Als Deutscher, Jahrgang 1941, der seit Jahr und Tag die Debatte über Israel, Antisemitismus und Rassismus, über den Holocaust verfolgt, der auf Anfeindungen von Deutschen jüdischen Glaubens in Deutschland durch Neonazis und Rechtsextreme empört bis erschüttert reagiert, erlebe ich nun die Debatte über die Documenta in Kassel. Ich sah gestern im Fernsehen das Riesenbild mit klaren, unmissverständlichen antisemitischen Bildern, mitten im Zentrum der sogenannten Weltkunstschau. Es packt einen die Wut, dass die Verantwortlichen das nicht vorher gesehen haben, die Figur mit wölfischen Reißzähnen, Kippa, SS-Mütze, einem Schwein mit Davidstern und der Aufschrift Mossad, dem Namen des israelischen Geheimdienstes. Widerlich finde ich das, entsetzlich. Wie kommt das Werk in diese Ausstellung? Kulturstaatsministerin Claudia Roth(Grüne) spricht inzwischen von „antisemitischer Bildsprache“, die „Kunstfreiheit findet hier ihre Grenze“.Die israelische Botschaft kritisiert die „Propadanda im Goebbels-Stil“. Das Werk, um das es geht, ist vom indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi geschaffen worden. Nun ist das Bedauern groß, weil die Blamage da ist, öffentlich, peinlich. Und das hat niemand gesehen? Weil das Bild zu spät aufgehängt wurde?
Teile des Bildes wurden inzwischen mit einem schwarzen Stoffbanner zugedeckt. „Alle Beteiligten bedauern, dass auf diese Weise Gefühle verletzt wurden.“ Als wenn das reichen würde! Zumal es im Vorfeld der Documenta schon teils heftige Kritik gab wegen mutmaßlichem Antisemitismus während der Ausstellung. Vor allem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte diese Kritik bei der Eröffnung der Documenta am Samstag geäußert und die Organisatoren für ihren „leichtfertigen“ Umgang mit Israel gescholten.Das Kuratorenkollektiv Ruangrupa sei bei seiner Arbeit nicht ausreichend beaufsichtigt worden. Dagegen hatte Ministerin Roth die Macher der Ausstellung
zunächst in Schutz genommen, musste dann aber bei ihrem Rundgang einräumen, dass das kritisierte Bild eindeutig antisemitische Sequenzen enthält. Ähnlich reagierte der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Hessen, Uwe Becker, das Bild könne so nicht hängenbleiben.
Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, sagte: „Die Documenta-Leitung muss hier intervenieren und dieses Kunstwerk sofort entfernen. Es enthält eindeutige antisemitische Motive.“ Die hessische Kultusministerin Angela Dorn(Grüne) reagierte empört, für den Zentralrat der Juden in Deutschland schrieb Präsident Josef Schuster: „Für seine Bedenken gegenüber der diesjährigen Documenta wurde der Zentralrat von vielen Seiten kritisiert. Sogar Rassismus wurde uns indirekt vorgeworfen. Es spielt jedoch keine Rolle, woher Künstler kommen, die Antisemitismus verbreiten. Kunstfreiheit endet dort, wo Menschenfeindlichkeit beginnt. Auf der Documenta wurde diese rote Linie überschritten. Die Verantwortlichen müssen jetzt ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und Konsequenzen ziehen.“
Man fragt sich angesichts dieses Skandals, der an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist, wer alles das Bild vorher gesehen hat? Wusste, was auf Kassel zukommen könnte, auf Deutschland? Diese Debatte trifft uns ja alle. Oder haben wir das alles vergessen, verdrängt, was vor 77 Jahren mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der Nazi-Herrschaft aufhörte? Warum hat man zugelassen, dass so ein Schandwerk aufgehängt wird, das Juden in übelster Weise diffamiert? Wo waren de Kuratoren, wo die Documenta GmbH, die Verantwortlichen der Stadt Kassel, die der hessischen Regierung? Das Kunstwerk war und ist ja mit seiner Fläche von 100 Quadratmetern nicht zu übersehen.
Die Documenta 2022 soll eine Weltkunstschau sein, auf der das erste Mal der Süden der Welt mit dem Norden des Erdballs diskutiert. Noch einmal Claudia Roth: „Die Menschenwürde, der Schutz gegen Antisemitismus wie auch gegen Rassismus und jede Form der Menschenfeindlichkeit sind die Grundlagen unseres Zusammenlebens, und hier findet auch die Kunstfreiheit ihre Grenzen“: Mir scheint, dass die Kritik des Bundespräsidenten bei der Eröffnung der Documenta ziemlich passend war, auch wenn er nicht auf das Schandbild einging. Die Freiheit der Kunst umfasse auch die Freiheit, Israel zu kritisieren. So sei die Kritik an der israelischen Politik wie etwa dem Siedlungsbau berechtigt. „Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten. Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte.“ Er bemängelte, dass auf der diesjährigen Documenta „wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind.“ Und dass die Diskussionsreihe „We need to talk“ nicht stattfindet. Für derlei Debatten nannte der Präsident eine Bedingung: „Niemand, der in Deutschland als Debattenredner ernstgenommen werden will, kann zu Israel sprechen, aber zu sechs Millionen ermordeten Juden schweigen.“
Die Blamage ist groß. Eine Verleumdung israelischer Juden in Deutschland, mitten in einer Weltkunstschau. Wer hätte das für möglich gehalten?