1. Litauens erste Eskalation zum Kaliningrad-Bahn-Transit
Litauen gibt nicht auf. Das kleine Litauen mit den Truppen seiner NATO-Partner im Lande fühlt sich sicher und hält ständig Ausschau nach Nadelstich-Optionen. Eine solche Eskalationschance meinte es in einer eigenständigen Interpretation des Exportbegriffs im 5. Sanktionspaket der EU zu erkennen. Bei dessen Ausarbeitung hatte man in Brüsssel an den Sonderfall eines Binnentransports über Litauisches Staatsgebiet in die Kaliningrad-Exklave offenkundig nicht gedacht. Schwupps behauptete Litauen, der Transit habe den Export-Restriktionen der EU zu unterfallen.
In den Intentionen ist das zwar leicht durchschaubar, formal aber handelt es sich um eine mögliche Rechtsauffassung. Das Listenrecht, welches für Sanktionen als Waffe eingesetzt wird, hat einen enormen taktischen Vorteil gegenüber dem normalen Recht, bei dem Rechtsfolgen erst eintreten, wenn der Fall höchstrichterlich geklärt ist. Der Unterschied besteht im extrem unterschiedlichen Zeitbedarf zwischen Behauptung eines Rechts und und dessen geklärter Bestreitung. Die zeitliche Asymmetrie des Aufwands zwischen Behaupten und Bestreiten dient beim Listenrecht dazu, dem Gegner zu schaden. Bis der sich gewehrt und und vor Gerichten Erfolg erzielt hat, ist viel Wasser den Rhein herabgelaufen; und da Zeit Geld ist, ist ihm mit der Konfiskation von Vermögen in der Zwischenzeit ein hoher Schaden entstanden – das ist der taktische Sinn der Sache, des Einsatzes dieses speziellen Rechts als Waffe.
Vor diesem Hintergrund ist leicht verständlich gemacht, in welche Bredouille Litauen die Kommission gebracht hatte, als es mit Bezug auf eine (an den Haaren herbeigezogene) Rechtsposition Brüssel androhte, jenen zeitlich aufwändigen Weg gehen zu müssen, der in diesem Waffen-Rechts-Konstrukt eigentlich für den Gegner vorgesehen ist. Rechtstaktisch ist das provozierende Vorgehen Litauens höchst professionell angelegt. Der „Schaden“ war hier kein Vermögensschaden sondern die Konfrontation mit Russland über Bahntransport-Rechte, welche die EU-Kommission nicht intendierte – und zu der insbesondere Deutschland, das mit seinen Truppen in Litauen die Führung innehat, opponierte.
Am 13. Juli 2022 schließlich wurde dieser Konflikt beigelegt.
2. Litauens neuer Anlauf
Nun hat Litauen eine erneute Eskalation nach demselben Muster vorbereitet. Die Transporte durch Litauen leistet das dortige staatliche Eisenbahnunternehmen LTG. Dafür zu bezahlen, muss Russland in der Lage sein. Die Šiaulių Bankas ist derzeit das einzige Finanzinstitut, über das Russland der litauischen Eisenbahn das Entgelt für die Beförderung von Waren von und nach Kaliningrad zukommen lassen kann. Die Bank hat kürzlich jedoch angekündigt, dass sie diese Zahlungen ab September nicht mehr bearbeiten werde. Hintergrund sind horrende Risiken, die Tätigkeiten im prinzipiell sanktionierten Gelände mit sich bringen, weil die Pönalen bei Handlungsweisen, die später als Verstoß eingeordnet werden, potentiell drakonisch sind. Und Russland ist nun einmal mit Finanzsanktionen belegt. Ähnlich wie Gazprom mit seiner Gasturbine sucht Šiaulių Bankas rechtliche Versicherungen von staatlicher Seite. So kommt der litauische Staat ins Spiel.
Ende Juli übergab Sergej Rjabkow, Moskaus amtierender Geschäftsträger in Litauen, dem litauischen Außenministerium eine Notiz zu dem Vorgang. Russischen Medien gegenüber verlautete er, er habe erklärt:
„Bitte stellen Sie klar, es ist noch Zeit bis zum 1. September, schließlich haben Sie die Kaliningrad-Transitfrage gelöst, Sie haben alle Spannungen beseitigt. […] Warum bereiten Sie dann einen zweiten Schlag gegen den Gütertransit vor?“.
3. Grundsätzlich: Das Allianz-Verhältnis in der Gemengelage von kinetischem und Wirtschafts-Krieg
Man kann Litauen mit seinem unverblümten Bellizismus eigentlich nur dankbar sein, dass es mit seiner Teilblockade des Gütertransits von Russland in die Exklave Kaliningrad auf eine zentrale institutionelle Lücke in der Kriegsführungsaufstellung des Westens aufmerksam gemacht hat.
Etwas stilisiert war der Ablauf ja so: Das in seinen kinetischen Potenzialen klitze-kleine Litauen empfindet sich mit Truppen seiner militärisch potenten NATO-Partner im Lande durch Art. 5 NATO-Vertrag geschützt. Vor diesem Hintergrund hält es ständig Ausschau nach Nadelstich-Optionen an der Wirtschaftskriegsfront. Formal haben beide Kriegsführungsvarianten nichts miteinander zu tun, insofern gibt es institutionell keinen Abstimmungsbedarf mit den NATO-Partnern, insbesondere keinen mit Deutschland. Formal ist das so.
Nur das alles ändert nichts an der Grundsituation, dass der zu beschützende kleine Verbündete in exponierter geographischer Lage das alles nur solange durchziehen kann, wie die „großen Brüder“, die Beschützer, die NATO-Truppensteller in Litauen, das ohne zu Murren hinnehmen. Das zu beenden muss eine kinetische Garantiemacht aber auch einfordern. Schließlich steht Sarajewo 1914 als Mahnung im Raume. Da ist der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juli provokativ und, nach einem Fehlversuch am Vormittag erneut, die einzige enge Straße im offenen Wagen entlanggefahren. Er hat sich gleichsam solange als Zielscheibe präsentiert, bis das von der serbischen Geheimgesellschaft Schwarze Hand geplante Attentat doch noch erfolgreich war.
Der Kardinalfehler des damaligen Deutschen Reiches war, nicht hinreichend früh und klar dem militärisch schwachen Alliierten Österreich-Ungarn signalisiert zu haben: Wenn ihr eine Eskalation unabgestimmt provoziert, sehen wir unsererseits keine Bündnisverpflichtung in kinetischen Kampfformen!
Die Formulierung in Art. 5 NATO-Vertrag sieht keinerlei Automatismus vor. Man muss den Bündnispartner Litauen aber daran erinnern. Bündnispartner, insbesondere kleinere mit Trauma, sind nicht auromatisch kooperativ.
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