Für Helmut Schmidt war das Maß voll. Düster vertraute er seinen engsten Mitarbeitern am Abend des 7. September 1982 im Kanzleramt an: „Ich habe diese Wackelpartei satt.“ Wie satt, das konnten Kanzleramtschef Gerhard Konow und Regierungssprecher Klaus Bölling einem Redeentwurf entnehmen, an dem der Kanzler am Wochenende in seinem Haus in Hamburg gefeilt hatte. Er hatte sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Seinen für den 9. September vorgesehenen „Bericht zur Lage der Nation“ wollte er nutzen, um nicht nur als Kanzler über die großen außen- und innenpolitischen Themen der Republik zu reden. Dann wollte er in einem persönlichen Teil als Sozialdemokrat den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl und damit auch – ohne ihn zu erwähnen – den FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher auffordern, endlich die Karten auf den Tisch zu legen und ein konstruktives Misstrauen zu beantragen. Er, Schmidt, klebe nicht am Amt, aber einfach nur zurücktreten werde er nicht. „Ja, Herr Kohl, Sie wollen ran, das habe ich verstanden, aber was sie dann machen wollen, wissen Sie nicht“, schmetterte er dem Oppositionsführer in der Debatte entgegen.
Schmidt hatte lange zugeschaut. Seit Wochen waberten Gerüchte in Bonn, Genscher sei zum Springen bereit, sehe keine Gemeinsamkeiten mehr mit der SPD. Doch gegenüber dem Kanzler war er ausweichend und hinhaltend. Genscher wisse wohl nicht, was er wollen will, lästerte Schmidt.
Viel klarer formulierte das Regierungssprecher Klaus Bölling. In seinem Tagebuch über die letzten Wochen der sozialliberalen Koalition, nach dem Bruch im Spiegel veröffentlicht, war er sich sicher, dass Genscher längst auf der anderen Seite war, sich aber mit der Entscheidung über die Landtagswahlen am 26. September in Hessen retten wollte. „ … an der Entschlossenheit Genschers, nach dem dritten Hahnenschrei (gemeint war die Hessenwahl) den Verrat zu vollziehen“, gab es für ihn keinen Zweifel.
Das Scheidungspapier des Grafen
Die Lage der FDP war prekär. Im Frühjahr war sie an der Fünf-Prozent-Klausel in Hamburg gescheitert. In Hessen versuchte sie sich als möglicher Partner des CDU-Spitzenkandidaten Alfred Dregger über die Runden zu retten. Genau auf dieses Kalkül wollte sich Schmidt nicht länger einlassen.
Bei einem Frühstück der SPD-Minister am 15. September fragte er die Runde rhetorisch: „Wollen wir uns weiter in die Wäsche treten lassen?“ Er wollte es nicht. Den letzten Anlass für seine Entschlossenheit hatte der FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff geliefert. In seinem „Scheidungspapier“ hatte der am 9. September für die Sozialdemokraten unannehmbare Forderungen „zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ formuliert. Forderungen, die so überzogen waren, dass sie selbst in der eigenen Fraktion und in der CDU nicht akzeptabel erschienen.
Was den Grafen ritt, in dieser angespannten Situation der sozialliberalen Koalition Öl ins Feuer zu gießen, war vielen Freidemokraten, die um den Fortbestand des Bündnisses fürchteten, ein Rätsel. Dass es ihm dabei einzig um die prekäre wirtschaftliche Lage Deutschlands ging, daran gab es bei einigen Zweifel. Die Inszenierung als hehrer Retter der deutschen Unternehmen sollte ein ebenso wichtiges, sehr persönliches Motiv verschleiern, warum er raus wollte aus der sozialliberalen Koalition.
Ingrid Matthäus-Maier, als FDP-Abgeordnete Vorsitzende des Finanzausschusses, hatte daran keine Zweifel. „Der hatte auch noch einen anderen Grund, den die meisten nicht kennen, der auch in der Geschichte wenig vorkommt: Lambsdorff war verstrickt in Steuerhinterziehung, nicht zu seinen persönlichen Gunsten, aber wegen der Parteienfinanzierung. Und er hat schon versucht, bei Willy Brandt eine Amnestie zu bekommen, hat er aber nicht gekriegt mit der SPD. Und da hat er gehofft, dass Helmut Kohl das macht. Der hat es aber auch nicht gemacht, so dass 1983 die Immunität aufgehoben wurde, und er wurde vom Landgericht Bonn verurteilt und trat dann zurück.“ So schilderte Matthäus-Maier Jahre später im Deutschlandfunk ihre Sicht.
Obwohl sie entschiedene Gegnerin des Lambsdorff-Kurses war, respektierte sie seine Offenheit. Ganz im Gegenteil zu dem Taktieren von FDP-Chef Genscher. Nie hat sie ihm verziehen, dass er Partei und Fraktion über seine Absichten im Unklaren ließ. Sie fühlte sich von ihm betrogen, als sie ihn nach seinen Absichten, die Koalition zu verlassen, fragte und als Antwort erhielt: „Frau Matthäus-Maier, das würde ich Ihnen doch sofort sagen.“ Ihr Resümee: „Eine glatte Lüge.“ Und ihre Konsequenz: „Deswegen war mein Verhältnis bis zu seinem Tod ein Non-Verhältnis, wir haben uns nie mehr begrüßt, nie mehr gesprochen, ich habe ihm nie mehr die Hand gegeben, ich habe tiefen Groll damals empfunden – der hat das hinter unserem Rücken gemacht.“
Vielleicht sogar hinter seinem eigenen Rücken. Jedenfalls nach der Einschätzung von Helmut Schmidt, der die Wackelei seines Vizekanzlers nur noch zynisch kommentierte. Der wisse wohl nicht, was er wollen will.
Willy Brandt tief betroffen
Schmidt wusste es wohl. Am 17. September wollte er im Bundestag die Koalition beenden, Kohl zu einem Misstrauensvotum auffordern und Neuwahlen ins Gespräch bringen. Eine Entscheidung, die der Parteivorsitzende Willy Brandt akzeptierte, aber doch „tief betroffen“ war von der Entscheidung des Kanzlers. Auch Parteivize Johannes Rau oder Kabinettsmitglieder wie der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, waren von den Absichten nicht begeistert. Lieber noch ein „paar Kröten schlucken“ riet der Chef der konservativen „Kanalarbeiter“ Franke.
Erst kurz vor seiner Rede gibt Helmut Schmidt Genscher den Text. Dessen Reaktion, dass die FDP-Minister damit ihren Rücktritt anbieten müssten, berührt den Kanzler laut Bölling emotional nicht mehr. Das Kapitel ist für ihn abgeschlossen. „Oft schon war es kühl bis eiskalt, wenn die beiden aufeinander trafen“, schrieb Klaus Bölling in seinem Tagebuch. „Jetzt, kurz nach 10 Uhr, ist im Büro des Kanzlers im Bundeshaus nur noch grenzenlose Fremdheit. Die beiden werden sich sobald, vielleicht niemals wieder etwas zu sagen haben.“
Der Auftritt des Kanzlers ist beeindruckend. Nicht nur die eigene Fraktion im Plenum zieht er in Bann. Draußen im Land spüren und betrauern viele, dass eine Aera zuende geht. Spontan telegraphiert der Schriftsteller Heinrich Böll, nicht gerade ein Freund der Schmidtschen Nachrüstungspolitik: „dank fuer und glueckwunsch zu ihrer rede annemarie und heinrich boell“
Die Rede sei „meisterhaft“ gewesen, lobten die Genossen ihren Kanzler, den viele von ihnen in den letzten Wochen und Monaten wegen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen heftig kritisiert hatten.
Das Ende war da. Aber zur Trauer blieb keine Zeit. Schon zwei Tage später, am 19. September, tagte der Parteirat in Bonn. Erste Überlegungen für die Zukunft standen im Raum. Herbert Wehner, der schon kranke Fraktionsvorsitzende, bot Schmidt an, seine Nachfolge in der Fraktion zu übernehmen. Der lehnte nach kurzem Überlegen ab.
Der weitere Verlauf ist bekannt. CDU und Teile der FDP sprachen Helmut Schmidt am 1. Oktober das Misstrauen aus. Kohl wurde Kanzler. Neuwahlen am 6. März 1983 bestätigten die neue Koalition. Und Helmut Kohl rief großspurig eine „geistig-moralische Wende“ aus.