schwerer als alle, die auf den Neoliberalismus zurückgehen.
Zum Autor: Thomas Seim ist Chefredakteur der Neuen Westfälischen
Der Beitrag wurde erstveröffnetlicht am 4.11.2022 in Unternehmer NRW