Lisa Paus war auf Sommertour. In Hessen und Nordrhein-Westfalen, in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Ministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend von den Grünen hat sich schöne Projekte angesehen. Sie besuchte unter anderem Bonn und Bocholt, Monheim, Recklinghausen und Duisburg, machte sich ein Bild an der Basis, an Brennpunkten in den Städten, dort, wo Menschen mit viel Engagement der Benachteiligung entgegenwirken.
Es sind nur einzelne Leuchttürme, die herausragen aus der flächendeckenden Misere. Zum Beispiel bei den Kitas. „Gestiegene Arbeitsbelastung, verschlechterte Rahmenbedingungen, mangelhafte Ausstattung sowie anhaltend eklatanter Personalmangel“, lautet das Fazit einer Studie der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Darin kommt die Pädagogin Prof. Dr. Rahel Dreyer zu alarmierenden Erkenntnissen.
Jedes fünfte Kind habe in der Beobachtung deutliche Anzeichen von Anspannung, Teilnahmslosigkeit und Niedergeschlagenheit gezeigt oder sei kaum in sozialen Kontakt mit den Fachkräften oder anderen Kindern getreten. „Seit der Pandemie hat sich die Situation dramatisch verschlechtert“, schildert die Hochschule. „Viele Fachkräfte sind aufgrund der durch Pandemie und Flüchtlingskrise weiter gestiegenen Belastungen emotional wie körperlich am Ende. Auch die Kinder zeigen zum Teil extreme Formen von Unwohlsein. Neben dem Personalmangel sind viele Gruppen überfüllt, was sowohl bei den Kindern als auch Fachkräften den Stresspegel steigen lässt und sichtbar zur Erschöpfung führt.“
Von Verwahrlosung ist die Rede. „Wir sorgen für einen denkbar schlechten Start unserer Kleinsten ins Leben“, sagt Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medical School Hamburg. „Wir übersehen und übergehen die seelischen Bedürfnisse unserer Kinder. Das sind verwahrlosende Tendenzen“. Zum Schaden der Kinder und der Beschäftigten. „Viele stehen kurz vor einem Burnout, sie sind körperlich und emotional am Ende“, sagt Dreyer, die weitere Personalausfälle vorhersagt.
Die Kinder seien – nicht erst seit der Pandemie – Schlusslicht in der gesellschaftlichen Diskussion, kritisieren die Wissenschaftler. „Das Wohl zu vieler Kinder scheint uns derzeit gefährdet“, sagen beide und warnen: „Die Folgen für Kinder, Fachkräfte, Eltern und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie einer wachsenden Bildungslücke insbesondere sozioökonomisch benachteiligter Kinder fast irreparabel.“
Der aktuelle Kita-Bericht des Paritätischen Gesamtverbands bestätigt die Berliner Befunde bundesweit. Er klopft die Versprechen des Gute-Kita-Gesetzes der damaligen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) auf ihre Einlösung in der Praxis ab und sieht noch erheblichen Handlungsbedarf in allen Bereichen.
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, fordert „bei allen weiteren Schritten zur Qualitätsentwicklung die besondere Situation von Kindern in benachteiligten Lebenslagen vorrangig“ zu berücksichtigen. „Denn die Kindertagesbetreuung hat neben dem Auftrag der Bildung und der Betreuung die genauso wichtige Aufgabe des Abbaus von Benachteiligungen.“ Je früher dies in der Biographie eines Menschen gelinge, „desto besser ist das“. Da der Bildungserfolg in wohl keinem anderen westlichen Land so stark von der Herkunft abhängt wie in Deutschland, ist dem nicht zu widersprechen.
Zurück von ihrer Sommertour stellt Ministerin Lisa Paus den Ländern knapp vier Milliarden Euro für die Kindertagesstätten in Aussicht. Dem „Gute-Kita-Gesetz“, das in diesem Jahr ausläuft, soll für weitere zwei Jahre das „Kita-Qualitätsgesetz“ folgen. Mehrere Medien berichten aus dem Entwurf des Ministeriums, den die Deutsche Presseagentur zitiert. Ein erster Kritikpunkt: Die Senkung des Elternbeitrags soll nicht länger aus den Fördergeldern des Bundes finanziert werden dürfen. Das steht im Widerspruch zu den Forderungen des Paritätischen und auch zu der Überzeugung der SPD, dass Bildung von Anfang an beitragsfrei sein soll. Auf die Beratungen in Bundestag und Bundesrat darf man gespannt sein.