Die Autorin war in den 1970er Jahren mit ihrem Goldenen Notizbuch zum Star der Frauenbewegung aufgestiegen; das Buch in aller Munde und – ähnlich wie Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht – praktisch zur Pflichtlektüre des Feminismus geworden. Fünfzig Jahre später nun fällt mir eher zufällig das antiquarisch erworbene Tagebuch der Jane Somers (Erstveröff. 1983) in die Hände, ein Roman in Tagebuchform, der mich wegen seiner Thematik anspricht: Es geht um Frauenleben in extrem verschiedenen sozialen Lagen und aus unterschiedlichen Generationen am Beispiel einer erfolgreichen Journalistin mittleren Alters und einer Greisin, die in bitterer Armut lebt; und im Laufe der Handlung erweitert sich das Personaltableau, so dass weitere Differenzierungen anhand von Klasse, Alter/Generation und Gender hinzukommen; abgebildet wird dadurch ein Mikrokosmos der Verschiedenheiten und sozialen Ungleichheiten unter Frauen in der britischen Gesellschaft der 1980er Jahre; das Sujet wird wahrscheinlich bis heute an Aktualität nichts eingebüßt haben. Man fragt sich unweigerlich, ob und wie angesichts dieser sozialen Differenzen so etwas wie Solidarität untereinander oder auch nur Verständnis füreinander entstehen kann.
Jane Somers geht ganz in ihrer Arbeit als verantwortlich Redakteurin einer noblen Frauenzeitschrift auf, was in ihrer Ehe den Gedanken an eine Mutterschaft erst gar nicht hat aufkommen lassen; die Berufsarbeit ist zentrale und einzige Quelle von Selbstwertgefühl und Anerkennung, die Einbindung in ein kleines Kollektiv und die kooperative Kommunikation bei flacher Hierarchie bieten Halt und Sinnstiftung. Der plötzliche Tod ihres Mannes und kurz darauf auch der ihrer Mutter bilden dann einen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie sinniert über sich und ihre Lebensführung, stellt Sinnfragen, schildert sich als haltlos, unselbständig und abhängig; hinter der Powerfrau nach außen verbirgt sich innerlich eine Unfreiheit, die sie mit den Worten Kind-Tochter und Kind-Frau bezeichnet.
n dieser Situation begegnet Jane zufällig einer alten Hexe, der 90jährigen Mrs. Fowler, einer kleinen gebeugten Frau mit einer Hakennase, die beinahe das Kinn berührte, die ihr in einer Apotheke aufgrund ihres rebellischen Verhaltens auffällt. Die Alte fordert von Jane Unterstützung ein, weil sie statt des verordneten Valiums nur ein Schmerzmittel brauche, statt sich von dem anderen Medikament ihrer geistigen Kräfte berauben zu lassen. Und aus dieser ersten Begegnung entwickelt sich nun eine komplizierte, konfliktreiche, aber auch warmherzige Beziehung zweier Frauen, die verschiedener nicht sein können.
Mrs. Fowler wird drastisch in all ihrem Elend beschrieben: körperlich klein, krumm und dürr, mit gelblicher Haut, verschmutzt und übel riechend, in einer Wohnung hausend, die man eher als Kellerloch bezeichnen kann, bar jeder sanitären Anlagen (das Plumpsklo ist auf dem Hof), nur in der sogenannten Küche einen Wasserhahn am Spülbecken und im „Wohnraum“ einen Ofen aufweisend; mithin im Zustand der Verelendung, Verwahrlosung und Einsamkeit, in Armut und Dunkelheit lebend– nicht nur physikalisch, sondern auch sozial: Die im Dunkeln sieht man nicht, schrieb Brecht einst in seinem Dreigroschen-Werk. Die Besuche von Jane Somers, die immer regelmäßiger werden, bieten einzig einen Einblick in diese Zustände – obwohl der britische Sozialstaat hier potentiell für Abhilfe sorgen könnte: in Form der Bereitstellung einer Haushaltshilfe und einer Pflegekraft etwa, worauf Jane auch unermüdlich hinweist. Doch damit beißt sie bei Mrs. Fowler auf Granit, d.h. auf störrische Verweigerung und Ablehnung: so etwas brauche sie nicht, sie könne sich immer noch selbst versorgen, sie habe es nicht nötig, auf andere angewiesen zu sein usw. Lessing stellt diese alte Frau von Beginn an als geistig rege und vor allem in ihrer ganzen Halsstarrigkeit dar, die im Kontrast zu den erbärmlichen Lebensumständen steht: dies spricht für ihren Stolz, ihre Widerständigkeit, Willensstärke und den Kampf um ihre Würde, den wir im Roman buchstäblich bis zur Bahre verfolgen können.
Mindestens zwei Fragen stellen sich hier bereits: Wie kommt eine Frau wie Jane Somers, die im Wohlstand lebt, dazu, sich um diese arme, alte Frau zu kümmern? Was sind ihre Motive? Und woher rührt der Widerstandsgeist der Alten?
Zum ersten Aspekt: Letztlich bleibt es im Unklaren, was die Journalistin antreibt, sich bis an die Grenzen ihrer eigenen Kräfte hier zu engagieren. Auf Unverständnis stößt sie dabei auch bei ihren beiden Nichten, also Angehörigen einer jüngeren Generation von Frauen, die im Übrigen eine starke Affinität zur Tante verspüren, ja, ihr sogar zum beruflichen Vorbild gereichen; und es bleibt bis zum Schluss offen, inwieweit Jane selbst ihr Engagement versteht. Es scheint jedenfalls mehr als Mitleid zu sein, denn von der bürgerlichen Wohltätigkeit grenzt sie sich entschieden ab; auch will sie keine gute Nachbarin sein, eine auf privater Ebene organisierte Form der Fürsorge, mit der besser gestellte Frauen oftmals ihr soziales Gewissen beruhigen, indem sie sich um andere kümmern. Vielleicht ist Jane ja auch plötzlich aufgefallen, dass in ihrer chicen Zeitschrift alte Frauen überhaupt nicht vorkommen. Was einer Art sozialer Ignoranz gleichkäme, zumindest auf Abgehobenheit schließen ließe.
Leichter verständlich wird im Laufe der Handlung die Frage nach den Wurzeln der Willenskraft und Widerständigkeit auf Seiten der Greisin. Denn es gibt im Roman Tagebuch-Eintragungen mit der Überschrift Ein Glücklichsein, in denen man einiges aus dem Leben der Maudie Fowler erfährt. Eingeleitet werden sie von der Erzählerin Jane so:
Sie erzählt mir von allen Zeiten in ihrem Leben, wo sie glücklich gewesen ist. Sie sagt, jetzt ist sie auch glücklich, weil ich da bin (und das finde ich schwer zu verkraften, es erbost mich, daß so eine Kleinigkeit ein Leben so verändern kann), und darum denkt sie gerne an glückliche Zeiten zurück.
Und so erfahren wir, dass die Alte als Mädchen eine Lehrstelle als Putzmacherin innehatte und in diesem Beruf eine hervorragende Begabung an den Tag legte, die Lehrleute sie mit gutem Essen und auch etwas Anerkennung (wenn auch wenig Lohn) versorgten; dass sie als junge Frau eine Liebelei hatte, geheiratet hat, völlig unaufgeklärt sofort schwanger geworden ist und der Mann sie nach einem Jahr mit dem Kind hat sitzenlassen. Aus den glücklichen Zeiten werden schwere. Unter dem Abschnitt Maudies schlimmste Zeit erzählt sie davon, wie schwer sie schuften musste, um sich und den Jungen durchzubringen, welche Not sie erlitten hat – und wie sie im Kampf ums Überleben gelernt hat, sich durchzusetzen. Mithin eben auch den Widerstand auszubilden, der zu ihrer markantesten Eigenschaft geworden ist. Insgesamt hat man bei diesen Schilderungen den Eindruck, dass die alte Frau durch ihre Erzählungen aus ihrem Leben und das aufmerksame Zuhören durch Jane eine Art Vitalisierungsschub erfahren hat. Es handelt sich also hierbei keineswegs um eine Kleinigkeit, wie es die Zuhörerin eingangs formulierte, sondern im Gegenteil: um die Anerkennung einer Lebensleistung.
Und so zeugt das Buch eigentlich von der Wiederholung des Immergleichen: Die fast täglichen Besuche von Jane (auch Janna genannt) bei Maudie (die Frauen sind inzwischen zum vertrauten Du übergegangen) sind zur Routine und Verpflichtung geworden. Die Anforderungen der Betreuung sind gleichgeblieben oder noch gewachsen, so dass irgendwann gegen alle Widerstände doch eine Haushaltshilfe engagiert werden musste. Die Dickköpfigkeit der alten Frau ist ungebrochen und zeigt sich bei jedem kleinen Anlass.
Doch die Autorin legt Wert darauf, dieses soziale Geflecht noch genauer auszuleuchten, was ihr mit dem Stilmittel des Perspektivenwechsels gelingt. Es gibt Passagen unter Titeln wie Maudies Tag oder Jannas Tag oder Ein Tag im Leben einer Haushaltshilfe, in denen nicht nur ein mehr oder minder gleichförmiger Tagesablauf mit dem jeweilige Anforderungsprofil der Protagonistinnen minutiös aufgezeichnet wird, sondern auch das jeweilige Innenleben, also die Gedanken, Gefühle und Sichtweisen vermittelt werden. Besonders beeindruckend ist der so dargestellte Tag einer Haushaltshilfe, die sich zwischen Job und eigener Familie zerreißt, wenn sie in kurz getakteter Zeit von Fall zu Fall hetzt und dennoch darum bemüht ist, ihr Bestes zu geben. Man fragt sich, woher Doris Lessing all dieses Material hat, das sie hier so minutiös unterbreiten kann – als wäre sie nicht nur Schriftstellerin, sondern auch eine empirische Sozialforscherin ‚im Feld‘.
Das große Finale dieses Tagebuch-Romans bildet ein längerer Abschnitt über Mrs. Fowlers Krankenhaus-Aufenthalt aufgrund der Diagnose von Magenkrebs, an dem sie dort auch sterben wird. Lessing erzählt nicht nur von den verschiedenen Stadien des Krankheitsverlaufs der Patientin bis zum Tod, sondern auch von der Institution Klinik oder Krankenhaus als Ganzes, mit besonderem Schwerpunkt auf der Arbeitssituation des Pflegepersonals, also der Stationshelferinnen, Pfleger:innen und Schwestern, die, eingebunden in die hierarchische Organisation, aufgrund der enormen Belastungen ständig am Limit arbeiten. Man staunt auch hier wieder über die präzisen Darstellungen, als würden sie auf genauer Beobachtung beruhen, sowie über die Aktualität ihres Berichts.
So schreibt die sozialkritische wie engagierte Autorin etwa über die Pflegekräfte im Krankenhaus:
Ich möchte über die Stationshelferinnen schreiben, die Spanierinnen, Portugiesinnen, Jamaikanerinnen, Vietnamesinnen, die so lange Arbeitszeiten haben und so extrem schlecht bezahlt werden, die Familien ernähren, Kinder großziehen und noch Geld heimschicken … Diese Frauen gehören wie selbstverständlich zum Inventar. Im Vergleich zu ihnen werden Krankenträger gut bezahlt; sie bewegen sich im Krankenhaus mit einer Selbstsicherheit, die meiner Einschätzung nach daher rührt, daß man nicht müde ist. Diese Frauen sind müde, das zumindest weiß ich genau. … Ihnen allen steht so eine allgegenwärtige Sorge im Gesicht, die mir bekannt vorkommt: man kann sich nur mit genauer Not über Wasser halten; wenn etwas passiert… ist man verloren. Woher kenne ich diesen Blick? … Habe ich davon gelesen? Nein, ich glaube, das hat mit Maudie zu tun: wenn Maudie erzählte, wenn sie aus ihrem Gedächtnis Geschichten ausgrub … dann lag wahrscheinlich dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht, weil er mit ihrer Erzählung einherging. Diese Frauen leben in Angst. Durch ihre Armut haben sie keinerlei Sicherheitsspielraum …
Wenn Jane zur Erklärung ihres Verständnisses für die psychosoziale Situation und Befindlichkeit der Pflegekräfte die von ihr gemachten Erfahrungen mit der Greisin heranzieht, so kann das am Schluss des Buches doch noch zur Beantwortung der offenen Frage beitragen, warum sich Janes Somers in diesem Fall dermaßen engagiert hat. Im Angesicht des Todes von Mrs. Maudie Fowler stellt sie sich immer wieder aufs Neue die Frage nach ihrer Motivation, auch aus der abschätzigen Perspektive der Anderen:
Wieso ist es dahin gekommen, daß sich jemand wie ich, wohlhabend, Mittelklasse, im Vollbesitz der Kräfte, der solche Aufgaben übernimmt, ohne es nötig zu haben, als nicht ganz richtig im Kopf gilt? Manchmal sehe ich aus einem Blickwinkel und dann wieder aus einem anderen; manchmal finde ich, ich sei verrückt, dann wieder, unsere Gesellschaft sei es. Aber diese Verantwortung habe ich nun einmal auf mich genommen, und ich bin die Freundin von Eliza und von Annie (zwei alte, sozial bessergestellte Frauen in ihrem Umkreis, P.F.) und ich bin die Freundin (und noch mehr, glaube ich) von Maudie, einfach weil ich mich dafür entschieden habe. Ich entschied mich, und ich tat es. Wenn man sich für eine Handlungsweise entscheidet, ist sie nicht absurd, jedenfalls nicht für einen selber. Verantwortung übernehmen, Entschluss zum Handeln und Helfen auf der Basis von Freundschaft – das sind die Erklärungen, die Jane bzw. Doris Lessing anbietet. Bezogen auf die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit von Solidarität unter Frauen verschiedener sozialer Klassen und Generationen, kommt es demnach eher auf den Einzelfall an, dass freundschaftliche Verbindungen entstehen können; und statt gleich an solidarische Bewegungsformen zu denken, sind diese bereits von sozialem und politischem (Stellen-)Wert, sofern sie verbindlich und emotional unterfüttert sind, wenn auch „nur“ auf privater Ebene. Mehr sollte wohl nicht erwartet werden.
Bildquelle: Larry Armstrong, Los Angeles Times, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons