Die Überraschung war groß, als die Griechen doch tatsächlich gewählt hatten, was die Entscheider im übrigen Europa so nicht wollten. Dabei hatte man sich doch vor der Wahl klar geäußert, in Berlin und in Brüssel. Griechenland müsse auf Kurs bleiben, die Reformen fortsetzen, es werde keinen Schuldenschnitt geben. Und so weiter. Der eine oder andere ließ sogar ein wenig drohend verlauten, man könne die Griechen notfalls auch aus der Euro-Zone schmeißen. Und dann der Schock: Die Linke gewann die Wahl. Ja, was hatten sich denn die Politiker im übrigen Westen eingebildet?! Hatten sie wirklich geglaubt, die Griechen ließen sich die freie Wahl nehmen? Hat niemand an die Würde der Griechen gedacht, die man durch verbale Einmischungsversuche verletzen könnte, an den Stolz dieses kleinen und ziemlich gebeutelten Volkes?
Gut, die Bildung der Koalition aus der linken Partei Syriza mit der rechtspopulistischen Anel wirkt mehr als gewöhnungsbedürftig. Aber es macht keinen Sinn, darüber zu lamentieren. Die Koalition ist da und mit ihr müssen wir leben. Punkt. Es wird Zeit, dass die Politiker in Brüssel, dass die Kanzlerin und ihre Berater, dass der Bundesfinanzminister und seine Leute mit den Griechen reden und die Griechen mit den deutschen und den anderen europäischen Politikern reden und dass es ein Ende hat, dass man übereinander redet, was nur zu Missverständnissen führen kann. Es wäre hilfreich, wenn Politiker vom Schlage eines CSU-Mannes Söder einfach mal schweigen.
Der Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz, hat erste Erfahrungen mit der neuen griechischen Führung gemacht, er hat mit Regierungschef Tsipras gesprochen. Und siehe da, nachher war die Wortwahl von Schulz moderater als vorher. Er erwartet kontroverse Debatten. Ja warum denn nicht? Politik darf nicht im Schlafwagen gemacht werden, die jeweiligen Wünsche und Vorstellungen müssen auf den Tisch, damit es keine Unklarheiten gibt. Aber zur Politik gehört nun mal der Diskurs, die offene Diskussion von Positionen. Und am Ende muss der Kompromiss stehen, nämlich das, was möglich und nötig ist, ohne anderen zu viel zuzumuten. Wer von vornherein etwas ausschließt, kommt nicht zum Ziel.
Alexander Tsypras will in der EU bleiben, er will im Euro-Raum bleiben und er will keinen Bruch der Europäischen Union mit Moskau. Was ist daran falsch? Die neuen Griechen, so kann man sie vielleicht nennen, treten selbstbewusst auf, schlagen andere Töne an, wollen sich nicht einfach unterwerfen. Hätten wir lieber opportunistische Töne gehört? Mehr Schmeicheleinheiten? Klare Kante kann nicht verkehrt sein. Und was die viel gepriesene Einstimmigkeit der EU angeht: Zweifel sind angebracht, der Chor ist vielstimmig.
Die EU muss Russland helfen
Nehmen wir die Sanktionen gegenüber Russland. Man muss kein Putin-Versteher sein, um Sanktionen grundsätzlich für eine falsche Politik zu halten. Glaubt man wirklich, mit noch so harten Sanktionen Putin kleinzukriegen, vielleicht ihn zu stürzen? Die EU, die Welt muss mit Putin leben, ein Putin, der am Verhandlungstisch sitzt, ist berechenbarer als jener Putin, der im Kreml isoliert Politik macht. Die Folgen der bisherigen Sanktionen haben der russischen Wirtschaft geschadet, der Rubel als Währung schwächelt, er stürzt in die Tiefe, die deutsche Wirtschaft, in Russland sehr aktiv und angesehen, hat Milliarden Verluste.
Wollen wir Russland destabilisieren? Und was wäre dann die Konsequenz? Die EU ist stärker als Russland und hat die Kraft, dem riesigen Land, das unser Nachbar und Teil von Europa ist, zu helfen. Um den Frieden in der Ostukraine, der das Maß aller Dinge sein muss, ist weiter zu verhandeln. Die Kanzlerin und der Außenminister dürfen den dünnen Faden mit Putin nicht abreißen lassen. Beide Seiten haben Fehler gemacht, auch die EU.
Es war ein Armutszeugnis, dass Europa der Befreiung des KZ Auschwitz vor 70 Jahren gedachte und die eigentlicher Retter, die Russen und hier namentlich deren Präsidenten Putin nicht dabei haben wollten. Die Russen hatten im Zweiten Weltkrieg die größten Verluste zu tragen, 27 Millionen Russen fanden den Tod, Zivilisten und Soldaten. Ohne die Rote Armee, wer weiß, wie der Krieg ausgegangen wäre oder wie lange er noch gedauert hätte. Was für eine erbärmliche Geschichtsvergessenheit!
Auch die Reichen sollen zahlen
Tsipras hat angekündigt, er werde das System von Korruption, persönlicher Bereicherung und Vetternwirtschaft in seinem Land bekämpfen, er will ein Steuersystem, das alle zur Kasse bittet, auch die Reichen, auch die Reeder, die ja angeblich gar nichts zahlen, er will die Strukturreformen durchsetzen, vor denen seine Amtsvorgänger in Athen sich gedrückt haben. Sie haben den Karren vor die Wand gefahren, der neue Mann will diesen Karren wieder flott machen. Dazu braucht er Zeit und sicher die Hilfe aus der EU. Es muss eine Politik mit Augenmaß her, die sowohl für Griechenland wie das übrige Europa tragbar ist. Und lassen wir doch erstmal das Gerede von einem Schuldenschnitt, ein Thema, das jetzt nicht aktuell ist.
Es gibt Stimmen aus der Wirtschaft, die sagen, es gehe in der EU auch ohne die Griechen. Klar. Aber wollen wir das, ein Europa ohne Griechenland, der Wiege Europas? Wir brauchen politische Entscheidungen, wir brauchen ein politisches Europa und nicht eine Union, die sich nur als Banken-Union versteht, in der nur mit Zahlen jongliert wird, ohne an die Menschen zu denken. Bisher wurden die Milliarden-Hilfen aus Brüssel den Banken zugeschoben, die Bürger Athens hatten nichts davon. Politiker hier reden hin und wieder leicht davon, welche Reformen man den Griechen abverlangen müsse. Aber sie übersehen dabei, dass dieselben Griechen in der jüngeren Vergangenheit Einkommensverluste von im Schnitt 25 Prozent hatten, sie ignorieren eine Jugendarbeitslosigkeit, die in die Höhe geschossen ist, sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass es in Griechenland anders als in Deutschland eben keine soziale Absicherung gibt, die einen solchen Namen verdient.
Europa muss mehr sein als ein Zusammenschluss, dessen Wert sich allein nach der Höhe des Bruttosozialprodukts errechnet, wir brauchen ein Europa, das es seinen Bürgern ermöglicht, in Würde zu leben. Das gilt für Griechen, Spanier, Franzosen und alle anderen, die in Europa zu Hause sind.