Von Wahl zu Wahl erreicht der Bundestag eine neue Rekordgröße. Das unaufhaltsame Wachsen des Parlaments verlangt seit Jahren nach einer Wahlrechtsreform. Doch über zaghafte Ansätze ging es bislang nicht hinaus. Die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble (beide CDU) haben sich während ihrer Amtszeiten die Zähne daran ausgebissen. Ihre Nachfolgerin Bärbel Bas (SPD) machte direkt nach ihrem Amtsantritt letzten Oktober Druck. „Wir müssen das in dieser Legislatur rechtzeitig machen“, sagte sie der Wochenzeitung „Das Parlament“, – „und nicht erst kurz bevor die nächste Wahl vor uns steht.“ Tatsächlich liegt jetzt ein erster Vorschlag aus der Ampelkoalition auf dem Tisch. Die Autoren sprechen von einer „Frage der Selbstachtung“.
Der gemeinsame Vorstoß von Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Till Steffen (Grüne) liest sich wagemutig, bricht mit Tabus und erfüllt das Ziel, die Zahl der Bundestagsabgeordneten verlässlich auf 598 zu begrenzen. Kern der Reformidee ist die Abschaffung der Überhangmandate. Folgerichtig fallen keine Ausgleichsmandate an. Sie machen zusammen den dicksten Batzen der zusätzlichen Parlamentssitze aus. Aktuell sitzen 736 Abgeordnete im Bundestag, das sind 138 über der Sollgröße.
Reformvorschläge gab es viele, doch der vollständige Verzicht auf Überhangmandate ist neu. Er bedeutet, dass Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten, im Zweifel dennoch nicht in den Bundestag einziehen, und zwar dann nicht, wenn das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei dafür nicht ausreicht. Die drei Ampelpolitiker, allesamt Obleute ihrer Fraktionen in der Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts, wollen die Sitzverteilung künftig rigoros nach dem Ergebnis der Zweitstimme vornehmen.
Die Begriffe „Erststimme“ und „Zweitstimme“ sorgen hartnäckig für Missverständnisse. Oft wird die „Zweitstimme“ als zweitrangig betrachtet, obwohl sie die „maßgebende Stimme für die Verteilung der Sitze insgesamt auf die einzelnen Parteien“ ist. So steht es auch auf dem Stimmzettel. Die Autoren des Reformvorschlags fragen, warum eine Partei in einem Land überhaupt mehr Wahlkreismandate zugeteilt bekommt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, und kündigen an: „Das wollen wir ändern.“
Hartmann, Kuhle und Steffen beschreiben, wie: „Nach unserem Vorschlag wird zunächst, wie gewohnt, die Gesamtzahl der Sitze im Verhältnis der von den Parteien bundesweit errungenen Zweitstimmen verteilt. Diese Stimme wollen wir künftig Listenstimme nennen. An der Verteilung nehmen alle Parteien teil, die mindestens fünf Prozent der gültigen Listenstimmen erhalten oder deren Kandidierende in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten haben. Die Erststimme nennen wir künftig Personenstimme.“
Das sind zunächst nur neue Begriffe, die entscheidende Neuerung folgt hier: „Ein Wahlkreismandat erhält nun, wer in einem Wahlkreis die meisten durch Listenstimmen gedeckten Personenstimmen vorweisen kann.“ Zur Erläuterung führen die drei Autoren ein konkretes Beispiele an: „Stehen einer Partei in einem Bundesland beispielsweise fünf Sitze zu, haben ihre Wahlkreiskandidierenden jedoch in sechs Wahlkreisen die jeweils meisten Personenstimmen erhalten, erfüllt der Kandidat, auf den die prozentual wenigsten Personenstimmen entfallen sind, die Voraussetzungen nicht und das Mandat wird nicht zugeteilt.“
Das wäre ein Novum und wird absehbar für Diskussionen sorgen. Hinzukommt, dass ein solcher Wahlkreis, der nicht von dem Bewerber mit den meisten Stimmen gewonnen wird, im Parlament von einem Ersatzkandidaten vertreten wird, der bei der Wahl weniger Stimmen erhalten hat. Auch das dürfte noch viel Überzeugungsarbeit erfordern.
Der Vorschlag bringt dazu eine dritte Stimme, die „Ersatzstimme“ ins Spiel. Mit ihr soll der Wähler direkt seine zweite Präferenz angeben. Wenn ein Wahlkreismandat nicht an den Erstplatzierten fällt, werden die Ersatzstimmen zu den Personenstimmen der Mitbewerber hinzugezählt. „Das Wahlkreismandat erhält der Kandidat, auf den dann insgesamt die meisten Stimmen im Wahlkreis entfallen – sofern bei ihm oder ihr kein Überhangfall entsteht“, erklären die Ampel-Politiker und argumentieren: „In Zeiten, in denen Wahlkreise im bestehenden Wahlrecht oftmals auch mit Ergebnissen von weit unter 30 Prozent gewonnen werden, ist eine solche Lösung kein Kulturbruch, sondern eine sinnvolle Weiterentwicklung des geltenden Wahlrechts, bei der keine Partei übermäßig belastet oder übervorteilt wird.“
Die geplante Verringerung der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 werde „zu keiner effektiven und dauerhaften Verkleinerung des Bundestags führen“, heißt es in dem Vorschlag, der sich als „Gesprächsangebot an alle konstruktiven und demokratischen Fraktionen des Deutschen Bundestages“ versteht. Das Wahlrecht solle „dem grundlegenden Wandel der Parteienlandschaft“ Rechnung tragen und sei „auf einen breiten demokratischen Konsens angewiesen“. Das Werben dafür hat begonnen.