Welch ein Wahnsinn. Seit Wochen steht in der Ukraine das größte Atomkraftwerk Europas unter Beschuss. Die Kriegspropaganda von allen Seiten lässt eine zweifelsfreie Klärung der gegenseitigen Vorwürfe nicht zu. Die Gefahr eines Super-GAUs lodert. Jetzt kündigt die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) eine Expertenmission nach Saporischschja an. IAEA-Chef Rafael Grossi twittert, er werde sie persönlich leiten, und: „Wir müssen die Sicherheit der größten Nuklearanlage der Ukraine und Europas schützen.“
Es wird höchste Zeit, und eine Inspektion allein kann die Besorgnis nicht ausräumen. Erinnerungen an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl werden wach. Die weitreichenden und bis heute nicht überwundenen Folgen des Größten Anzunehmenden Unfalls (GAU) in der zivilen Nutzung der Atomenergie mahnen. Doch im Krieg geht jedes Verantwortungsbewusstsein verloren, Appelle bewirken nichts. Die Verbreitung des größten anzunehmenden Schreckens gehört zum kriegerischen Kalkül.
Das ist brandgefährlich und kann schnell außer Kontrolle geraten. Berechnungen, denen zufolge die Reaktorblöcke des von russischen Soldaten besetzten AKW einem Raketenbeschuss standhalten können, sind wenig hilfreich; sie lassen die akute Gefahr einer Kernschmelze außer acht. Die droht bereits, wenn die Stromversorgung zur Abkühlung der Brennstäbe ausfällt, und laut – nicht überprüfbaren – ukrainischen Angaben war dieses Szenario in der vorigen Woche extrem nah.
Um ein Kriegsverbrechen handelt es sich bei dem Beschuss von Atomkraftwerken offiziell nicht. Das Völkerrecht schweigt dazu. Aber nicht, weil es die Grausamkeit unterschätzt, sondern schlicht, weil ein Krieg in einem Land mit laufenden Atomreaktoren noch nie dagewesen ist. „Der Beschuss und der Kampf um diese Atomanlagen sind ein Tabubruch“, sagt die Ärzteorganisation IPPNW. „Mit jedem Tag, den die Kämpfe andauern, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer nuklearen Katastrophe kommt.“
Die Vorsitzende der Friedensnobelpreis-Organisation, Angelika Claußen, fordert die Abschaltung aller sechs Reaktorblöcke von Sapaorischschja und erinnert die Uran-Lieferstaaten an ihre Verantwortung. Gemeint sind Deutschland, die Niederlande, Großbritannien und Schweden. IPPNW rufe „die Regierungen der Uran-Lieferstaaten auf, die Kriegsparteien in der Ukraine zusammen mit der UNO unverzüglich an einen Tisch zu holen und eine entmilitarisierte Schutzzone unter internationaler Aufsicht einzurichten.“
Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen bekräftigt den Appell mit scharfer Kritik an den Uran-Lieferstaaten. Sie „haben jahrelang wider besseren Wissens durch die Uranbrennstofflieferungen den Weiterbetrieb des maroden Atomkraftwerks ermöglicht, anstatt der Ukraine beim Ausbau der Erneuerbaren zu helfen.“ Eickhoff fügt hinzu: „Wer den Uranbrennstoff liefert, ist auch für die Folgen des Betriebs mitverantwortlich.“ Die vier Regierungen müssten sich nun „den Folgen ihrer verfehlten Atompolitik stellen und aktiv werden, denn Russland und die Ukraine werden den Atomkonflikt nicht alleine lösen können.“
Zum Hintergrund erläutert IPPNW: Vier der sechs Reaktorblöcke in Saporischschja laufen seit 2016 mit angereichertem Uran des deutsch-niederländisch-britischen Urananreicherers Urenco. Urenco betreibt auch im westfälischen Gronau eine Urananreicherungsanlage. Von Gronau wird regelmäßig Uran zur schwedischen Brennelementefabrik Västeras geliefert. Das angereicherte Uran von Urenco wird in Västeras vom US-Konzern Westinghouse zu Brennelementen verarbeitet und in die Ukraine exportiert. IPPNW, BBU und Anti-Atomkraft-Initiativen haben diesen Uran-Deal schon 2016 scharf kritisiert, weil Saporischschja nahe der umkämpften Region im Donbass lag. Auch zwei Blöcke des AKW Süd-Ukraine werden von Urenco und Westinghouse beliefert. Sie liegen unweit der Kampfzone bei Cherson und Mikolajew.
Saporischschja war auch Thema bei der zehnten UN-Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags in New York. Eine gemeinsame Schlusserklärung, in der auch die atomaren Risiken, die von dem umkämpften Kraftwerk ausgehen, angesprochen werden sollten, kam aufgrund der russischen Verweigerung nicht zustande. Die zuvor mehrfach verschobene Konferenz hatte ursprünglich das Ziel, verbindliche Fristen zum Abbau von Atomwaffen festzuschreiben.
Zum Auftakt der Überprüfungskonferenz hatte UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Welt vor der wachsenden Gefahr einer atomaren Vernichtung gewarnt. Die Welt befinde sich in einer „Zeit nuklearer Gefahr, wie es sie seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat“, sagte er und forderte die Abschaffung aller Atomwaffen. Doch die atomare Aufrüstung schreitet voran und die Erklärung der fünf offiziellen Atomwaffenstaaten USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich von Anfang des Jahres, dass ein Atomkrieg nie gewonnen werden kann und daher nicht geführt werden darf, büßt mit jedem Kriegstag an Glaubwürdigkeit ein.
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