Joe Biden atmet auf. Der US-Präsident rechnet vor, dass bei den Wahlen zur Halbzeit seit Jahrzehnten kein Amtsinhaber so glimpflich davon gekommen sei, wie er. Gemessen an den dramatischen Prognosen, die eine rote Welle über die Vereinigten Staaten hereinbrechen sahen, einen Erdrutschsieg der Republikaner, bis hin zum Verlust der Handlungsfähigkeit des demokratischen Präsidenten, gemessen daran, kann Biden tatsächlich zufrieden sein.
Nimmt man jedoch sein Ziel und Versprechen zum Maßstab, die tief gespaltene Nation nach den furchtbaren Trump-Jahren zu einen und für die Demokratie zurückzugewinnen, gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Der Trumpismus ist nicht überwunden. Hunderte Anhänger von Donald Trump haben sich an Schaltstellen im System eingenistet, und wenn nicht alles täuscht, wird der unberechenbare Rechtsaußen der Republikaner schon in wenigen Wochen seine erneute Präsidentschaftskandidatur ankündigen.
Mit dem deutlichen Wahlsieg von Ron DeSantis in Florida hat sich den gemäßigten Konservativen eine Alternative empfohlen. Untrügliches Zeichen dafür, dass Trump den Rivalen durchaus ernst nimmt, ist die Drohung mit Enthüllungen über DeSantis, falls der sich zur Kandidatur entschließt. Doch selbst wenn derlei nicht verfängt, bleibt der rücksichtslose Egomane schon wegen seines zwielichtigen Vermögens Favorit. Eine Entzauberung Trumps ist trotz des Scheiterns einiger seiner glühenden Verehrer nicht in Sicht.
Seine Lügenkampagne von der gestohlenen Wahl, die er mit dem Sturm auf das Kapitol inszeniert hat, sitzt auch fast zwei Jahre danach noch fest in den Köpfen derer, die dem „Amerika zuerst“ anhängen, dem weißen, evangelikalen Amerika, und die nach Privilegien für sich selbst gieren – auf Kosten der Minderheiten.
Mit einem milliardenschweren Inflationssenkungsgesetz hat Joe Biden alles daran gesetzt, den Menschen die Ängste vor einem Wohlstandsverlust zu nehmen. Das Gesetzespaket zu Steuer-, Klimaschutz- und Sozialpolitik, das beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz womöglich unter der Flagge „Super-Mega-Wumms“ vom Stapel gelaufen wäre, hat offenbar Wirkung gezeigt; auch die umstrittene Abtreibungsentscheidung des Supreme Courts, den Donald Trump noch zum Ende seiner Amtszeit mit mehrheitlich konservativen Richtern besetzt hat, half, demokratische Wähler zu mobilisieren.
Beruhigen kann das die Demokraten nicht. Für die verbleibenden zwei Jahre müssen sie sich auf weitere massive Hetzkampagnen einrichten, die von den völlig entfesselten Republikanern im Bunde mit konservativen Meinungsmachern konzertiert werden. Das bedeutet auch aus internationaler Sicht, dass die Verlässlichkeit der USA als Partner nicht langfristig gewährleistet ist. Den Beistand für die Ukraine hat Joe Biden für seine Amtszeit abgesichert; die neuen Konfliktlinien gegenüber Russland und China werden die Welt jedoch noch für Jahrzehnte prägen. Europa ist gut beraten, die Lehren aus der Trumpschen Präsidentschaft nicht zu vergessen und im Sinne einer friedlichen, gerechten und klimaneutralen Welt die Vereinten Nationen zu stärken.
© 2024 Blog der Republik.