Am 27. Januar 1945 erreicht die „Rote Armee“ Auschwitz. Das Grauen, das die russischen Soldaten erwartete, wurde vielmals beschrieben. Mehr als eine Million ermordete Juden. Sie wurden erschossen, erschlagen, totgespritzt. Die meisten Opfer in den Gaskammern erstickt, ihre Leichen in Krematorien verbrannt. Mit allen Nebenlagern war es die größte industriell betriebene Tötungsmaschine der Nationalsozialisten. Wenige Tage vor der Befreiung des Lagers hatte die SS die Gaskammern und Krematorien gesprengt, einige der Lagerbaracken zerstört und Akten mit den Daten der Lagerinsassen verbrannt. Vor der heranrückenden Front sollten die Spuren des Völkermordes möglichst verwischt werden. Jedes Jahr wird an den Tag der Befreiung erinnert. In diesem Jahr zum siebzigsten Mal.
Vor zehn Jahren war selbstverständlich auch der damalige russische Präsident Wladimir Putin Gast der Gedenkfeier in Auschwitz gewesen. Diesmal wird er fehlen. Das für die Organisation zuständige Auschwitzkomitee hatte seine Mitglieder über die Feier informiert und es ihnen überlassen, wer die Reise nach Auschwitz antreten solle. Auch Russland ist Mitglied im Auschwitzkomitee. Einige Staatschefs werden nach Auschwitz reisen, aber Russland wird nur durch seinen Botschafter in Polen vertreten sein. Der Kreml hatte auf Anfrage erklärt, da keine Einladung vorliege, stehe eine Reise Putins nach Auschwitz auch nicht auf seinem Kalender.
Offenkundig war diese Form protokollarischer Zurückhaltung gezielt vorgenommen worden, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, den amtierenden russischen Präsidenten durch eine formale Ausladung zu düpieren. Erneut ein Stich, der das Selbstwertgefühl des Kreml unmittelbar treffen soll? Nichts anderes vermuten Beobachter hinter dieser Kabale. Hier spielt die aktuelle Lage an der Ostgrenze der Ukraine wohl eine entscheidende Rolle, und Polen gehört zu den heftigsten Kritikern der russischen Ukrainepolitik.
Hätte die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee bei einigem Nachdenken nicht vielmehr Anlass sein können, um in Anwesenheit Putins daran zu erinnern, dass die Rote Armee einen hohen Blutzoll entrichtet hat, um gemeinsam mit den westlichen Alliierten Europa von den Nazis zu befreien? Mehr als 27 Millionen Tote blieben auf den Schlachtfeldern Russlands. Die Erinnerung an furchtbare Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht, mit dem Ziel der Vernichtung der russischen Bevölkerung, der „slawischen Untermenschen“, hätten gerade am Befreiungstag in Auschwitz Grund für versöhnliche Töne sein können.
Auschwitz und die Ermordung der europäischen Juden eignen sich nicht, um Ressentiments gegen ein uns fremd werdendes Russland zu schüren. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist doch nur mit Moskau möglich. Wenn es dazu Brücken brauchte, um Russland daran zu erinnern und dafür zu öffnen, sollten jedenfalls vorhandene nicht abgebrochen und, wo möglich, neue errichtet werden.