Es ist nicht trivial, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Deutschland, dass die Menschen in Deutschland vor einer der größten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stehen. Und sie stehen nicht allein vor diesen Herausforderungen, sondern mit ihnen auch die Nachbarinnen und Nachbarn in Europa. Der von Putin begonnene kriegerische Überfall auf die Ukraine und die anhaltende russische Aggression und Zerstörungswut mit Raketen, Panzern und Soldaten gegen die Menschen in der Ukraine, gegen wehrlose Frauen, Kinder und Ältere hat eine Zeitenwende eingeleitet, die niemand erwartet hat und deren Ende nicht absehbar ist. Ja, am schlimmsten trifft es die Menschen in der Ukraine. Sie müssen die unbändige Brutalität der russischen Gewalttaten erleiden und aushalten, sie werden körperlich und seelisch verletzt, sie werden ermordet, viele können fliehen, auch nach Deutschland. Diesen Menschen gilt ungebrochen unsere Solidarität, unsere Hilfe, unsere Unterstützung – humanitär, finanziell und auch militärisch, denn sie kämpfen aufopferungsvoll für ihr Land, für Freiheit und Selbstbestimmung, für die Souveränität der Ukraine. Und deshalb bleibt richtig, was die demokratischen Länder sich als gemeinsames Ziel vorgegeben haben: Putins Aggression, Russlands Krieg gegen die Ukraine darf am Ende nicht erfolgreich sein!
Vor diesem Hintergrund muss die Lage in Deutschland genau betrachtet, analysiert und bewertet werden. Inzwischen wird jedenfalls immer deutlicher, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Abwehrsanktionen der Europäischen Union zusammen mit den USA und Kanada gegen Russland in Verbindung mit den russischen Lieferstopps bei Gas und Öl nach Europa und Deutschland Folgen haben. Der Internationale Währungsfonds sagt eine globale Rezession voraus, Bundeswirtschaftsminister Habeck sieht eine Rezession auch auf Deutschland zukommen. Keine guten Aussichten also, die besonders jene Lügen strafen, die noch im Frühjahr selbst bei einem deutschen Gasembargo meinten, das sei wirtschaftlich verkraftbar. Dennoch gibt es für Panik keinen Grund. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben bisher jedenfalls die notwendigen politischen Entscheidungen getroffen, um Land und Leute gegen Inflation und Energieknappheit zu schützen.
Selbstverständlich gibt es in diesem Zusammenhang auch Diskussionen in der Bundesregierung und in den Koalitionsfraktionen über die Zielgenauigkeit einzelner Maßnahmen, auch kontroverse – wie sollte es auch anders sein in einer solchen außergewöhnlichen Situation, die in keinem politischen Drehbuch vorkommt. Aber in einem ist sich die Koalition einig: Es braucht finanzielle Hilfe und Unterstützung für Unternehmen und Privathaushalte, also für Betriebe und für Menschen. Deshalb sollten die finanziellen Entlastungspakete der Bundesregierung nicht geringgeschätzt werden. Sie sind schon enorm – sowohl in der Geschwindigkeit ihres Zustandekommens als auch in der Höhe ihres Volumens. Hier beweist die sogenannte Ampel-Koalition Standfestigkeit und Nervenstärke, denn die Öffentlichkeit ist ja angesichts der übergroßen Herausforderungen durch Putins Angriffskrieg, Inflation, Energiekrise und die längst noch nicht überwundene Corona-Pandemie aufgewühlt, verunsichert und hochgradig nervös. Es ist doch verständlich, dass den Menschen in dieser Situation politische Entscheidungen und finanzielle Hilfen nicht schnell genug erfolgen. Auch deshalb ist es gut, dass mit Olaf Scholz ein Bundeskanzler agiert, dem die gründliche Vorbereitung politischer Entscheidungen wichtiger ist als die schnelle Schlagzeile. Und der sich auch von medialer Herabsetzung und persönlichen Angriffen nicht aus der Ruhe und dem politischen Gleichgewicht bringen lässt. Dabei ist hilfreich, dass er sich in der Regierung auch und besonders auf die beiden wichtigen Minister Robert Habeck und Christian Lindner verlassen kann, dass sie ihn trotz aller Unterschiedlichkeit in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen unterstützen und gemeinsame Entscheidungen voranbringen. Die Ampel-Regierung funktioniert jedenfalls weitaus besser als ihre Kritikerinnen und Kritiker sich selbst eingestehen wollen. Und sie ist stabil, trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Auffassungen innerhalb der Regierung vor dem Zustandekommen gemeinsamer politischer Entscheidungen. Deshalb sollte niemand voreilige Schlüsse über den Zusammenhalt der Koalition auch nach der letzten Landtagswahl in Niedersachsen ziehen.
Selbstverständlich sind die Ergebnisse der Landtagswahlen in diesem Jahr für die Koalitionäre nicht immer erfreulich gewesen. Mal hat es die SPD empfindlich getroffen, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen besonders, oft ist die FDP unter die Wahlräder gekommen und im Saarland und jetzt in Niedersachsen noch nicht einmal in den Landtag eingezogen. Und auch die grünen Bäume sind nicht in den Himmel gewachsen. Das nervt selbstverständlich vor allem in den jeweiligen Parteien, aber mit dem Bestand der Ampel-Koalition hat es nichts zu tun. Das Beste, was SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP jetzt leisten können, um die Menschen zu überzeugen und in Sicherheit zu wiegen, ist gut zu regieren. Die Weichen haben sie selbst gestellt, jetzt muss alles in Regierungshandeln umgesetzt werden. Rasch. Dabei kommt es auf die Koalitionsfraktionen an. Je weniger die sich mit sich selbst beschäftigen und je mehr sie sich auf die Sache konzentrieren, umso schneller werden die Hilfen in den Betrieben und bei den Menschen ankommen. Das wäre schon die halbe Miete für mehr öffentliche Zustimmung, die allen drei Parteien zugutekommen würde.
Nach wie vor ist die Grundanlage dieser Ampel-Koalition gut geeignet, um Land und Leute auch durch schwere Gewässer zu steuern und ans sichere Ufer zu bringen. Und diese Grundanlage ergibt sich aus den jeweiligen politischen Kernkompetenzen der drei Partei, ihren sogenannten Markenkernen. Die sind im Koalitionsvertrag unter der Überschrift, „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, zusammengefasst. Auch wenn das etwas gewagt anmutet, aber gerade in dieser schwierigen Lage für Deutschland und Europa mit den übergroßen Herausforderungen für heute und morgen, die zu Beginn der Koalitionsregierung überhaupt nicht abzusehen waren, gerade jetzt ist diese Überschrift eine politische Handlungslinie, die passt und Mut macht. Sie muss nur gelebt werden und sollte deshalb Ansporn für die Koalitionäre sein, ihre politischen Grundüberzeugungen, ihre Markenkerne in die gemeinsamen Entscheidungen einzubringen. Nicht gegeneinander, sondern miteinander. Darin liegt jedenfalls ein fruchtbares Feld.
In Krisenzeiten neigen die Menschen dazu, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Heute heißt das für die meisten Menschen, für die große soziale Mitte, für sich und ihre Familien, ihre Nächsten, wirtschaftlich und sozial über die Runden zu kommen und Perspektiven für die Zukunft erkennen zu können. Das zu organisieren, ist Auftrag der Ampel-Koalition. Dabei ist die wirtschaftliche und finanzpolitische Kompetenz der FDP genauso gefragt und wichtig wie die ökologische und gesellschaftspolitische Kompetenz der Grünen und die industriepolitische und soziale Kompetenz der SPD, um nur wenige Kernpunkte zu nennen. Diese politische Kombination der drei Parteien bildet das breite Bündnis der Vernunft und Verantwortung in Deutschland, das die große politische, wirtschaftliche und soziale Mitte der Gesellschaft erreicht, umfasst und repräsentiert. Und dieses Bündnis garantiert für alle drei Koalitionsparteien, dass sie klar erkennbar, unterscheidbar und für die Menschen erfahrbar bleiben. Für andere ist deshalb nur noch wenig Platz, die Unionsparteien ahnen das. Für die Koalition gilt deshalb: Jetzt hilft nicht das Beharren auf Grundüberzeugungen, sondern diese müssen zusammengebracht und in fruchtbare Kompromisse gefasst werden, damit bleiben die Grundüberzeugungen auch sichtbar. Insofern sind die Koalitionäre aufeinander angewiesen, sie brauchen sich gegenseitig mit ihren Unterschieden, mit ihren verschiedenartigen politischen Profilen. Das macht ja den Reiz dieser ungewöhnlichen Koalition aus, das macht sie übrigens auch immun gegen die politische Opposition. CDU und CSU, Merz und Söder arbeiten sich doch deshalb so draufgängerisch an der Ampel-Koalition und besonders an der FDP ab, weil sie längst begriffen haben, dass diese Ampel gerade mit der FDP zukunftsfähig und zukunftsfest ist. Gegen Scholz, Habeck und Lindner wirken Merz und Söder jedenfalls wie Politiker von gestern und vorgestern.