Selten habe ich eine solch verlogene Debatte erlebt wie gestern bei Frank Plasbergs Abschiedssendung „Hart, aber fair“. Verlogen, weil wir seit Jahren wissen, dass in Katar im November/Dezember die Fußball-WM stattfindet, aber jetzt, da die deutschen Kicker Richtung Wüstenstaat gedüst sind, diskutieren wir über die Frage: Sollen wir diese WM gucken oder sollen wir das Schauspiel boykottieren? Ein Abend der Heuchelei, der Doppelmoral. Unsere Politiker fliegen nach Katar, um Gasgeschäfte abzuschließen, der Bundeswirtschaftsminister von den Grünen, Robert Habeck, macht brav einen Diener vor seinem reichen Gastgeber, damit wir im Winter nicht frieren. Weil Russlands Putin, dessen billiges Gas wir Jahre ohne Gewissensbisse genossen haben, uns den Gaskrieg erklärt hat. Es könnte knapp werden, wenn es kalt wird. Der böse Putin. Und der liebe Emir aus Katar. Wie im Märchen. Verlogene Welt.
Dabei sind beide, der Emir und der Putin, Autokraten. Gut, der Emir führt keinen Krieg gegen die Ukraine, das macht der Putin, der Emir bedroht auch Europa nicht, er liefert sogar Gas. Wenn da nicht die Sache mit den Menschenrechten wäre! Die sind eigentlich nicht verhandelbar. Aber geht uns das etwas an? Ist das nicht Einmischen in die inneren Angelegenheiten eines Landes? Doppelbödiger kann man kaum diskutieren. Tausende von Arbeitern aus Nepal, Indien, Pakistan und den Philippinen sind auf den Baustellen für die Stadien der WM gestorben, umgekommen auf dem Bau, bei der Arbeit, in mörderischer Hitze. Sieht ja keiner mehr, denn die Stadien sind fertig. Jetzt fordern mehrere Länder, auch Deutschland und Menschenrechtsorganisationen Katar auf, 440 Millionen Dollar Entschädigung für die Hinterbliebenen zu zahlen. Peanuts für die Gas-und-Öl-Milliardäre. Vermisst habe ich bei der Debatte Franz Beckenbauer. Der hatte bei seinem Besuch im Öl-Gas- und Sand-Land vor Jahr und Tag keinen Toten auf der Baustelle gesehen. Man könnte auch darüber reden, welche Beziehungen Katar pflegt zu gewissen Terrororganisationen.
Katars Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Alm Thani blieb es vorbehalten, uns den Spiegel vorzuhalten. In einem Einspieler sprach er von der deutschen Doppelmoral, „die uns ärgert“. Da werde auf der einen Seite „die deutsche Bevölkerung durch Regierungspolitiker falsch informiert, auf der anderen Seite hat die Regierung kein Problem mit uns, wenn es um Energiepartnerschaften geht oder um Investitionen“. Im Hintergrund sah man das Foto von Robert Habecks tiefer Verbeugung vor dem katarischen Handelsminister bei seiner Erdgas-Bettelrunde. Und als Plasberg dann in die Runde die Frage stellte, ob der katarische Außenminister nicht ein bisschen Recht habe mit seiner Kritik, gab ihm Willi Lemke Recht. „Das ist ein klassischer Fall von Doppelmoral.“ Gut gebrüllt, Löwe, möchte ich meinen. Wir sollten das lassen. Gustav Heinemann hat uns vor Jahrzehnten gelehrt: Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, muss wissen, dass drei Finger derselben Hand auf ihn zurückweisen.
Als Fußball noch Volkssport war
Der Fußball, das war mal ein Volkssport. Als wir noch auf der Straße mit Lumpen-Bällen oder Büchsen gekickt haben. Später mit einem Gummi-, dann mit einem Lederball, der mit einer Schnüre zusammengebunden war. Wehe, man kriegte den Ball vor den Kopf! Wir spielten auf Ascheplätzen. Rasen, das gabs nur bei den größeren Klubs. Heute ist das anders. Da gibts sogar Rasenheizung, damit die Kicker mit ihren teuren Beine nicht frieren. Oder in den Schnee fallen, auf Eis ausrutschen. Sie könnten sich verletzen. Das darf nicht sein. Es geht um Millionen. Gut, dass es in Katar warm ist.
Der Fußball verliert seine Basis, sagte jemand bei Plasberg. Er hat sie längst verloren, eingetauscht gegen Geld, Euro, Dollar. Wie man will. Warum sonst müssen wir uns dagegen stemmen, dass eines nicht zu fernen Tages das deutsche Pokal-Endspiel irgendwo in der Wüste oder in China stattfindet. Wenn viele Millionen fließen, geht fast alles. Und bald werden wir die Super-Liga in Europa haben, in der nur noch die Großen gegeneinander spielen: Real, Barca, Paris, Man City, Liverpool, Neapel, Mailand, Turin, der FC Bayern ist noch dagegen. Warten wir ab, wenn die Summen größer werden. Die Verlockungen des Geldes…
Ich wüsste gern, wieviel der Emir und seine Freunde dafür bezahlt haben, dass die WM bei ihnen in der Wüste stattfinden darf. Ob der Sepp Blatter da Genaueres weiß, oder der Infantino, vielleicht der Franz Beckenbauer. Oder gar der Uli Hoeness. Oder Michel Platini. Der konnte auch mit dem Ball umgehen wie der Franz. Später kam er wegen irgendwelcher Geschäfte ins Gerede.
Reden wir über Menschenrechte. Frauen haben in Katar nichts zu sagen. Sie werden als eine Art Süßigkeit gesehen. Reicht ja auch. Katar ist nicht Deutschland. Und ja, es soll Fortschritte geben bei Arbeitnehmerrechten. Oder gilt das nur für die Zeit bis zum Ende des Turniers? Katar ist so groß-oder klein- wie Hessen. Kleiner als Schleswig-Holstein. Beherrscht wird es von einer Führungsclique, Schwule sind dort nicht gern gesehen, der Katar-Botschafter hat Homosexualität als eine Art geistigen Schaden bezeichnet. Alkohol soll es nur hinter dem Vorhang geben, privat, wenn kein Fernsehen dabei ist, Öffentlichkeit fehlt.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die vor kurzem Katar besucht hat, weiß noch nicht, ob sie zum Turnier fahren wird. Willi Lemke, früher Geschäftsführer von Werder Bremen, dann Minister, hat ihr gut zugeredet, hinzufliegen. Als Innenministerin ist sie für den Sport zuständig. Und was die Rechte von Schwulen angeht, hat sie die Fans beruhigt. Wenn man so will hätten die Fans so was wie freies Geleit während des Turniers. Dann ist es ja gut. Länger muss ja niemand bleiben. Übrigens Willi Lemke. Der meinte allen Ernstes, die Plasberg-Sendung sei der Abschluss des großen Bashing gegen Katar. „Ab morgen werden wir Fußball schauen“, denn in einer so schweren Zeit(er meinte Krieg) brauche ich -und viele andere Menschen auch- etwas Positives.“ Der Arme.
Katar hat die Maßstäbe nicht erfunden
DFB-Mediendirektor Steffen Simon- ich habe seine Stimme von den Fußball-Übertragungen noch im Ohr- erinnerte die Runde an die Maßstäbe, die bei der Vergabe von WM-Turnieren gültig seien. Diese Maßstäbe hat die Fifa erfunden, also die alten Herren wie Sepp Blatter und heute Infantino und wer immer vom DFB dabei gewesen sein mag. „Katar hat das System nicht erfunden, mit dessen Hilfe es die WM bekommen hat“, betonte Simon zu Recht. Da hätte man noch nachhaken und erzählen können, wie Deutschland an sein Sommermärchen 2006 kam. Auch da ist Geld geflossen, die Ermittlungen sind gerade eingestellt worden. Oder nehmen wir das Turnier 2018 in Russland. Viele demokratische Freiheiten gab es im System Putin damals auch wenige, aber gewiss freies Geleit.
„Ich kann nicht jeden Tag für die Menschenrechte auf die Straße gehen und dann in Katar wegschauen“, sagte Tugba Tekkal, Ex-Fußballerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie will während der WM auf die Missstände aufmerksam machen und “ weiter laut sein“. Aber der Fernseher bleibe bei ihr zu Hause aus.
Thomas Hitzelsberger kenne ich noch als Fußballer. Der Mann vom VfB Stuttgart hatte das, was man bei Lothar Emmerich vom BVB einst die linke Klebe nannte oder beim Frankfurter Bernd Nickel den Hammer. Hitzelsberger hat sich vor Jahren als schwul geoutet und er hat einen sehenswerten Film für die ARD gedreht, eine Doku zur WM. Er war dabei auch nach Nepal gereist und dem Schicksal einer Familie nachgegangen, die den Vater und Ernährer in Katar verloren hatte. Der Mann war eines von Tausenden von Todesopfern eines modernen Sklavenmarktes, für die der Wüstenstaat sich nicht verantwortlich fühlt. Und es war Hitzelsberger, der die Sache mit der Doppelmoral am Ende noch einmal aufspießte. Alle Player, alle Länder, alle Klubs und alle Fans hängen in den Exzessen des globalen Fußballkapitalismus mit drin. „PSG wird von Katar finanziert, Bayern München von Katar Airways. Und englischen Fußball kann ich eigentlich komplett zumachen. Wenn ich da konsequent sein will, muss ich aufhören, Fußball zu schauen und zu leben. und das möchte ich nicht hinnehmen.“
Kurze Ergänzung: Wir werden in unserem Freundeskreis, mit dem wir schon die Turniere in Brasilien und in Russland geschaut haben, auch dieses Mal die Spiele der deutschen Mannschaft verfolgen. Bei gutem Essen, Bier und Wein. Und wenn die Deutschen ein Tor schießen, wird gejubelt. Trotzdem. Die Kicker können am wenigsten etwas für die Umstände des Turniers und die Zustände in der Wüste.