Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir am 9. November bei Bier und Bratwurst den Fall der verhassten Berliner Mauer feiern, singen und grölen, gerade so täten, als wäre dieser deutsche Tag nur zum Feiern da. Das kann, das will ich mir nicht vorstellen. Und es kann, es darf, um den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, aufzugreifen, keinen Schlussstrich unter diese braune Vergangenheit geben, die nun mal zum unrühmlichen Teil deutscher Geschichte gehört. Auch wenn nach einer Umfrage 49 Prozent, also im Grunde jeder Zweite, dafür sind, das Thema Shoah, den Holocaust, die Massenvernichtung von Millionen Juden in Europa durch Nazi-Deutschland abzuhaken.
Ein Recht auf Vergessen gibt es nicht. Wie auch?! Wie wollen wir denn vergessen, was 1933 begann mit der Machtergreifung Adolf Hitlers, zu dessen zentralem Programm die Vernichtung der Juden zählte? Das Ermächtigungsgesetz vergessen, dem alle Parteien im deutschen Reichstag zugestimmt haben mit Ausnahme der SPD, deren Vorsitzender Otto Wels die berühmten Sätze in der Kroll-Oper sprach, die noch heute gültig sind und die der legendäre Willy Brandt oft zu Beginn eines Parteitags zitierte: „Freiheit und Leben könnt Ihr uns nehmen, die Ehre nicht.“ Wie soll das eine Partei wie die SPD je vergessen, deren Mitglieder zu Tausenden von den Nazis verfolgt und ermordet wurden? Wie sollen wir vergessen, dass unter dem Gejohle von Menschen Bücher verbrannt wurden? Wie sollen wir vergessen, dass- der Blog-der-Republik hat darüber berichtet- am 9. November 1938 auf Geheiß von Joseph Goebbels und mit Zustimmung von Hitler in Deutschland und Österreich- es gehörte zum gesamtdeutschen Reich- rund 1400 Synagogen angezündet, 7500 Wohnungen und Geschäfte verwüstet, Hunderte Juden ermordet oder in den Suizid getrieben, dass etwa 30000 Juden in Schutzhaft-welcher Hohn?!- genommen wurden, also in Konzentrationslagern landeten? Ein Zivilisationsbruch sondergleichen, begangen von einem Volk, das sich Kultusvolk nannte. Ich meine uns Deutsche. Wahrlich ein schlimmer deutscher Tag.
Vergessen? Josef Schuster sagte in einem Beitrag für die SZ: „Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gibt es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland.“ Wer das Konzentrationslager Auschwitz-es liegt in Polen, unweit von Krakau- gesehen hat, wird dieses Thema nicht mehr los, er wird es nicht vergessen, wozu Deutsche in der Lage waren. Menschen zu töten, weil sie Juden waren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte anlässlich einer Gedenkveranstaltung in seinem Amtssitz Schloss Bellevue in Berlin: „In unserem Land wird niemals wahrhaftig des 9. November gedacht werden können, ohne den Zivilisationsbruch des Holocaust zu erinnern.“
Friedliche Revolution
Das bedeutet nicht, dass wir den Mut der Menschen in der früheren DDR vergessen, die die Mauer zum Einsturz gebracht haben, jene 70000 Deutsche, die am 9. Oktober 1989 in Leipzig mit Kerzen auf die Straße gingen und ihre Angst vor Repressionen und Geheimpolizei überwanden. Das war ein wesentlicher Moment der friedlichen Revolution in der DDR, der sich dann wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitete, weil man heimlich Videos gemacht hatte, Bilder, die den Leuten Mut machten gegen die schwer bewaffnete Staatsmacht, gegen die Stasi aufzustehen. Unter dem Stichwort der Montagsgebete in der Nikolaikirche wurden sie berühmt. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, erinnerte während der Feierstunde im Schloss Bellevue auch an den 9. November in der DDR, den Tag des Mauerfalls, er sprach davon, dass es damals beeindruckende Bilder vom Sturz der Mauer voller Zuversicht, Hoffnung und Farbe gegeben habe. Diese Bilder dürften aber nicht die Bilder der brennenden Synagogen voller Verzweiflung, Trauer und dunkler Schatten überlagern. Den Mut der Ostdeutschen dürfe das nicht schmälern. Wie wahr! Josef Schuster, ein Arzt, musste seine Rede ein wenig verschieben, weil er den am Rande der Veranstaltung zusammen gebrochenen ehemaligen Bürgerrechtler Werner Schulz versuchte zu reanimieren, was nicht gelang. Der Grünen-Politiker, der lange Jahre Mitglied im Deutschen Bundestag war und im Europa-Parlament saß, ein Widerspruchsgeist, einer der Gründer des Neuen Forums. Im Sommer war er mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet worden.
Nicht vergessen, das eine wie das andere. Oder will man verdrängen, wie nach 1945 manches beiseite geschoben worden war, was peinlich genug war, die eigene Vergangenheit, das schlechte Gewissen? Dass man dabei war, mitgemacht hatte? Dass man es nicht gewusst habe, das mit den Lagern? Und wie war das mit der Reichspogromnacht? Die fand doch öffentlich statt, Juden wurden durch die Straßen getrieben. Über das KZ Dachau wurde in der Presse berichtet. Und vergessen sollten wir auch die Geschehnisse in der DDR nicht. Mancher gab sich ziemlich schnell nach dem Fall der Mauer als Demokrat aus, gerade so, als wäre er eigentlich im Widerstand gegen das SED-Regime gewesen. Man müsste in dem einen oder anderen Fall hinzufügen: Heimlich. Womit ich nicht Menschen kritisieren will, die nicht gegen die Diktatur auf die Straße gingen. Helden sind selten. Und von hier aus sagt sich das leicht mit dem Widerstand.
Stunde der Weimarer Republik
Der 9. November, Stunde der Weimarer Republik, Reichspogromnacht, Fall der Berliner Mauer. Demokratie, Holocaust, Freiheit und Einheit. Deutsche Geschichte. Wie soll man gedenken? Wir haben nicht diesen einheitlichen Feiertag wie Amerika mit dem 4. Juli, Tag der Unabhängigkeit. Oder wie die Franzosen ihren 14. Juli haben als Inbegriff der Revolution. In Russland habe ich mal den 9. Mai miterlebt, in St. Petersburg war das. Da haben sie den Sieg über Hitler-Deutschland gefeiert. Tausende und Abertausende, Familien, Großväter in Uniformen, Mütter und Väter mit Kindern besuchten die Gräber auf dem Zentralfriedhof. Drei Jahre hatten die Nazis das damalige Leningrad eingekesselt, eine Million Russen kamen ums Leben, sie waren verhungert, erfroren, erschossen. Sie feiern ihre Unabhängigkeitstage, ihre Freiheitstage mit großem Pomp, mit Feuerwerk und Paraden, ja auch mit Stolz und großer Freude.
Unser 3. Oktober, der politisch beschlossene Feiertag, kann da nicht mithalten. Das wenn auch große Bürgerfest am nationalen deutschen Feiertag ist etwas anderes. Natürlich freuen wir uns immer wieder über den Fall der Mauer, aber diese entsetzliche Mauer mit Stacheldraht und all den anderen tödlichen Werkzeugen hatte auch viele Tote gekostet. Der Schießbefehl hatte dazu geführt, dass der eine Ostdeutsche auf den anderen geschossen hat, ja ihn auch erschoss, wenn der die Mauer überwinden wollte, um in den freien Westen zu gelangen. Zum Mauerfall gehören all die menschlichen Geschichten, die Tragödien, die Familien auseinanderrissen. Dazu zählt gewiss die Jubelfeier am 9. November 1989, als sie auf der Mauer tanzten oder zu Tausenden in ihren Trabis nach Westberlin fuhren, das zwar nebenan lag, das sie aber vorher nicht besuchen durften.
Friedliche Revolution und Wiedervereinigung. Ja, das sind Momente, um zu feiern. Und dazu passt auch die Revolution von 1918, als der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die Republik unter bürgerlich-demokratischen Vorzeichen ausrief.(Der Führer des Spartakusbundes, Karl Liebknecht rief am gleichen Tag die sozialistische Republik aus) Und damit das Ende der Monarchie. Und hier kommt eben das große Aber dazu, das Gedenken an die Pogromnacht mit den Abgründen des Menschheitsverbrechens. All das kann man in Berlin gut besichtigen, es liegt eng beieinander, oft nur einen Steinwurf von einander entfernt.
Vergleich mit Amerika, Frankreich
Sollen wir neidisch sein auf die Franzosen, weil sie ihren Nationalfeiertag auf den Champs-Elysées feiern, am Arc de Triomphe? Der Historiker Andreas Rödder, Leiter der CDU-Grundwertekommission, Gastprofessor an einer US-Uni in Baltimore, Maryland, weist in einem Leitartikel für den „Berliner Tagesspiegel“ daraufhin, dass der Arc de Triomphe an die großen Schlachten der Napoleonischen Kriege erinnere, die Schlachten des Feldherrn, der von sich gesagt habe: „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen.“ Und Rödder fügt hinzu: „Und so rücksichtlos hat er sie auch verrecken lassen.“
Andreas Rödder schaut auch im Fall von Amerika auf die andere Seite der Medaille, die gar nicht so glänzt und strahlt, wenn man in die Geschichte schaut. In der Tat ist das mit der Unabhängigkeit der USA und der Feier so eine Sache. Da muss man nur zum Beispiel an Thomas Jefferson erinnern, der wie viele andere mit der Sklaverei große Geschäfte machte und damit gegen das Grundprinzip der USA verstoßen habe: Alle Menschen seien von Geburt an gleich.(that all men are created equal) Das Widersprüchliche, so Rödder, sei eher der Normalfall denn die Ausnahme.
Die Deutschen müssen also nicht übernehmen, was andere anders machen, weil manches bei genauerem Hinsehen eben auch zwei Seiten hat. Das Thema ist komplex, urteilt Andreas Rödder. Unsere Erinnerungskultur hat einen anderen Hintergrund als Amerikaner oder Franzosen oder Italiener usw. Freude und Trauer liegen oft dicht beieinander wie Scham und Stolz. Diese Spannung müsse man aushalten, meint der Historiker und zitiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der vor Jahresfrist einen „aufgeklärten Patriotismus“ gefordert hatte als zukunftsfähigen Umgang mit Geschichte in der Gegenwart.