NRW hatte am 15. Mai 2022 die Wahl. Nun ist es an den Parteien, für die kommende Legislatur eine
Regierung zu bilden. Im Februar dieses Jahres hatte der Vorstand des Managerkreises in NRW ein Policy Paper „Nordrhein-Westfalen 2035: Comeback eines Landes im Strukturwandel“, basierend auf dem „Monitor Deutschland 2035“, veröffentlicht.
Der entsetzliche und menschenverachtende Ukraine-Krieg, aber auch die Corona-Pandemie, lassen uns Versäumnisse der Vergangenheit gesamtgesellschaftlich schmerzlich spüren. Die zukünftige Landesregierung NRWs muss schnell gebildet werden und sich vor allem hinter einer zukunfts- und innovationsorientierten Vision für unser Land vereinen. Um keine Zeit zu verlieren, können notfalls auch vor der formalen Regierungsbildung parlamentarische (und damit gesellschaftliche) Mehrheiten für wichtige Zukunftsthemen genutzt werden. Für die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen möchten wir insbesondere folgende fünf Themenbereiche in den Mittelpunkt stellen.
- Massive Investitionen in Bildung und Wissenschaft
Unumstritten ist Bildung für die Zukunft unseres Landes das zentrale Thema. Nur wenn wir sicherstellen, dass jedes Kind eine bestmögliche Förderung und Ausbildung erhält, werden wir auch langfristig mit NRW wirtschaftlichen Erfolg haben. Unsere Zukunft hängt an der Qualifikation unserer Kinder. Zudem
ist es ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, kein Kind zurückzulassen. Wir glauben daher, dass die Ressorts für Bildung und Wissenschaft die Schlüsselressorts jeder Landesregierung sein und nicht wie bislang eher unwillig zwischen den Koalitionspartner_innen hin- und hergeschoben werden sollten. Dieser
Bedeutung Rechnung tragend, müssen die Investitionen in Bildung und Wissenschaft von der zukünftigen Landesregierung massiv ausgebaut werden – kein Land investiert pro Schüler_in weniger als NRW. Deswegen halten wir es auch dringend für geboten, die Ressorts Bildung und Wissenschaft mit einer entsprechenden Expertise zu besetzen und darüber hinaus zur Chef_innensache zu erklären.
Das Regierungsprogramm muss sich unserer Überzeugung nach mindestens folgenden Punkten widmen:
- Lehrer_innen müssen sich wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können und von Verwaltungsaufgaben entlastet werden.
- Die Gebäudesubstanz der Schulen muss schneller und nachhaltiger saniert werden.
- Die psychosozialen Folgen sowie die Wissens- und Kompetenzrückstände als Resultat der Corona-Krise müssen an den Schulen schnell und umfassend aufgeholt werden, u. a. durch den flächendeckenden Einsatz von Sozialarbeiter_innen und durch integrierte Konzepte zur Unterstützung von Familien.
- Die digitale Kompetenz, Infrastruktur und Ausstattung an Schulen muss der Lebensrealität und den Anforderungen an globale Bildungsstandards und der Innovationsökonomie wieder Rechnung tragen. Dazu müssen für die (Hoch-)Schulen Hardware, Software und Support zentral zur Verfügung gestellt werden. Digitale Kompetenz muss eine zentrale Aufgabe sein und darf nicht einzelnen (Hochschul-)Lehrer_innen über ihre normale Dienstzeit hinaus überlassen werden.
- Die Bereitstellung von Studienplätzen muss auch gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen Rechnung tragen und in der Breite wirken, insbesondere bezogen auf die Attraktivität des Lehramtsstudiums sowie Studiengängen in den Bereichen Gesundheit und Soziales.
- Voraussetzung hierfür ist die auskömmliche Grundfinanzierung aller Hochschulen, die auch planbare Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs jenseits der Professur und eine gute infrastrukturelle Ausstattung ermöglicht.
- Digitale Transformation als Erfolgsfaktor für Strukturwandel
Ein erfolgreicher Strukturwandel erfordert eine strategische Vision für unser Land. Über Jahrzehnte waren wir in Nordrhein-Westfalen der Schrittmacher in Deutschland und auch darüber hinaus.
Wir glauben, dass Digitalisierung als Schlagwort viel weiter gedacht werden muss, da durch die Digitalisierung letztlich komplette Wertschöpfungsketten und industrielle Prozesse in einem völlig neuen Kontext betrachtet werden müssen.
Für Nordrhein-Westfalen sehen wir hier insbesondere folgende Aufgaben:
- Wir müssen schneller und besser darin werden, neue Ideen in marktfähige Produkte umzusetzen. Der Innovations- und Wissenstransfer zwischen unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen und Start-ups muss besser und effizienter werden, auch durch Einflussnahme auf die Gesetzgebung auf Bundes- und EU-Ebene.
- Wir sehen mit Sorge, dass Investitionen in Forschung und neue Zukunftsfelder auf Bundesebene oft den Weg in die südlichen Bundesländer finden. Die zukünftige Landesregierung muss es sich zur Aufgabe machen, dass NRW gemäß seiner Größe und Bedeutung im Bund mehr Berücksichtigung findet.
- Oft wird Digitalisierung auf technische Aspekte reduziert. Wir sehen ein großes Defizit insbesondere im Bereich der Akzeptanz und dem Zugang zu Digitalisierungsangeboten. Wir fordern daher den Ausbau des Landesbetriebs IT.NRW zu einer zentralen Institution zur Entwicklung einer einheitlichen ‚Government User Experience‘, die die Bedürfnisse und Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in den Mittelpunkt stellt und den Zugang zu staatlichen Leistungen und Angeboten drastisch vereinfacht.
- Dazu gehören für uns die Zusammenführung von IT-Systemen und der Zugang über eine einheitliche Master-ID zu einem zentralen NRW-Login, über den Bürger_innen, aber auch Unternehmen, Zugang zu allen staatlichen Angeboten erhalten. Wir halten es für absolut notwendig, für diese Aufgaben entsprechende Expert_innen heranzuziehen und auch vorzuhalten.
- Der Ausbau der Netzinfrastruktur ist in NRW zwar besser als im Bundesdurchschnitt, aber noch immer gibt es, mitten in einer der bevölkerungsreichsten und am dichtesten besiedelten Regionen in Europa, Netzausfälle und Unterversorgung – insbesondere im ländlichen Raum. Ohne eine zuverlässige, flächendeckende Netzinfrastruktur sind wichtige Wachstumsfelder wie IOT oder autonome Verkehrsmittel undenkbar.
- Der Ausbau einer flächendeckenden 5G- und GlasfaserInfrastruktur ist darüber hinaus von zentraler Bedeutung, um den wirtschaftlichen und sozialen Anschluss der ländlichen Regionen sicherzustellen. Für die Städte und Regionen fordern wir ein landesweites, kostenfreies NRW-WLAN.
3. Radikale Verkehrswende durch nachhaltiges Mobilitätskonzept
Um unsere Klimaschutzziele zu erreichen und unser Land für die Bürger_innen lebenswerter, gesünder und fortschrittlicher zu gestalten, sind einschneidende und radikale Maßnahmen notwendig:
- Die öffentliche Hand muss weiter massiv in den Ausbau des ÖPNV investieren.
- Eine weitergehende Digitalisierung des ÖPNV ist für eine höhere Akzeptanz absolut notwendig. Auch hier muss im Interesse der Nutzer_innen ein zentraler und einfacher Zugang geschaffen werden, der es erlaubt, anbieterübergreifend Verbindungen zu suchen und zu buchen. Dies muss künftig neben den Anbietern im ÖPNV auch innovative Mobilitätskonzepte wie Car Sharing, Ride Sharing oder Ride Hailing beinhalten.
- Um die Mobilität unserer jungen Menschen zu fördern, fordern wir einen kostenlosen Zugang zum ÖPNV ohne Einschränkungen für alle Schüler_innen, Studierenden und Auszubildenden unabhängig von ihrem Lebensalter.
- Wir fordern, dass die Landesregierung zusammen mit den Kommunen daran arbeitet, dass die Zentren unserer großen Städte weitgehend autofrei werden und der Individualverkehr massiv eingeschränkt wird. Dies wird mittel- bis langfristig zusammen mit den anderen verkehrspolitischen Maßnahmen auch zu einer deutlichen Attraktivitätssteigerung und wirtschaftlichen Erholung unserer Innenstädte führen.
- Im Zeitalter des Klimawandels halten wir es für dringend geboten, dass die Landesregierung die bestehenden Luftverkehrskonzepte grundlegend überdenkt und sinnvolle neue Konzepte erarbeitet. Dies schließt die Prüfung ein, inwieweit alle Flughäfen gut ausgelastet und damit zwingend notwendig sind. Wir halten es für sinnvoll, die bestehenden, nach der Corona-Pandemie immer noch notwendigen Flughäfen in NRW durch einen Hochgeschwindigkeitszug miteinander zu verbinden und die benötigten Kapazitäten über die bestehenden Flughäfen zu verteilen.
4. Nachhaltiger Umbau unserer Energieinfrastruktur
NRW hat trotz einer hervorragenden Ausgangslage ein dramatisches Defizit beim nachhaltigen Umbau der Energieversorgung unseres Landes.
Deshalb sind zahlreiche Maßnahmen notwendig:
- Der Umbau der Energieinfrastruktur und die Abkehr von fossilen Brennstoffen sollte auch als Chance für den Wirtschaftsstandort begriffen werden, da grüne Technologien schon jetzt ein riesiges Potential bieten.
- Der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft in NRW ist von zentraler Bedeutung dafür, dass wir weiterhin energieintensive Unternehmen und industrielle Nachfrager im Bereich Chemie, Stahl und Verarbeitung in unserem Land halten. NRW kann den Beweis antreten, dass Industrie und Klimaschutz keine Gegenpole sind, sondern Hand in Hand am klimaneutralen Umbau unseres Landes arbeiten können.
- Wir fordern die proaktive Unterstützung des Ausbaus von Windkraft an Land und die Rücknahme der in der jetzigen Form vollkommen kontraproduktiven Abstandsregel. Bürger_innen sollten beim Ausbau von Windkraftanlagen finanziell beteiligt werden. Dies steigert die Akzeptanz erheblich. Die Verkürzung und Straffung von Genehmigungsverfahren, insbesondere bei Windenergieanlagen, aber auch bei den Stromnetzen, ist eine notwendige Voraussetzung, um die Energiewende zu meistern. In diesem Kontext fordern wir auch erhebliche Erleichterungen bei der Ausschreibung (z. B. auf kommunaler Ebene) von neuen Projekten (insbesondere für Bürgerenergiegenossenschaften).
- Die neue Landesregierung muss die Bundesregierung im Ausbau von Strom-Fernleitungstrassen von den Küsten zu den industriellen Verbrauchern unterstützen und zeitgleich den Aus- und Umbau der Verteilnetze fördern.
- Schlussendlich muss das Land verhindern, dass die Kosten der Energiewende niedrige Einkommen prozentual viel höher belasten als hohe Einkommen – hier gilt es steuerpolitischen Handlungsspielraum auszuschöpfen und den bundespolitischen Einfluss des Landes geltend zu machen.
- Unser Staat als zuverlässiger, starker Dienstleister für eine nachhaltige und solidarische Gesellschaft
Die in den ersten Forderungen enthaltenen Aufgaben lassen sich unserer Meinung nach nur mit einem starken und zuverlässigen Staat umsetzen, der seine Daseinsberechtigung konsequent an den Bedürfnissen seiner Bürger_innen ausrichtet.
Wir fordern daher auch die endgültige Abkehr vom Neoliberalismus der 1980er Jahre und dem daraus resultierenden Irrweg der Privatisierung staatlicher Aufgaben der Daseinsvorsorge. Das Konzept “Privat vor Staat” hat in vielen Bereichen sicherlich eine Berechtigung, nicht aber, wenn es um die Leistungen geht, die die Basis für eine nachhaltige und solidarische Gesellschaft darstellen oder dem nachhaltigen Umbau unserer Gesellschaft dienen. Gerade als Vertreter_innen der Wirtschaft halten wir es für die Zukunft unseres Landes für essentiell, dass wesentliche Aufgaben unserer Gesellschaft staatlich und nicht rein privatwirtschaftlich organisiert werden.
Zu den “staatsnahen Sektoren” zählen für uns insbesondere:
- Die Grundversorgung mit Energie, Wasser und Elektrizität.
- Essentielle Infrastruktur wie Verkehr, Strom-, Wasser- und Gasnetze, aber insbesondere die immer zentraler werdende digitale Infrastruktur, die wir nicht privatwirtschaftlichen Akteuren überlassen sollten.
- Bildung ist der zentrale Erfolgsfaktor für unsere Gesellschaft und muss staatlich organisiert und an den Bedürfnissen unserer Gesellschaft ausgerichtet sein. Dabei gilt es, kein Kind zurückzulassen und jedem Kind eine faire Chance zu geben.
- Die Gesundheit unserer Bürger_innen darf nicht weiter privatisiert werden. Der Staat muss hier ein verlässlicher Partner sein und sollte insbesondere im Bereich der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen eine qualitativ hochwertige Grundversorgung sicherstellen.
- Der Staat muss sich vermehrt um den Wohnungsbau in unserem Land kümmern und kommunale Wohnungsbaugesellschaften gezielt fördern.
- Entgegen vieler Forderungen aus dem konservativen Lager halten wir es für eine starke und wehrhafte Demokratie für essentiell, das Konzept des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens weiter zu stärken und zu garantieren und darüber hinaus im digitalen Bereich auszubauen.
Zum Schluss
Für ein zukunftsfähiges NRW müssen wir uns in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit an Erfordernisse der heutigen Zeit anpassen und dies in Zukunft weiterhin tun. Mehr noch, wir müssen ein klares Bild bevorstehender Herausforderungen haben mit dem Wissen, dass wir durch den Rückstand, den wir im Bereich Bildung und Digitalisierung bereits haben, keinen zeitlichen Handlungsspielraum mehr haben. Die wirtschaftlichen, sozialen, globalen und klimatischen Herausforderungen können wir nur meistern, in dem wir radikal, schnell, agil und der Zukunft zugewandt handeln. Sinnvolle Optionen dafür hat der Managerkreis NRW in diesem Forderungspapier zusammengefasst.
Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von den Autor_innen in eigener Verantwortung
vorgenommen worden und geben ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder.