Jetzt bei uns im demokratischen Westen wieder schier grenzenlose Empörung, Betroffenheit und Mitgefühl mit dem Leid der ungezählten Uiguren, die in chinesischen Folterlagern Unsägliches und Unsagbares erleiden müssen. Eine Heuchelei, die zum Himmel schreit.
Denn das haben wir doch längst gewusst, seit vielen Jahren. Und wir haben es hingenommen, haben weggesehen, weil der Industrie-Gigant China in der globalisierten Welt zu wichtig war und ist für unsere Wirtschaft und unseren Konsum. Ein riesiges Datenleak liefert jetzt nur mit unfassbar grausamen Folterfotos, Protokollen und anderen Dokumenten die offensichtlich unwiderlegbaren Beweise; Beweise für ein verbrecherisches chinesisches Regime, das einen Genozid an den Uiguren betreibt, aber Beweise auch für unsere Mitschuld.
Zweimal durfte dieses Folter-China die Welt zu olympischen Spielen einladen, Menschenrechte wurden bei Politikerbesuchen in Peking nur sehr zurückhaltend angesprochen, noch vor wenigen Jahren wurde Ober-Diktator Xi Jinping auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos als Wahrer des freien globalen Handelns gegen den Isolationisten Trump gefeiert. Derweil begaben sich Deutschland und andere westliche Demokratien immer weiter und tiefer in die Abhängigkeit von China, die Werkbank der Welt, die unserer Industrie alles lieferte, was wir Konsumenten wünschten – Hauptsache billig. Versuchen Sie mal irgendein hochwertiges komplexes Produkt zu kaufen, in dem keine Teile „made in China“ stecken. Warum es so billig war und ist, wollen wir lieber nicht wissen. Noch einmal: In diesen vielen Jahren war bekannt, wurde in Zeitungen und im Fernsehen berichtet, wie brutal die Pekinger Führung gegen die Uiguren im Westen des Riesenreiches vorgeht. Wir ließen uns nicht stören. Trieben eifrig Handel und alimentierten wissentlich die Pekinger Schlächter.
Und jetzt kommen wir aus unserer Abhängigkeit von diesem China nicht raus, jedenfalls nicht so schnell. Im Gegenteil: Wir jammern, dass die Lieferzeiten für neue Autos bei uns immer länger werden, weil wegen des chinesischen Corona-LockDown wichtige Komponenten von dort nicht geliefert werden.
Es ist gerade ein Crashkurs in zwei Kapiteln. Wir lernen, dass Globalisierung die Unmoral internationaler Politik befeuern kann und dass das mit dem Wandel durch Handel nicht klappt. Wir lernen es zum zweiten Mal. Denn mit Russland war und ist es doch ähnlich. Seit Jahren forcierte Wladimir Putin seinen höchst aggressiven Kurs. Selbst die Okkupation der Krim hielt die deutsche Politik nicht davon ab, unsere Abhängigkeit von russischer Energie immer weiter zu verstärken. Auch hier der wichtigste Grund: Billiger konnten wir uns um die schmerzhaften Erfordernisse der Zukunft – eine Energiewende, die schon viel früher hätte einsetzen müssen – nicht drücken. Augen zu und weiter so. Bis wir jetzt endlich aufgewacht sind. Und auch hier das Gleiche: Wir kommen aus der Abhängigkeit vom skrupellosen Kriegstreiber Putin nicht so schnell raus, müssen noch auf Sicht seinen Krieg sponsern.
„Wertebasierte Außenpolitik“ – ein Begriff, über den neunmalkluge Realisten naserümpfend lächelten. Vielleicht ist ihnen das Lächeln inzwischen vergangen. Wäre es nicht gut für uns und den Westen insgesamt gewesen, hätte es schon früher etwas mehr „wertebasierte Außenpolitik“ gegeben ?