Die Emotionalisierung und symbolisch überhöhte Vorwürfe im öffentlichen Diskurs über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nehmen zu. Statt eines „heißen“ Krieges führt der Westen einen „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland. Bewährte politische Überzeugungen und Wertvorstellungen werden dabei einem pragmatischen Opportunismus geopfert. Eine sachliche und differenzierte Debatte über die hinter den Sanktionen stehenden Kernfragen wird durch die allgemeine Empörung, so verständlich sie auch sein mag, verdrängt, ja verhindert:
– Welche Ziele will man eigentlich in diesem Krieg mit den verhängten und ggf. weiteren Sanktionen erreichen?
– Kann man mit den verhängten Sanktionen, den Krieg Russlands gegen die Ukraine beenden oder wenigstens das Leid der Menschen lindern und die Zerstörung ganzer Städte eindämmen?
– Verbauen die Sanktionen nicht langfristige und existenzielle Zielsetzungen, wie etwa die Einhaltung der Pariser Klimaziele, die sozial-ökologische Transformation und eine Sicherheits- und Abrüstungspolitik?
In einem nächsten Teil will ich folgenden Fragen nachgehen:
– Ist der „Wirtschaftskrieg“ zu gewinnen?
– Schaden die Sanktionen Deutschland, Europa und großen Teilen der Welt nicht mehr, als Russland, dem Land gegen das sie gerichtet sind?
– Kann der „Westen“, kann Deutschland die Sanktionen durchhalten?
Die fehlende sachliche Abwägung der ambivalenten Wirkungen der Sanktionen, erzeugt „sozialen Sprengstoff“. Das Freund-Feind-Denken könnte gefährlich eskalieren.
Emotionalisierung und gegenseitige Beschimpfungen
Außenministerin Annalena Baerbock und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell werfen Russland vor, „dass Putin Energie als Waffe einsetzt“. Und der US-Präsident bejahte die Frage, ob er Putin für einen „Killer“ halte .
Vor allem die überwiegende Zahl der deutschen Medien überbietet sich mit Beschimpfungen Putins: „Putin spielt Spielchen“, er nutze „Gas als Waffe für einen Frontalangriff auf die westliche Demokratie“. So oder so ähnlich rauscht es nahezu im gesamten Blätterwald . Putin sei „geisteskrank“ , ihm werden keine noch verhandelbaren Interessen zugebilligt, er wird zum Verbrecher, zum Barbaren, zum „absoluten Feind“ abgestempelt (Konrad Paul Liessmann, Neue Züricher Zeitung v. 20.08.2022, S.21).
Umgekehrt propagieren Putin und seine medialen Helfershelfer ein abschreckendes Feindbild von der Ukraine und vom „Westen“. Da ist von der „Nazi-Ukraine“, von „Entnazifizierung“ oder vom „Völkermord“ an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ost-Ukraine die Rede. Der Westen verkomme „zum Totalitarismus“, im russischen Staatsfernsehen wird Bundeskanzler Olaf Scholz mit Adolf Hitler verglichen.
Die emotional aufgeheizte Debatte verhindert eine nüchterne Abwägung der Reaktionen des Westens auf den russischen Einmarsch in die Ukraine
Die Emotionalisierung in der Debatte hat vielfach die Funktion, die eigene Rat- und Hilflosigkeit zu verdecken. Gegenüber symbolisch überhöhten Aussagen spielen Sachfragen kaum eine Rolle. Gerade weil die politische und mediale Debatte so aufgeheizt ist, scheint es mir erforderlich zwischen moralisierenden politischen Vorwürfen, die aufgrund der Entrüstung über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verständlich sind, und sachlichen Argumenten im Umgang des Westens mit Russland zu trennen. Es gilt über den Krieg, aber auch über das Vorgehen Deutschlands „ohne Schaum vor dem Mund“ zu sprechen. (So etwa Rüdiger Lüdeking, ehemaliger Ständiger Vertreter Deutschlands bei der OSZE.
Die nüchterne Abwägung von Reaktionen des Westens auf den Einmarsch in die Ukraine sollten nicht sofort als Liebedienerei gegenüber Putins autokratischem und expansionistischem Regime diffamiert werden. Ein kriegerischer Konflikt, in den man aus nachvollziehbaren Gründen hineingezogen wurde, sollte nicht dazu führen, dass ohne gründliche Sachdebatte bewährte politische Überzeugungen und Wertvorstellungen über Nacht einem pragmatischen Opportunismus geopfert werden.
Gute Lösungen entstehen nicht im Hinterherrennen hinter einem durch Vorverurteilungen eingeengten Meinungskanon, sondern durch Widerspruch und die Bereitschaft, Argumente abzuwägen. (Johannes Varwick, Berliner Zeitung v. 13./14. August 2022, S. 4; Varwick wurde von Botschafter Andrij Melnyk als A…loch beschimpft) Ein halbes Jahr nach dem Einmarsch des russischen Militärs, ist es an der Zeit eine erste Bilanz zu ziehen, denn nicht nur der Krieg in der Ukraine scheint in einem Stellungs- uns Zermürbungskrieg, der täglich zahllose Opfer kostet, festzustecken, sondern auch an der politisch-diplomatischen Front gibt es kaum Bewegung (Tobias Debiel).
Auch Sanktionen stellen Vertragsbrüche dar
Wir müssen „Doppelstandards vermeiden“, schrieb Bundeskanzler Scholz zurecht in der FAZ. Wer sich über Vertragsbrüche Putins bei der Lieferung von Gas echauffiert, darf nicht vergessen, dass durch die inzwischen sieben Sanktionspakete mit fast 9.000 Einzelsanktionen, die die USA, die EU und insgesamt weitere etwa 40 Staaten des Westens verhängt haben, gleichfalls zahlreiche Verträge mit Russland gebrochen wurden. Noch nie zuvor wurden derartig umfangreiche Blockaden gegen ein so großes und vor allem wirtschaftlich so stark in die Weltökonomie eingebundenes Land verhängt.
Ist es nicht widersprüchlich, wenn von westlicher Staaten ein sofortiger Stopp der Gaslieferungen aus Russland gefordert wurde und ein Embargo von Kohle und Öl ausgesprochen wird, gleichzeitig zu erwarten, dass Putin das einfach so hinnimmt und nicht mit Gegenmaßnahmen kontert? (So fragt auch das Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums Jens Südekum)
Obwohl die westlichen Sanktionen nicht nach Art. 39ff. der UN-Charta vom Sicherheitsrat beschlossen wurden, dürften sie im Vergleich zu den Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen durch den russischen Angriffskrieg als verhältnismäßig eingestuft und damit völkerrechtskonform sein. Da das Völkerrecht aber im Wesentlichen auf dem Gewohnheitsrecht beruht, das heißt, seine Kraft dadurch entfaltet, dass sich die Staaten an seine Normen halten, ist es nicht unproblematisch, wenn auf Völkerrechtsverletzungen mit Rechtsverletzungen geantwortet wird.
Messen mit zweierlei Maß
Ist es nicht moralisch fragwürdig, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck, um die Abhängigkeit vom Russengas zu verringern, einen Diener vor dem Emir von Katar und vor den Scheichs der Vereinigten Arabischen Emiraten macht? Staaten die die Bundesregierung ansonsten wegen fehlender Demokratie und deren Herrscher aufgrund von Verletzungen von Menschenrechten anprangert.
Damit die Saudis ein bisschen mehr Öl pumpen, begrüßte Präsident Joe Biden den von ihm nach dem grausamen Khashoggi-Mord als „Schurken“ beschimpften arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman mit jovialem „Faustgruß“. Dabei umgeht Saudi Arabien das westliche Ölembargo und verdoppelte im zweiten Quartal dieses Jahres den Import von russischem Öl auf 48.000 Barrels pro Tag. Dass den Saudis in ihrem grausamen Krieg im Jemen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, hat Biden nicht die Kritik eingebracht, er messe mit zweierlei Maß.
Da unterzeichneten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der dortigen autokratische Präsidenten Ilham Aliyev in Aserbaidschan eine Absichtserklärung, wonach innerhalb von fünf Jahren doppelt so viel Gas im Jahr geliefert werden soll wie bisher. Ein Vereinbarung mit einem Land, das nach allen politischen Indizes zu den unfreiesten, korruptesten und autoritärsten auf der Welt gehört und das vor nicht einmal zwei Jahren gleichfalls einen äußerst brutalen Krieg mit seinem Nachbarland Armenien ausgefochten hat.
Hierzulande gibt es zum Schutz des Trinkwassers ein weitreichendes gesetzliches Verbot zur Gewinnung des u.a. mit Chemikalien aus dem Boden gepresste Fracking-Gases. Dessen ungeachtet macht die Bundesregierung mal eben bis zu 3 Milliarden für schwimmende Flüssiggas-Terminals locker, um das umweltschädliche Gas nun aus den USA, Katar oder Kanada beziehen zu können. Und die Händler machen mit dem Export von US-Gas riesige Gewinne.
Die Debatte um die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken wird plötzlich in einer Weise geführt, als wäre nicht schon über ein halbes Jahrhundert in Deutschland um die zivile Nutzung der Kernenergie gestritten worden, als hätte es nie ein Fukushima gegeben und als wäre das Problem der Endlagerung des Atommülls gelöst. (Siehe zum Einsatz der Kernenergie die Warnungen der ehemaligen Chefs der staatlichen Behörden für Atomaufsicht.)
Es werden die umweltbelastenden Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt und langfristige Gasverträge geschlossen, die eine Transformation der Energieerzeugung auf erneuerbare Energien um Jahre zurückwerfen.
Der Landwirtschaftsminister gibt die für den Arten- und Umweltschutz stillgelegten Flächen für den Anbau von zusätzlichem Getreide und von Hülsenfrüchten frei.
Das Aufgeben bewährter und lange umkämpfter politischer Überzeugungen scheint zum allgemeinen Politikstil zu werden, wenn es gegen Putin geht. Welche Folgen das für das eigene Land hat, ob damit die gewünschten Wirkungen erzielt werden und in welche neuen Abhängigkeiten man sich begibt – im Handeln wie im Denken – darauf scheint es nicht mehr anzukommen.
Ist das wirklich eine vernünftige Politik?
Können die Sanktionen dazu beitragen, den Krieg zu beenden und weiteres menschliches Leid und materielle Zerstörung zu verhindern?
Zu einer sachlichen Diskussion gehörte die Grundfrage, ob die Sanktionen dazu beitragen können, den Krieg zu beenden und weiteres menschliches Leid, Tod und materielle Zerstörung zu verhindern – einen Krieg, der laut UN Hochkommissariat für Menschenrechte seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine den Tod von mindestens 5.587 Zivilisten und mehr als 7.980 Verletzte gekostet und 13 Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, wovon über 10 Millionen (vorübergehend) ihr Land verlassen haben.
In der jüngeren Geschichte haben Sanktionen jedenfalls nie einen Krieg verhindert oder beendet. Ob Sanktionen nach dem Zweiten Weltkrieg jemals zu einem Regime-Wechsel geführt haben, ist umstritten. Ob sie zum Zusammenbruch des Apartheid-Regimes in Südafrika geführt haben, wird bezweifelt. Im Irak haben die Sanktionen in der Bevölkerung eher Trotzreaktionen ausgelösst. Die seit 1979 gegen den Iran verhängten Sanktionen haben nicht zur Entmachtung das Mullah-Regimes geführt. Die Schwächung der Wirtschaft eines gegnerischen Landes durch Sanktionen, schwächt nicht unbedingt auch das jeweilige politische Regime, das lässt sich in Syrien oder in Nordkorea beobachten.
Es hat sich jedenfalls erwiesen, dass die schon ab dem Jahr 2014 massiven Sanktionen, die nach der Annexion der Krim durch die russische Föderation von der EU, den USA und andere Staaten verhängt wurden, Putin nicht gehindert haben, einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun zu brechen. Auch die Androhung von „massiven Konsequenzen und hohen Kosten“ schon auf dem EU-Gipfel im Dezember 2021 als Reaktion auf den damaligen russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze, konnten den Einmarsch nicht unterbinden.
Nebenbei bemerkt: Auch die Lieferung von militärischem Gerät und die Unterstützung bei der Ausbildung der ukrainischen Armee vor allem durch die USA und Großbritannien seit vielen Jahren haben diesen Krieg nicht verhindert. (Jürgen Trittin in der FAZ v. 18.08.2022 S. 2) Allein die USA sollen seit 2014 bis Kriegsbeginn rund 2,5 Milliarden für militärisches Gerät und die Ausbildung von ukrainischen Soldaten bereitgestellt haben.
Die bisherigen Sanktionsrunden des „Westens“ folgen der Logik, dass eine Verschärfung der Strafmaßnahmen Putin zu einer Verhaltensänderung führen könnte und dass der wirtschaftliche Schaden nur hoch genug ausfallen müsse, um Putin zu einer Änderung seines Verhaltens zu zwingen. Weitere Sanktionsmaßnahmen sind in der Europäischen Kommission in Planung. Die Erwartung ist, dass mittel- oder langfristig die russische Volkswirtschaft schwer geschädigt wird und Putin auf Dauer die Ressourcen für militärische Aus- und Aufrüstung und kriegerische Interventionen fehlen werden.
Das hieße allerdings, dass das Töten und die Zerstörung auf nicht absehbare Zeit anhalten werden.
Signale dafür, dass Putin in die Knie gezwungen werden könnte, sind bis jetzt nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Manche Kritiker befürchten, dass die vom Westen verhängten Sanktionen, weil diese eben auch breite und unbeteiligte Kreise der Bevölkerung in Form von Konsumverlusten oder Arbeitslosigkeit treffen eher zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den Kriegsherren im Kreml führten und sogar eine Wagenburgmentalität verbreiteten. So meint etwa die Enkelin von Nikita Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, die als Professorin für Internationale Politik in New York lehrt und nach eigenen Worten eine Gegnerin Putins ist: „Disney, Microsoft, McDonald’s – alle verlassen Russland. Es ist genauso, wie Putin sagt: Der Westen will uns an den Kragen. Und diese Botschaft ist jetzt viel wirkungsvoller geworden, weil die Russen es mit eigenen Augen sehen…(aber) Putin geht nicht zu McDonald`s, Putin nutzt kein Instagram“.
Es mag vereinzelt offenen Widerstand geben, der jedoch, wo immer die russischen Sicherheitskräfte Zugriff haben, brutal unterdrückt wird, wie die Verhaftung des früheren Bürgermeisters von Jekaterinburg zeigt. Es gibt zwar keine verlässlichen Stimmungsbilder in der russischen Bevölkerung, aber derzeit scheinen dreiviertel der Russinnen und Russen vollständig oder weitgehend hinter der sogenannten „militärischen Operation“ zu stehen. Ein Ergebnis das allerdings angesichts der totalen Zensur, der Schließung von unabhängigen Zeitungen und Fernsehsender und massiver staatlicher Repressionen gegen Oppositionelle nicht erstaunt. 16.000 Menschen, die sich öffentlich gegen den Krieg eingesetzt haben, wurden inzwischen verhaftet. Es handle sich aber weniger um echte Unterstützung als um fehlenden Widerstand, sagt Lew Gudkow wissenschaftlicher Leiter des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland (FAS v. 04.09.2022 S. 2). Aber immerhin, sind immer noch 30 Prozent der Russen für eine Beendigung des Krieges.
Es gibt Stimmen, die befürchten, dass Putin die Sanktionen als Vorwand für eine Verschärfung des Krieges, bis hin zum Einsatz von Atomwaffen nutzen könnte.
Angesichts der bislang nicht ausmachbaren Wirkung wird auf westlicher Seite zunehmend auf die symbolische Bedeutung der Sanktionen hingewiesen. Sie werden pathetisch als Zeichen der Verurteilung des Einmarsches, als Signal der Geschlossenheit bzw. Einigkeit, als „Preis für unsere Freiheit“ (wie Emmanuel Macron sie pathetisch beschrieb) und für die Festigung der Werte von Menschlichkeit, Freiheit, Demokratie und der Herrschaft des Rechts hochgeredet. Sie sollen andere Staaten davon abhalten Russland zu offensichtlich zu unterstützen und damit auch zur politischen Isolation der russischen Föderation in der Welt beitragen.
Die Frage wird sein, ob mit solchen symbolträchtigen Begründungen für die Sanktionen die einheimische Bevölkerung überzeugt werden kann, die Opfer und die Kosten dauerhaft hinzunehmen. Noch unterstützt die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland die Sanktionspolitik auch dann, wenn es hierzulande zu Engpässen in der Energieversorgung kommt, wenn deutsche Unternehmen Nachteile erleiden oder die Lebenshaltungskosten steigen, die Unterstützung für diese Meinungen nimmt allerdings deutlich ab. Im Osten Deutschlands ist Einschätzung anders als im Westen, in den neuen Bundesländern finden die Sanktionen bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung keine Unterstützung.
Die Frage wird sein, ob es bei der Zustimmung zur Sanktionspolitik bleibt, wenn es im Winter tatsächlich zu einschneidenden Einsparmaßnahmen kommen sollte und die Bürger ihre Energierechnungen auf dem Tisch liegen haben und Deutschland – wie der Ökonom des gewerkschaftlichen IMK, Sebastian Dullien, befürchtet – auf einen „gigantischen makroökonomischen Schock“ zusteuern sollte.
Geopolitische oder friedenspolitische Zielsetzung der Sanktionen?
Unschwer ist zu erkennen, dass sowohl mit Waffenlieferungen als auch mit den Sanktionen zwei fundamental unterschiedliche Ziele verfolgt werden könnten. Da lässt sich eine geopolitische Zielsetzung von einer friedenspolitischen Strategie unterscheiden. (Joachim Becker, Sanktionen gegen Russland – Strategien und globale Implikationen, in Z – Nr.130 v. Juni 2022, S. 36ff.)
Ziele einer geopolitischen Strategie
1. Die Sanktionen sollen Russland „ruinieren“, so dass „es volkswirtschaftlich jahrelang nicht mehr auf die Beine kommt“, wie Außenministerin Annalena Baerbock drohte.
2. Die Sanktionen sollen Russland derart schwächen, „dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist“, wie es der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin ausplauderte.
3. Die Sanktionen sollen der Aufrechterhaltung einer von den USA bestimmten „unipolaren Ordnung“ dienen und der dazu notwendigen Zurückdrängung des russischen Einflusses auf die Weltpolitik sowie zur Konzentration der Kräfte des Westens auf den Systemgegner China.
4. Die Sanktionen sollen zu einem Regime-Change führen, Putin aus der Macht zu drängen, weil man mit ihm nicht verhandeln könne, da dieser – wie der Krieg in der Ukraine beweise – sich nicht an Vereinbarungen hält. „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, verplapperte sich US-Präsident Joe Biden im März bei einem Besuch in Polen und deutete einen Regime-Change an.
5. Die Sanktionen sollen den „Frankenstein-Imperialismus der Sowjetunion und der Zarenzeit“ – so die polnische Politikprofessorin Agnieszka Legucka – aufhalten, wonach – wie das der frühere russische Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew in einem inzwischen gelöschten Telegram-Beitrag als Kriegsziel ausgegeben hat – „der fatale Fehler der frühen 90er Jahre korrigiert“ werden müsse.
Das mit der geopolitischen Strategie verfolgte Kriegsziel ist verbunden mit einem „Sieg“ der Ukraine und der Wiederherstellung der vollen Souveränität über sämtliche Gebiete, also einschließlich der Krim und der sog. „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, also der Wiederherstellung des Status vor dem Frühling 2014. So muss man wohl den amerikanischen Verteidigungsminister Austin und seinen Amtskollegen Außenminister Blinken oder den ehemalige Direktor der CIA David Petraeus verstehen. Auch der ukrainische Präsident Selenskij gab bei der zweiten Krim-Konferenz am 23. August und tags darauf am Unabhängigkeitstag der Ukraine das Ziel aus, alle besetzten Gebiete einschließlich der von Russland annektierten Halbinsel zurückholen.
https://www.n-tv.de/politik/Selenskyj-Countdown-fuer-Rueckholung-laeuft-article22758971.html.
Aus einer friedenspolitischen Perspektive der Sanktionen ergeben sich folgende Fragen
– Will man mit den Sanktionen die Kriegsführung Russlands erschweren, um damit den Weg zu einer möglichst raschen politischen Konfliktlösung zu ebnen?
– Will man Russland Sanktionserleichterungen in Aussicht stellen, wenn es sich zu einem Waffenstillstand und zu einem möglicherweise darauffolgenden Friedensvertrag bereit erklärt?
– Wer könnte ausloten, ob es stimmt was Alt-Kanzler Schröder nach seinem Treffen mit Putin dem stern gesagt hat, dass im Kreml „eine Verhandlungslösung gewollt wird“ (stern v. 4.8.22, S. 22ff.)? Russland sei „durchaus bereit“ zu einer diplomatischen Beilegung des „Problems“, antwortete Kremlsprecher Dmitri Peskow auf eine entsprechende Nachfrage in Moskau, wie unter anderem die russische Zeitung „Kommersant“ berichtet. Allerdings werde Moskau ein Abkommen nur zu seinen eigenen Bedingungen abschließen, sagte er weiter.
– Wie könnte ein Friedensvertrag und eine Sicherheitsstrategie aussehen? Würde die Ukraine (wie bei den Verhandlungen in Istanbul im März dieses Jahres angedeutet) den Status von nach 2014 akzeptieren, dass also auf absehbare Zeit keinen Anspruch auf die Krim erhoben wird und Verhandlungen über den Status der autonomen Republiken Luhansk und Donezk im Osten akzeptiert würden (also ähnlich wie im Minsker Abkommen von 2015 vorgesehen)? Wäre es möglich, dass dieser Krieg „eingefroren“ (so Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer) werden kann, ähnlich wie in Abchasien (Georgien) oder Transnistrien (Moldau)? Fände der Verzicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO (wie das Selenskij gleichfalls im März, kurz nach Ausbruch des Krieges angedeutet hatte) eine verfassungsändernde Mehrheit in der Ukraine? Wie könnten stabile Sicherheitsgarantien (unterhalb der Schwelle einer NATO-Garantie), durch wen und von wem, gewährleistet werden?
– Wer könnte zwischen Russland und der Ukraine vermitteln? China oder Indien, die sich in der UN-Vollversammlung bei einer Verurteilung Russlands enthalten haben? Die UNO? Die inzwischen weitgehend an den Rand gedrängte OSZE? Die USA? Erdogan, wie etwa bei den Getreidetransporten durchs Schwarze Meer?
– Müsste nicht weit über die militärische Friedenssicherung in der Ukraine hinausgedacht werden und etwa die künftige Rolle Russlands bei der Bekämpfung des Klimawandels und bei der Bewältigung der sozial-ökologischen Wende, bei der Verhinderung eines weltweiten Rüstungswettlaufs bzw. bei einer weltweit kontrollierten Abrüstung oder bei einer Ächtung von Atomwaffen (wie deren Schreckenspotential durch den Ukraine-Krieg wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde) mit ins politische Kalkül gezogen werden? (So etwa in der Erklärung des DGB zum Antikriegstag am 1. September 2022)
Es wäre falsch, zu meinen, dass es einfach nur eines diplomatischen Vorstoßes bedürfe, um einen Friedensprozess einzuleiten. Damit würde man die Dynamik, die dieser Krieg ausgelöst hat, naiv und voluntaristisch unterschätzen. Aber angesichts sowohl der militärischen als auch der diplomatischen Blockade wird es früher oder später unumgänglich sein, auf politischer Ebene wieder Bewegung in Richtung auf eine Lösung dieses kriegerischen Konfliktes zu bringen. Verhandeln heißt ja nicht kapitulieren und dass mit Russland Absprachen möglich sind zeigen die Verhandlungen über die Getreideexporte. Immerhin sind 77 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass der Westen sich bemühen sollte, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges einzuleiten.
Doch worüber will man verhandeln, wenn man sich nicht einmal einig ist, was man erreichen will?
In einem zweiten Teil zu diesem Beitrag wird die Frage gestellt: Ist der „Wirtschaftskrieg“ zu gewinnen? Wie wirken die Sanktionen auf Russland und auf uns selbst? Das Fehlen einer ernsthaften Sachdebatte ist politisch brandgefährlich