Ist Henry Kissinger ein großer oder „nur“ ein wichtiger Politiker? Auf den Unterschied wies mich ein kundiger Freund hin. Man kann über den 99jährigen einstigen US-Außenminister und Sicherheitsberater von Präsident Nixon vieles sagen, weil er auch vieles gemacht hat und an vielem beteiligt war, nicht nur an guten Sachen. Man nennt ihn einen Strategen, Historiker, einen „Präsenzmeister der Weltpolitik“(SZ), eine Jahrhundert-Gestalt. Und wenn diese Persönlichkeit ein Buch verfasst, hat das natürlich auch einen besonderen Titel: „Staatskunst“ heißt das voluminöse Werk von rund 600 Seiten, im Englischen hat es die ebenso vielsagende Überschrift: „Leadership“. Man sollte es lesen, sich dafür viel Zeit lassen. Egal, wie man zu Kissinger steht, lohnt sich die Lektüre dieser sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert.
Zunächst ein paar Angaben zu seiner Person. Heinz Alfred Kissinger wurde 1923 im fränkischen Fürth geboren. Sein Vater Louis war Lehrer für Geschichte und Geographie am Lyzeum, seine Mutter Paula(geborene Stern) war die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Viehhändlers. Die Familie emigrierte 1938 gerade noch rechtzeitig vor den Nazis nach Amerika. Viele Verwandte der Familie Kissinger und einige seiner Mitschüler wurden von den Nazis in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Kissinger kämpfte während des 2. Weltkriegs in der amerikanischen Army zum Beispiel in der Ardennenoffensive. Nach dem Krieg ging er zurück in die Staaten, studierte in Harvard, wurde dort promoviert. Er wurde Professor für Politikwissenschaft und wurde Nationaler Sicherheitsberater und bis 1977 US-Außenminister. 1973 erhielt er den Friedensnobelpreis.
Weltweit geehrt und umstritten
Kissinger wurde weltweit geehrt und heftig kritisiert, seine und die Politik der Amerikaner in Chile waren mehr als umstritten, der Putsch gegen Allende, dessen Tod und die Ermordung von Tausenden von Chilenen geschah unter den Augen und mit dem Wohlwollen der Amerikaner und von Kissinger. Auch die Vietnam- und Kambodscha-Politik war eine Zeitlang sehr umstritten, bis die Amerikaner sich zurückzogen. Kissinger war ein Gegner der Ostpolitik von Willy Brandt. Albrecht Müller, damals leitender Mitarbeiter des SPD-Kanzlers und heute Chef der Nachdenkseiten, wies kürzlich darauf hin, dass derselbe Kissinger bedauert habe, dass Brandt „kein vorzeitiges, von einer Kehlkopfentzündung verursachtes Ende“ genommen habe. Dem „Spiegel“ war der Inhalt eines brisantes Telefonats aus dem Jahre 1973 zwischen Nixon und Kissinger zu entnehmen. Demnach habe Kissinger Brandt für naiv gehalten und für einen „Trottel“. Was Albrecht Müller zum Urteil führt: „Kissinger ist alles andere als ein ehrenwerter Politiker und Mensch.“ Müller äußerte diese Kritik nach einem Interview im ZDF, geführt von Wulf Schmiese, das dieser mit der eher unterwürfigen Einleitung begonnen hatte: „Hier ist der wohl berühmteste Ex-Außenminister der Welt. Guten Abend, Henry Kissinger.“
Das mit dem berühmtesten Ex-Außenminister der Welt dürfte nicht umstritten sein. Sechs Staatenlenker beschreibt er in seinem Buch: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Eine bunte Mischung, die sich nicht jedem erschließt, ihnen allen ist gemeinsam die Epoche 1914-1945, was der Autor den „zweiten dreißigjährigen Krieg“ nennt. Kissinger hat sie alle persönlich kennengelernt und mit ihnen gesprochen, den Deutschen wie den Franzosen, den Amerikaner, den Ägypter, den Mann aus Singapur, einem Stadtstaat, und die Britin. Bei der Lektüre merkt man, dass er dem französischen General und Präsidenten de Gaulle ein wenig distanziert gegenübersteht. Mir hat dieses Kapitel mit am besten gefallen. Ich muss gestehen, dass ich den Franzosen fast ein wenig bewundere, wie er die Nähe zu Adenauer gesucht und diesen sogar in sein Privathaus eingeladen hat, eine Ehre, die nur der deutsche Kanzler erhielt. Die Distanz de Gaulles zu Kissinger mag daher rühren, dass de Gaulle nicht so sehr ein Transtatlantiker war, sondern ein Europäer.
Thatchers Distanz zu Deutschland
Es stimmt gewiss, dass die ausgewählten Staats-Persönlichkeiten in ihrer Zeit herausragende Figuren waren, auch Margaret Thatcher, die sich mit Helmut Kohl manches Rededuell geliefert hat. Ihre Distanz zu Deutschland mag nicht jedermanns Geschmack sein, ich habe durchaus Verständnis dafür. Sie hatte ihre Gründe und Deutschlands Geschichte ist ja nicht unbedingt immer eine des Friedens und den guten Miteinanders in Europa gewesen. Auch die Briten haben unter Hitler und Konsorten gelitten. Das mit dem Falkland-Krieg geht auf ihre Kappe, wegen ein paar Schafen einen Krieg zu inszenieren, verstehe, wer will.
Mut und Wille zur Tat, Weitsicht, historische Kenntnisse, Tugend, Charakter, Eigenschaften, die Kissinger bei den von ihm ausgewählten Persönlichkeiten ausgemacht haben will, und über die er deshalb schreibt. Seine Politiker waren alle irgendwie etwas autoritär veranlagt oder autokratisch. „Sie erwarteten keinen Konsens und bemühten sich auch nicht darum“, schreibt Kissinger in seinem Buch. Man denke nur an Konrad Adenauer, daran, wie er den am Boden liegenden Staat Deutschland, der keiner mehr war, aufrichtete, völlig zerstört und demoralisiert aufgrund des Jahrhundertverbrechens an den Juden. Ich habe mich oft gewundert, wenn ich KZ-Gedenkstätten wie in Auschwitz besucht habe, dass nach dem Krieg überhaupt jemand aus dem Ausland einem Deutschen die Hand gab. Adenauer ist das gelungen, er war kein Nazi, musste selber eine Zeitlang untertauchen in Maria Laach. Dass der Alte aus Rhöndorf die SPD-Führung durch seinen Geheimdienstchef Gehlen bespitzeln ließ, würde ihm heute zum Verhängnis.
Watergate und Abhörskandal
Historische Figuren nach dem 2. Weltkrieg sind das Thema für einen wie Kissinger. Warum er Richard Nixon in diese Galerie aufgenommen hat, begreif ich nicht und kann auch nicht damit begründet werden, dass Kissinger unter Nixon Außenminister war und dessen Sicherheitsberater. Nixon hat die USA aus dem Vietnam-Krieg geführt und die Ping-Pong-Diplomatie mit China begonnen, aber zu Nixon zählt Watergate und der Abhörskandal, kriminelle Handlungen eines Präsidenten, die er auf den 600 Seiten nur kurz streift. Dabei erwies sich Nixon als machtbesessen und charakterlos und keineswegs als Vorbild für spätere Politiker.
Eine große Persönlichkeit war ohne Frage Anwar el-Sadat, der wahrhaft Historisches geleistet hat. Dass der Ägypter Frieden mit Israel schloss, wird ihm nie vergessen werden. Leider wurde er auch deswegen das Opfer eines Attentäters und leider hat die Region Nahost keinen dauerhaften Frieden gefunden.
Das Buch ist teils sehr aktuell.“Die Invasion der Ukraine im Februar 2022, dieser ungeheuerliche Verstoß gegen das internationale Recht, ist großenteils der Auswuchs eines gescheiterten strategischen oder nur halbherzig geführten Dialogs,“ urteilt der alte Staatsmann und kritisiert damit auch den Westen. Auch wenn Putins Russland, das größte Land der Welt immerhin und bestückt mit Atomwaffen, durch die westlichen Sanktionen geschwächt werde, befähigte Russlands nukleare und Cyber-Kapazitäten das Land weiterhin zu Weltuntergangsszenarien. Dass Kissinger an einer Stelle Margaret Thatcher zitiert, kann kein Zufall sein. „Wir sollten uns nicht über den wahren Charakter der Sowjetunion täuschen“, warnte die britische Premierministerin, „aber wir müssen mit den Sowjets auf demselben Planeten leben. Deshalb ist es die Schlüsselfrage, wie unsere künftigen Beziehungen aussehen werden.“Realpolitik eben.
Frieden über Verhandlungen
Kissinger selbst hat sich vor einiger Zeit nicht viele Freunde mit seinem Rat gemacht, den russischen Krieg gegen die Ukraine auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Es ist ja wahr, jede politische Seite muss sich fragen, wie die Gegenseite darauf reagiert. Man mag zu den Russen und ihren Argumenten stehen wie man will, Putin einen Kriegstreiber nennen, der er sicher ist, aber wir müssen mit ihm reden. Es gibt in Moskau keinen anderen Gesprächspartner, der die Macht in Händen hält. Eine gedemütigte atomare Supermacht Russland wäre in der internationalen Politik ein gefährlicher Unruhefaktor. Hinzufügen muss man in diesem Zusammenhang, was Kissinger zu dem Thema in Davos gesagt hat: Da riet er der Ukraine, sie müsse Territorium an Russland abgeben, damit ein Friedensvertrag möglich werde.
Dass einer wie Kissinger über so viele Seiten über Staatskunst schreibt und Tugenden aufzählt, die sie ausmachten, wie maßvolles vorausschauendes Handeln, Rücksicht auf die Rechte anderer, auf die Kenntnis humanistischer Bildung, kommt sicher nicht von ungefähr. Und der liegt mit seiner Meinung nicht ganz falsch, der beim Lesen des Buches hin und wieder glaubt, dass Kissinger vor allem auch sich selber beschreibt.
Bildquelle: Wikipedia, The White House from Washington, DC – P111810PS-0076, Gemeinfrei,