„Die Synagoge“, schreibt Ulrich Schäfer in der „Wormser Zeitung“, „steht am 10. November 1938 in Flammen, die Feuerwehr hält ihre Wasserschläuche in andere Richtungen.“ Auf Befehl von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nach Rücksprache mit Adolf Hitler zündeten SA-Verbände wie auch SS-Gruppen und sogenannte Parteigenossen der NSDAP Synagogen im ganzen Reich an, plünderten jüdische Geschäfte, verhöhnten Menschen, Alte wie Kinder, Männer wie Frauen, verprügelten und bespuckten oder verschleppten sie in die Konzentrationslager u.a. in Dachau, weil sie Juden waren. Ian Kershaw nennt das in seinem Buch „Höllensturz“ die „furchtbare Nacht der Gewalt“ und den „Höhepunkt einer schrecklichen Spirale der Gewalt gegen Juden“, die auch zum Tod von 100 Juden führte.
Und doch geschieht es, wie Niklas Frank, der Sohn des berüchtigten General-Gouverneurs der Nazis in Polen, Hans Frank, in seinem leidenschaftlich formulierten Wutanfall „Auf in die Diktatur“ schildert, dass im fränkischen Örtchen Scheinfeld der frühere Nazi Karl Lax nach seinem Tod geehrt wird. Man benennt eine Straße nach diesem einstigen Nazi-Bürgermeister, obwohl „unter seiner Führung die Synagoge abgebrannt wurde. Da er auch den eigenen Reichtum mehren wollte, bereicherte er sich am Eigentum der in Scheinfeld ansässigen Juden. Nach dem Krieg wurde er wegen seiner Rolle vom Landgericht rechtskräftig verurteilt. Die von ihm „erworbenen“ jüdischen Grundstücke wurden vom bayerischen Staat eingezogen. Das alles hinderte die Bürger von Scheinfeld nicht, ihn nach dem Krieg wieder zum Bürgermeister zu wählen.“ So der Auszug aus dem Buch von Niklas Frank.
Karl Lax bleibt zwei Amtszeiten Bürgermeister von Scheinfeld, „kaum war er verstorben, benannte der Scheinfelder Stadtrat eine Straße nach ihm“. Niklas Frank versucht später dagegen vorzugehen, vergebens. Auch ein Brief an den bayerischen Innenminister von der CSU, Joachim Hermann, ändert nichts. Es bleibt bei der Karl-Lax-Straße, auch die örtliche SPD findet nichts daran, diesen „rücksichtslosen Nazi-Fanatiker“(Frank) in Ehren zu halten. Dieselbe SPD, die 1933 als einzige Partei gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers gestimmt hatte und deren viele Mitglieder im Widerstand gegen die Diktatur ihr Leben ließen. Und ich füge hinzu, deren späterer Vorsitzender Kurt Schumacher Jahre im KZ Dachau eingesperrt war, wo man ihm schweres Leid zufügte. Wo bleibt das Mitleid mit den jüdischen Opfern der Gemeinde, wo das Erschrecken über die Konzentrations- und Vernichtungslager, fragt Frank. Und gibt sich selbst die Antwort mit dem sarkastischen Satz: „Sie (gemeint die Bürger von Scheinfeld) bevorzugen eine weitere Verhöhnung der unschuldigen Opfer.“
Deutsches Reich- Land der Barbarei
267 Synagogen wurden zerstört, 7500 jüdische Geschäfte verwüstet, SA- und SS-Leute wie Nazi-Mitglieder brachten mindestens 91 Juden um, rund 20000 landeten in Konzentrationslagern. Ein Bild der Verwüstung, Deutschland ein Land der Barbarei. Dass dem Pogrom der Tod des Ersten Deutschen Sekretärs Ernst von Rath vorausging, der zuvor vom 17jährigen Herschel Grynspan, einem polnischen Juden, angeschossen worden war, bot den Nazis den willkommenen Anlass „zurückzuschlagen“. Jahrelang hatten sie daraufhin gearbeitet, den Deutschen jüdischen Glaubens Rechte und gesellschaftliche Anerkennungen zu nehmen, bis sie im Grunde Freiwild waren, ohne jedes Recht.
Wie in fast allen Städten und Gemeinden des Reiches kam es auch in einer der ältesten jüdischen Gemeinden im deutschen Reich, in Worms, zu hemmungslosen Ausschreitungen. In der „Wormser Zeitung“ werden Karl und Annelore Schlösser zitiert mit der Überschrift; „Keiner wird verschont.“ Und alle hätten das Ziel gehabt, „sowohl die religiösen und geistigen als auch die materiellen Existenzgrundlagen der jüdischen Bürger zu vernichten. Danach konnten die sich keine Illusionen mehr über die Absichten des Regimes machen.“ Die alte Synagoge in Worms, die gerade vier Jahre zuvor ihr 900jähriges Bestehen gefeiert hatte, schreibt Ulrich Schäfer weiter, „brannte erst am Morgen des 10. November um 5.45 Uhr. Weil die Feuerwehr angeblich keine Zeit hatte auszurücken, löschte Rabbiner Dr. Helmut Frank gemeinsam mit Schülern der Bezirksschule selbst die Flammen.“ Stunden später habe die Synagoge erneut gebrannt, die Lehrerin Herta Mansbacher habe sich, so ihr Biograf, „in beispiellosem Mut der SA entgegengestellt.“ Aber sie konnte nicht verhindern, dass das jüdische Gotteshaus völlig niederbrannte. Die zahllosen Zuschauer hätten nichts unternommen, um das ehrwürdige Gotteshaus zu retten.
Ebenfalls im Morgengrauen des 10. November hätten Schlägertrupps die Schaufenster und Auslagen jüdischer Geschäfte zertrümmert und Einrichtungen und Warenbestände beschädigt. Sie hätten darüber hinaus das Mobiliar in jüdischen Wohnungen zerschlagen, das Bettzeug aufgeschlitzt und Geschirr sowie Wertgegenstände aus den Fenstern geworfen. Nach dem Bericht eines Pfarrers hätten die Nazi-Horden einen ganzen Flügel auf die Straße geworfen. Die jüdischen Mitbürger seien verhöhnt, gestoßen. geschlagen worden. Wilhelm Gutmann, der versucht habe, sein zerstörtes Mobiliar aufzuräumen, sei von mehreren Leuten angegriffen und so übel verletzt worden, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste. Die Nazis hätten dann ein vier Monate junges Baby aus dem Fenster werfen wollen, sie seien aber von der Mutter daran gehindert worden, sie hätte den Barbaren das Kind entreißen und in Sicherheit bringen können. 86 Juden aus Worms, so die Zeitung, seien vorübergehend ins KZ Buchenwald gebracht worden. Der Möbelfabrikant, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, sei während der Gefangenschaft im KZ gestorben, wo sie unter Kälte und Hunger litten und zudem übelst behandelt wurden. Schilderungen, wie es sie über diesen Abend des 9. November und die Nacht zum 10. November tausendfach im deutschen Reich gab.
Abgrund der Menschlichkeit
Die Kosten der Verwüstungen mussten in Worms wie überall im Reich von den Opfern bezahlt werden. Ferner mussten sie wie zum Hohn eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark ans deutsche Reich zahlen. Durch eine neue Verordnung „zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ hätten jüdische Geschäftsleute wie die schon erwähnten Karl und Annelore Schlösser ihre Läden schließen müssen. Ihr Eigentum wurde vielfach arisiert, ihnen also abgenommen, viele bekamen ihre Häuser, Wohnungen und Gemälde auch nach dem Krieg nicht zurück.
Ein „bodenloser Abgrund der Menschlichkeit“, so Ian Kershaw, und das in einem zivilisierten Land wie Deutschland. Der amerikanische Präsident Roosevelt konnte es kaum glauben, was in der Pogromnacht in Deutschland passierte, „dass solche Dinge sich in einer Zivilisation des 20. Jahrhunderts ereignen können“. 1985 erinnerte Bundespräsident Richard von Weizsäcker an jene Zeit, da Deutschland moralisch versank im braunen Abgrund. Und Weizsäcker hielt vielen Deutschen den Spiegel vor, vor allem jenen, die tatenlos zu- oder weggeschaut hätten, als Juden abgeführt wurden, die applaudiert hätten, als Juden in der Nacht vom 9. auf den 10. November verhöhnt, bespuckt, verprügelt, ja ermordet worden seien.
Und heute? Sitzt die rechtsextreme AfD in allen deutschen Parlamenten und im Europa-Parlament. Und denkt ein CDU-Politiker wie der Thüringer Mike Mohring darüber nach, wie man diese AfD in politische Verantwortung nehmen könne, jene Partei, deren Ehrenvorsitzender Gauland die Verbrechen der Nazis als einen „Vogelschiss“ bezeichnet hat im Gesamtrahmen der angeblich so großen deutschen Geschichte. Und deren Thüringer AfD-Chef Höcke das Denkmal für die 6 Millionen ermordeten Juden in der Nähe des Brandenburger Tores als eine Schande bezeichnet hatte. Übrigens haben einige Scheinfelder Demokraten Niklas Frank bedeutet, so schreibt er selbst in seinem Buch, „lieber nicht ihr Städtchen zu besuchen.“ Scheinfeld sei inzwischen eine Hochburg der AfD. „Der Schoß ist fruchtbar noch“, zitiert der Scheinfelder Bürger Klaus L. Bert Brecht und fügt hinzu: „Man muss ihn korrigieren. Der Schoß ist sehr gebärfreudig.“
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