Ich weiß zwar nicht mehr, wie das Wetter am 27. April 1972 war. Kürzlich las ich irgendwo, es sei kalt und regnerisch gewesen. Ich erinnere mich aber, dass bereits morgens um halb neun im Bonner Tulpenfeld, wo viele politische Korrespondenten und auch wir unser Büro hatten, eine ungewöhnliche Betriebsamkeit herrschte. Seit drei Jahren war ich, damals 30 Jahre jung, Bonner Korrespondent des Kölner Stadtanzeiger. Ich hatte schon einige Überraschungen in meinem neuen Job erlebt. Aber so ein Mega-Ereignis noch nie. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hatte die CDU/CSU-Opposition den Antrag gestellt, den 1969 gewählten SPD-Kanzler Willy Brandt zu stürzen und an seine Stelle den CDU-Vorsitzenden Rainer Barzel zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu wählen.
– Es ging um die Ostverträge.
– Es ging um die Entspannungspolitik.
– Es ging um den Frieden.
Willy Brandt hatte damit begonnen, die Realitäten, die der Zweite Weltkrieg geschaffen hatte, zu akzeptieren. Er hatte Verhandlungen mit den Nachbarn im Osten aufgenommen. Er wollte die nach dem Krieg entstandenen Grenzen endlich als endgültig anerkennen. Aus der „Oder-Neisse-Linie“ sollte, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Krieges, endlich die Westgrenze Polens werden, und aus der „Demarkationslinie“, die allenfalls als „Zonengrenze“ Eingang in den politischen Sprachgebrauch gefunden hatte, endlich die völkerrechtlich anerkannte Staatsgrenze zum zweiten deutschen Staat, zur Deutschen Demokratischen Republik. Deren Abkürzung DDR, durften Springer-Journalisten damals nur in Anführungsstrichen schreiben. Die DDR war in für ihren Verleger kein Staat. Deshalb musste wer die Anführungszeichen vergaß mit seiner Entlassung rechnen.
Es war dies einer der Gründe, warum ich damals nie auf die Idee gekommen wäre, mit einem Kollegen der BILD-Zeitung oder der Welt auch nur ein Bier zu trinken. Der Riss ging quer durch die Bundespressekonferenz. Die älteren Semester, von denen viele noch unter dem Propagandaminister Joseph Goebbels ihr Handwerk gelernt hatten, waren Gegner der neuen sozialliberalen Regierung. Aber es gab eben auch schon die Jüngeren, die man später die „68er“ nannte, die sich entschieden und vehement für Brandts Politik einsetzten.
Ihnen fühlte ich mich damals zugehörig. Ich hatte, Jahrgang 1941, zwar selbst die mörderische NS-Diktatur nie bewusst erlebt und auch nie an irgendwelchen studentischen Protestaktionen teilgenommen. Ich war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, für deren Unterhalt ich sorgen musste. Für die Proteste der 68er hatte ich keine Zeit. Aber die Erzählungen meiner Eltern und Geschwister hatten mich geprägt. Ich fand das, was Brandt versuchte, überfällig und richtig.
Die Verhandlungen mit Moskau, Warschau und Prag waren weit gediehen, die Verträge unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert. Ein zwischen den vier Siegermächten ausgehandeltes Abkommen über Berlin garantierte den ungehinderten Zugang von und zur ehemaligen Reichshauptstadt, ein Vertrag mit der DDR verhieß den Bewohnern hüben und drüben menschliche Erleichterungen und Besuchsmöglichkeiten, die jahrzehntelang blockiert gewesen waren. Dafür hatte Brandt im Dezember 1971 den Friedensnobelpreis bekommen.
Er hatte endlich Bewegung in die starren Fronten des Kalten Krieges gebracht. Die Menschen in Deutschland schöpften Hoffnung. Die Lebensverhältnisse schienen sich zu verbessern. Die unmenschliche Berliner Mauer mit Stacheldraht und Todesstreifen begann durchlässiger zu werden.
Aber alles das stand plötzlich auf dem Spiel, weil die CDU/CSU-Opposition sich querlegte. Unterstützt von der damals noch tonangebenden Springerpresse, der Illustrierten Quick, einem rechtslastigen Fernseh-Magazin und der Mehrzahl der konservativen Medien, hatte die Opposition monatelang ein Feuerwerk von Verdächtigungen, Unterstellungen und Halbwahrheiten abgebrannt.
Die Christenunion, die von 1949 bis 1969 ununterbrochen die Richtlinien der westdeutschen Politik bestimmt hatte, machte gegen Brandts Entspannungspolitik mobil. Sie beharrte starrköpfig auf alten Besitzansprüchen. Die im Krieg verlorenen Ostgebiete, inzwischen Teil der Volksrepublik Polen, sollten weiter formal zu Deutschland gehören. Die Kalten Krieger in der Union schwafelten von Verrat und Verzicht und riefen die Westdeutschen zum Widerstand auf.
Und am 27. April 1972 stand die Bonner Republik vor ihrer ersten, richtigen Bewährungsprobe. Einige konservative SPD-Abgeordnete hatten bereits unter dem medialen Dauerfeuer kapituliert und waren zur CDU/CSU übergelaufen. Mehrere Freidemokraten des nationalliberalen Flügels hatten ebenfalls die Seite gewechselt, oder drohten damit, es zu tun. Die einst komfortable sozialliberale Koalitionsmehrheit war zusammengeschmolzen. Am 24. April 1972, einen Tag nach einer für die SPD desaströsen Landtagswahl in Stuttgart, hatte deshalb die CDU/CSU-Fraktion in Bonn den Misstrauensantrag gestellt. Und jetzt, am 27. April, sollte darüber abgestimmt werden.
*
Es summte und brummte wie in einem Bienenstock, als ich das Pressehaus I betrat. So viel los war eigentlich immer erst um die Mittagszeit. Aber heute war eben ein besonderer Tag. Maren Winter, unsere Sekretärin, hatte bereits unser Fach bei der Deutschen Presseagentur geleert. Unsere Bürotür stand offen. Ich begrüßte Napoleon, Marens großen Hund, der schwanzwedelnd unter ihrem Schreibtisch lag. Dann sah ich wie mein Büroleiter Hans Werner Kettenbach schon im Mantel und an seinem Schreibtisch stehend, eine Tasse Kaffee neben sich, ungeduldig das dpa-Material sichtete. „Wir müssen los“, sagte er. „Heute wird es voll!“
Hans Werner Kettenbach, anderthalb Kopf kleiner als ich, war ein wunderbarer Chef. In meinem Roman über das gescheiterte Misstrauensvotum heißt er Werner Kahlenbach. Und dort habe ich ihn so beschrieben:
„Er war ein großartiger Journalist, der alle Formen und Formate des Metiers mühelos beherrschte. Einen politischen Leitartikel brachte er mit der gleichen Leichtigkeit zustande wie einen kurzen Kommentar. Aus belanglosen Meldungen konnte er – wenn er die Hintergründe kannte, und er kannte sie meistens – spannende Aufmacher zaubern. Sperrige und schwer lesbare Gesetzestexte erklärte er mit leichter Feder so, dass jeder juristische Laie sie verstand. Seine Porträts waren Kunstwerke. Er hatte die Gabe, Menschen anhand ihrer typischen Gesten so zu beschreiben, dass sie einem leibhaftig vor Augen standen. Die Puffmutter aus Köln zum Beispiel, die er vor vielen Jahren einmal für die Wochenendausgabe seiner Zeitung porträtiert hatte, prägte er seiner Leserschaft dadurch ein, dass er beschrieb, wie die Frau beim Erzählen ständig die Tischdecke glattstrich, obwohl diese längst glatt war und keine Krümel darauf lagen. Und er konnte sich selbst zurücknehmen. Er ging mit fremden Texten so sorgsam um, als wären es die eigenen. Er wusste, wie man sie durch kleine, kaum wahrnehmbare Veränderungen veredeln konnte, ohne dass sie ihren Charakter verloren. Er war einfach ein Meister seines Fachs.“
Als wir uns dem Haupteingang des Bundeshauses näherten, wartete bereits eine lange Schlange von Fernsehleuten mit ihren Kameras und Mikrophonen auf Einlass. Der Zutritt war streng reglementiert. Normalerweise konnten alle Mitglieder der Bundespressekonferenz jederzeit ins Bonner Parlament. An diesem Tag war jedoch eine besondere Akkreditierung nötig, um in die Lobby zu gelangen und eine weitere, um einen Platz auf der Pressetribüne zu kommen. Zum Glück kannte ich jemand in der Pressestelle und hatte es geschafft, für unsere Redaktion sowohl Lobby- als auch zwei Tribünenkarten zu ergattern.
„Ich schlage vor, wir nehmen den Südeingang“, sagte ich, als ich die lange Schlange sah. Am Südeingang war um diese Zeit noch nicht so viel los. Einen der Parlamentsdiener, die den Einlass kontrollierten, kannte ich. Er hieß Willi und kam aus dem rechtsrheinischen Dorf, in dem ich damals wohnte. Wir standen manchmal zusammen an der Theke. Als Kettenbach und ich zum Süd-Eingang kamen, war Willi damit beschäftigt, einen laut brüllenden Mann zu beruhigen, der ihn wütend beschimpfte. Es war der ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, einer der erbittertsten Gegner der Brandt’schen Ost- und Entspannungspolitik. Er tobte, weil er nicht eingelassen werden sollte. Seine Redaktion hatte offenbar vergessen, für ihn einen Sonderausweis zu beantragen. Jetzt verlangte er mit drohendem Unterton, unverzüglich mit Bundestagspräsident Kai Uwe von Hassel verbunden zu werden. Wir hörten ihn noch lamentieren, als wir den Eingangsbereich längst hinter uns gelassen hatten.
Es war inzwischen zehn nach neun. Um zehn Uhr sollte die Sitzung beginnen. Vor dem Fraktionssaal der CDU/CSU herrschte großes Gedränge. Die Fraktion war dabei, sich zu einem letzten Zählappell zu versammeln. Alle warteten auf Rainer Barzel. Leo Wagner, der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer der CSU, trat vor die wartenden Journalisten und erklärte feierlich, der „künftige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ werde in wenigen Minuten erscheinen aber keine Erklärungen abgeben. Kettenbach schlug vor, ich sollte schon einmal zur Tribüne gehen, die eine halbe Stunde vor Sitzungsbeginn öffnen würde. Ich sollte dann für ihn und mich zwei Plätze belegen.
Als ich nach einem langen Marsch durch die verwinkelten Gänge des alten Bundeshauses endlich den Aufgang zur Tribüne erreicht hatte, warteten bereits an die zwanzig Kolleginnen und Kollegen vor der verschlossenen Tür, die von einem befrackter Diener des Parlaments bewacht wurde. Und immer mehr drängten von unten nach. Es wurde gedrückt, geschoben und geflucht. Von unten aus der Lobby vor dem Plenarsaal drang gedämpfter Lärm nach oben. Aber erst um 9:30 Uhr gab der Zerberus die Tür frei und kontrollierte die Ausweise. Es gelang mir, ziemlich weit vorne in der zweiten Reihe zwei Klappstühle zu belegen. Innerhalb weniger Minuten waren alle Plätze belegt und ich musste den meines Büroleiters entschlossen verteidigen.
Kettenbach kam um fünf vor zehn. Er war bekümmert. „Die Sache ist gelaufen“, sagte er, als er neben mir Platz nahm. Der Zählappell der Unionsfraktion hatte das gewünschte Ergebnis gebracht. Barzel brauchte 249 Stimmen, um zu gewinnen. Leo Wagner hatte nach der Fraktionssitzung verkündet, alle Mitglieder der CDU/CSU hätten in der Probeabstimmung für Barzel votiert. Da man mit einer weiteren Stimme aus dem Lager der SPD und zwei weiteren FDP-Abweichlern rechnete, war die Unionsführung siegesgewiss. Eduard Ackermann, Barzels Fraktions-Pressesprecher, hatte prophezeit, Barzel werde mindestens 250 Stimmen bekommen. Kettenbach hatte auch mit ein paar SPD-Abgeordnete gesprochen. „Es gibt keinen“, sagte er mir, „der noch einen Zweifel daran hat, dass Barzel siegen wird.“
Dann machte er sich Notizen für den Leitartikel, den er schreiben sollte. Ein CDU-Abgeordneter – ich glaube es war Richard von Weizsäcker – hatte ihm unter vier Augen erzählt, er rechne zwar fest mit einem Sieg Barzels, aber selbst, wenn der zum Kanzler gewählt sei, werde er die Ostverträge nicht scheitern lassen. Das Gerede vom Ende der Ost- und Entspannungspolitik sei also falsch. „Glauben Sie das?“, fragte ich Kettenbach. „Mir bleibt nichts anderes übrig“, antwortete der. „Jedenfalls werde ich die Union in meinem Leitartikel auf dieses Versprechen festnageln. Ich werde schreiben, dass auch einem Bundeskanzler Barzel gar nichts anderes übrig bleibt, als die Verträge, vielleicht mit ein paar kleinen Ergänzungen zu akzeptieren.“ In seiner etwas krakeligen, aber trotzdem gut lesbaren und markanten Schrift fing er an, die ersten Sätze seines Leitartikels aufzuschreiben.
Ich schaute mich um und machte ebenfalls fleißig Notizen. Jede noch so unwichtige Kleinigkeit musste für das Feature herhalten, das ich am Nachmittag würde schreiben müssen. Selbst Nebensächlichkeiten spielten eine Rolle: Zum Beispiel, dass Mildred Scheel und Ruth Brandt nebeneinander auf der Diplomatentribüne, die uns gegenüber lag, Platz genommen hatten, war jetzt wichtig. Sie saßen in der ersten Reihe vor den Botschaftern der Sowjetunion, der USA, des Vereinigten Königsreichs und Frankreichs. Die Botschafter der vier Siegermächte waren da, würde ich schreiben, um ihre Unterstützung für die Regierungspolitik zu demonstrieren. Oder: Dass Willy Brandt und sein Vizekanzler Scheel bis kurz vor zehn rauchend in der Lobby standen, was man durch die Glastüren sehen konnte. Was sie miteinander beredeten, konnte man natürlich nicht sehen. Aber ihre Mimik und Gestik ließen keinen Zweifel daran, dass auch sie sich damit abgefunden hatten, in wenigen Stunden nicht mehr Kanzler und Außenminister zu sein.
Die Regierungsbank blieb an diesem Morgen leer. Alle Minister und auch der Bundeskanzler hatten sich kurz vor zehn Uhr zu ihren Fraktionen im Plenarsaal gesetzt. Das sei, hatte ich irgendwo gelesen oder gehört, schon zu Weimarer Zeiten parlamentarischer Brauch gewesen. Solange der Regierungschef nicht gewählt oder im Amt bestätigt sei, müsse sein Platz so leer bleiben wie der Stuhl des Papstes beim Konklave. Die Regeln der „Sedisvakanz“ – der Zeit des leeren Stuhls – galten also nicht nur in Rom, sondern auch im Bonner und vermutlich gelten sie immer noch im Berliner Parlament.
*
Zwei Tage vor der Abstimmung hatte mir Kurt Müller, genannte KuMü, der engste Mitarbeiter des SPD-Fraktionsgeschäftsführers Karl Wienand eine kleine Sensation gesteckt. Er hatte mir verraten, was der Fraktionschef Herbert Wehner eigentlich bis unmittelbar kurz vor der Abstimmung im Bundestag unter der Decke halten wollte. In meinem Roman heißt KuMü Walko und der Journalist, dem er das erzählt, heißt Kurt Zink:
„Wir werden am Donnerstagmorgen bei der Abstimmung sitzen bleiben“, sagte der Gehilfe.
„Wie sitzen bleiben?“
„Die SPD-Fraktion wird im Saal sein, sich aber an der Abstimmung über das Misstrauensvotum nicht beteiligen.“
„Warum das denn?“ Zink glaubte, er habe sich verhört.
„Denk mal drüber nach! Da kannste von allein draufkommen“, sagte Walko und grinste geheimnisvoll.
„Aber ihr müsst doch gegenhalten und den Antrag der Union niederstimmen.“
„Müssen wir nicht“, triumphierte der kugelige Sozi.
„Versteh ich nicht“, sagte Zink.
„Pass op“, sagte Walko, „dat is janz einfach!“ Und so wie er das intonierte fühlte Zink sich an den Lehrer Bömmel aus der ‚Feuerzangenbowle‘ erinnert, der seinen Schülern zu erklären versucht, was eine Dampfmaschine ist und wie sie funktioniert.
„Wer Barzel zum Kanzler machen will, der muss nach vorn gehen, sich eine Stimmkarte holen, Ja auf die Karte schreiben und diese dann in die Wahlurne schmeißen. Wer aber nicht will, dass Barzel Kanzler wird, der hat drei Möglichkeiten, dies zum Ausdruck zu bringen.“
Er schaute Zink herausfordernd an, als warte er darauf, von ihm die Lösung des Rätsels zu erfahren, das er ihm gerade aufgegeben hatte.
Zink zuckte fragend mit den Schultern. Er kam nicht drauf.
„Wer Barzel nicht will“, fuhr Walko fort, „der kann entweder mit Nein stimmen oder sich der Stimme enthalten.“ Er machte eine Pause und holte tief Luft, ehe er fortfuhr. „Man kann drittens dem Kanzleraspiranten Rainer Barzel die Stimme auch dadurch verweigern, dass man bei der Abstimmung zwar anwesend ist, sich aber nicht an ihr beteiligt. Weil Barzel für sein Misstrauensvotum die absolute Mehrheit aller im Bundestag vertretenen Abgeordneten braucht, zählt jede nicht abgegebene Stimme wie ein Nein.“
Jetzt begriff Zink. „Klar!“, murmelte er. „Barzel muss beweisen, dass die Mehrheit der stimmberechtigten Abgeordneten hinter ihm steht. Das heißt, er muss zweihundertneunundvierzig Stimmen zusammenkriegen…“
„Genau“, grinste Walko, „und die SPD muss gar nichts beweisen. Willy Brandt ist der gewählte Kanzler und bleibt es so lange, bis ein anderer Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen bekommt. Aus die Maus. So steht es im Artikel 67 Grundgesetz. Wir müssen Barzel beim Stimmensammeln nicht helfen. Wir können in Ruhe sitzen bleiben und zuschauen, ob er es schafft oder nicht.“
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Hans Werner Kettenbach war elektrisiert, als ich mit dieser Information aus dem Bundeshaus kam. Er schloss die Tür seines Büros, bat mich Platz zu nehmen und sah mich forschend an.
„Wenn das stimmt, ist es der Aufmacher, und wenn wir es allein haben, werden wir landauf landab damit zitiert“, sagte er. „Wir brauchen aber eine zweite Quelle. Und die müssen Sie finden! Meinen Sie, das geht?“
„Es ist schwierig“, antwortete ich. „Denn aus irgendwelchen Gründen will Wehner es unbedingt unter der Decke halten. Und wenn die merken, dass wir es haben, werden sie dafür sorgen, dass es nicht exklusiv bleibt. Im Übrigen ist meine Quelle absolut glaubwürdig. Der hat mich noch nie geleimt.“
Kettenbach lächelte nachsichtig.
„Trotzdem: Eine exklusive Falschmeldung ist schlimmer als eine richtige Meldung, die alle haben. Versuchen Sie es doch bitte noch mal!“
Den nun folgenden Dialog mit dem damaligen Pressesprecher der SPD-Fraktion, Wolfgang Jansen habe ich immer noch in guter Erinnerung. Ich habe ihn – nahezu wortwörtlich – in meinem Roman wiedergegeben, als ein wunderbares Beispiel dafür, wie Pressesprecher die Wahrheit verschweigen können, ohne zu lügen:
Als Zink Wolfgang Jansen anrief, den Pressesprecher der SPD-Fraktion, und ihn fragte, ob es denkbar sei, dass sich die SPD am Donnerstag an der Abstimmung nicht beteilige, hörte er vom anderen Ende der Leitung zunächst nur ein langes, vieldeutiges Schweigen.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Jansen schließlich.
„Auf dem Weg des Nachdenkens“, behauptete Zink. „Wenn man das Grundgesetz liest und die Geschäftsordnung des Bundestages dazu legt, dann weiß man doch, dass bei dieser Abstimmung nur die Ja-Stimmen zählen.“
„Das stimmt“, bestätigte der Pressesprecher. „Aber wer liest heutzutage noch das Grundgesetz oder gar die Geschäftsordnung des Bundestags?“
„Ich zum Beispiel“, sagte Zink.
Und als Jansen weiter beharrlich schwieg, fügte er hinzu: „Deshalb wäre es doch nicht nur denkbar, sondern sogar legitim, wenn die SPD ihre Ablehnung des Kandidaten Barzel dadurch zum Ausdruck brächte, dass sie ihm demonstrativ die Stimme verweigert. Mit anderen Worten: Dass sie bei der Abstimmung sitzen bleibt?“
„Denkbar ist vieles“, flötete Jansen.
„Du würdest es also auch nicht dementieren, wenn wir es schrieben?“
„Wir würden es nicht bestätigen“, entgegnete Jansen.
„Also stimmt es?“
„Wenn wir etwas nicht bestätigen, heißt das noch lange nicht, dass es stimmt.“
„Würdet ihr es denn dementieren?“, insistierte Zink.
„Ich bleibe dabei“, wiederholte Jansen. „Wir würden es nicht bestätigen.“
„Ich habe das Gefühl, dass ihr es plant, aber nur noch nicht rauslassen wollt“, bohrte Zink. Er hoffte, Jansen damit aus der Reserve locken zu können.
Jansen jedoch schwieg.
„Könntest du denn bestätigen, dass ihr im Fraktionsvorstand darüber geredet habt?“
„Über interne Sitzungen sagen wir grundsätzlich nichts“, antwortete der Pressesprecher.
„Gab oder gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber?“
Jansen schwieg.
„Du kannst es noch so oft versuchen“, sagte er schließlich. „Wer was mit wem in unseren Vorstandssitzungen beredet, das geht niemanden etwas an.“
„Ich finde doch“, beharrte Zink.Er hatte jetzt das sichere Gefühl, dass Walkos Information stimmte und Jansen in der Zwickmühle saß. Wienand hatte die Idee gehabt, alle waren einverstanden, aber Wehner, genannt der Onkel, hatte verfügt, dass über die geplante Sitzblockade der SPD nichts nach außen dringt. Also durfte Jansen es nicht bestätigen. Er konnte es aber guten Gewissens auch nicht dementieren, weil er wusste, dass es stimmte.
„Du würdest mir einen Gefallen tun“, sagte Jansen nach einer längeren Pause, „du würdest nicht nur mir, sondern auch der gesamten SPD-Fraktion und dem Onkel einen Gefallen tun, wenn Du darüber nichts schreibst. Ich kann Dich nicht daran hindern, aber besser wäre es, du ließest es sein.“
Jetzt schwieg Zink.
„Bist Du noch da?“, fragte Jansen.
„Ja. Aber ich fürchte, ich kann euch diesen Gefallen nicht tun.“
„Okay!“, seufzte Jansen.
Natürlich hatten sie die Geschichte gebracht. Es war der Aufmacher, der am nächsten Tag auf der Seite eins stand und überall zitiert wurde.
Die Geschichte sorgte für Aufsehen.
Von der SPD wurde nichts dementiert aber auch nichts bestätigt. Die Partei- und Fraktionssprecher schwiegen beharrlich. Umso lauter zeterten die Union und ihre journalistischen Hilfstruppen.
„Sitzblockade!“ titelte BILD.
„SPD beschneidet Wahlrecht“, schimpfte die WELT.
Sie offenbare ein „gestörtes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie“, assistierte Leo Wagner im Pressedienst der CDU/CSU-Fraktion – ausgerechnet er.
Aber auch andere Zeitungen regten sich auf: Von „SPD kneift“ bis „Wehner kettet Genossen an“, lauteten die Überschriften.
Liberale Blätter monierten, wenn die SPD tatsächlich sitzen bliebe, sei die Abstimmung jedenfalls zu einem Großteil nicht mehr geheim. Jeder Abgeordnete aus den Reihen der SPD, der sein Wahlrecht wahrnehme und sich entgegen der Abrede doch beteilige, setze sich automatisch dem Verdacht aus, gegen Brandt und für Barzel zu stimmen.
Genau das aber war der Sinn der Übung.
„Damit haben wir sie ausgetrickst“, sagte Wienand, als Zink später mit ihm darüber sprach.
*
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis im Plenarsaal alles gesagt worden war, was an diesem Tag noch zu sagen war. Zuerst ergriff Kurt Georg Kiesinger das Wort, der vor Willy Brandt als Kanzler der Großen Koalition drei Jahre lang die Richtlinien der Politik bestimmt hatte. Danach sprachen Herbert Wehner für die SPD, Wolfgang Mischnick für die FDP-Fraktion. Auch Richard von Weizsäcker, der Vizekanzler Walter Scheel und Innenminister Hans Dietrich Genscher traten ans Rednerpult. Zuletzt meldete, obwohl er eigentlich nichts mehr hatte sagen wollen auch Willy Brandt und verteidigte ein letztes Mal seine Politik der Entspannung.
Danach waltete der Bundestagspräsident seines Amtes.
Norddeutsch näselnd, ohne Punkt und Komma, wie ein Notar betete Kai Uwe von Hassel von der CDU die einschlägigen Paragrafen der Geschäftsordnung herunter, als sei er selbst überhaupt nicht beteiligt. Dann endlich, kurz vor zwölf begann der Namensaufruf. In alphabetischer Reihenfolge wurden die Abgeordneten aufgerufen, von Manfred Abelein (CDU) bis Werner Zywitz (FDP). Sie alle wurden aufgefordert, nach vorne zu den Schriftführern zu gehen und sich dort die Stimmkarten abzuholen. Um keine Stimme zu verlieren hatte die CDU/CSU auch alle Kranken aufgeboten. Zuletzt wurde Karl Theodor Maria Georg Achatz Eberhart Joseph Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg, der Großvater des späteren CSU-Senkrechtlanders Karl Theodor zu Guttenberg, im Rollstuhl zur Stimmkabine gefahren. Er war, obwohl sehr hinfällig mit dem Krankenwagen aus Bayern nach Bonn gekarrt worden.
Es war genau 12:59 Uhr als von Hassel die Sitzung unterbrach.
An einem Tisch, der direkt unter der Pressetribüne stand und deshalb von dort weder fotografiert noch eingesehen werden konnte, begannen die Stimmenzähler mit der Arbeit.
Während sie zählten, war es nahezu still im Hohen Haus.
Man sah, wie Barzel in der ersten Reihe unruhig in seinem Sitz hin und her rutschte. In wenigen Minuten würde er in der Villa Hammerschmidt die Ernennungsurkunde entgegennehmen, die von den Kalligrafen der Präsidialamts schon für ihn vorbereitet worden war.
Barzel stand kurz vor dem Ziel.
Er würde der jüngste Kanzler aller Zeiten sein.
Alle Kameras waren auf ihn gerichtet. Um ihn herum scharten sich seine Anhänger – aber niemand redete laut. Alle flüsterten nur miteinander.
Auch auf der Pressetribüne war es ungewöhnlich still.
Man wartete und wartete.
Die Auszählung zog sich in die Länge. Zwischendurch hörte man vom Zähltisch ein paar nicht erkennbare Ausrufe.
Und dann, es muss gegen Viertel nach eins gewesen sein, lief einer der Zähler – ich glaube, es war der SPD-Abgeordnete Dietrich Sperling – mit nach oben gerecktem Daumen vom Zähltisch in den Saal. Ein FDP-Abgeordneter folgte ihm auf dem Fuß, ebenfalls strahlend. Und hinter den beiden schlich mit traurigem Gesicht der CSU-Abgeordnete Lorenz Niegel zum Platz von Rainer Barzel.
Sperling nahm Kurs auf Wehner und Brandt die in der ersten Bankreihe des SPD-Blocks saßen. Er flüsterte den beiden etwas zu. Der FDP-Abgeordnete tat dasselbe auf der anderen Seite des Plenarsaals. Er unterrichtete Scheel, Genscher und Mischnick.
Wehner stand ruckartig auf. Er ergriff eine Hand des neben ihm sitzenden Kanzlers, riss sie hoch und verbeugte sich.
Ebenso schnell wie er sie ergriffen hatte, ließ Wehner Brandts Hand wieder los.
Er setzte sich hin und starrte wortlos geradeaus.
Brandt selbst rührte sich nicht.
Aber nun sprangen immer mehr Sozial- und Freidemokraten auf. Sie umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf die Schultern tanzten vor Freude. Einige sprangen, mit zwei Zeigefingern Rübchen schabend vor Barzel auf und ab und riefen: „Trotz Bestechung! Trotz Bestechung!“
Es gab keinen Zweifel mehr.
Das Misstrauensvotum war gescheitert.
Auch auf der Pressetribüne sprangen die Journalisten auf. Kettenbach und ich umarmten uns und fingen vor Freude an zu tanzen.
Noch bevor der Präsident das offizielle Ergebnis der Abstimmung verkünden konnte, war allen klar, dass Barzels Versuch gescheitert war.
Jetzt erhob sich auch Willy Brandt. Er ging, ohne nach rechts und links zu sehen zurück auf seinen Sessel auf der Regierungsbank. Und seine Ministerinnen und Minister folgten ihm. Die Sedisvakanz im Bonner Bundeshaus war beendet, noch bevor das offizielle Ende verkündet worden war.
Die Regierung Brandt/Scheel saß wieder fest unter dem Bundesadler.
Um 13 Uhr und 22 Minuten eröffnete Kai Uwe von Hassel dann endlich die unterbrochene Sitzung und gab das Ergebnis bekannt.
Von den 260 Abgeordneten, die sich an der Abstimmung beteiligt hatten, hatten zehn mit Nein gestimmt und drei sich enthalten. Für den Kandidaten Barzel hatten 247 gestimmt – zwei weniger als erforderlich.
Schon als die Zahl 247 verkündet wurde, brauste der Jubel auf.
Jetzt war es offiziell. Barzel hatte zwei Stimmen zu wenig bekommen.
Erneut richteten sich jetzt alle Kameras auf den Verlierer. Er saß fassungslos in der ersten Reihe und schüttelte immer wieder mit dem Kopf. Er sei, wie er später schrieb, „wir vom Blitz getroffen“ gewesen. Er wirkte wie betäubt, als er sich erhob und nach vorne zur Regierungsbank ging.
Es waren nur wenige Meter. Aber ihm kam es vor, wie ein kilometerlanger Weg. Eben noch hatte er sich auf dem Stuhl gesehen, auf dem jetzt wieder Willy Brandt saß.
Der Kanzler erhob sich.
Barzel reichte ihm die Hand, um zu gratulieren.
Brandts Mimik versteinerte. Er schien durch Barzel hindurchzusehen.
Das Bild dieses Handschlags ging um die Welt – und es schmückt jetzt auch den Umschlag meines Romans.
*
Die Pressetribüne leerte sich. Auch ich saß wie betäubt neben meinem Büroleiter Kettenbach. Alles was wir uns in den letzten Stunden ausgedacht, alle Formulierungen, die wir ersonnen und aufgeschrieben hatten, waren plötzlich nichts mehr wert.
Wir schauten uns an und umarmten uns noch einmal.
Seitdem waren wir per Du.
Wenige Meter von uns entfernt sah ich plötzlich Gerhard Löwenthal. Wie er es auf die Tribüne geschafft hatte, obwohl er keine Akkreditierung hatte, ist mir immer noch schleierhaft. Neben ihm saß ein dürrer Mensch. Ich kannte ihn aus der Schumannklause. Dort war er häufig aufgetaucht, um lauthals auf die Regierung und die Kommunisten zu schimpfen, die in der Kneipe gern ihr Bier tranken. Er hieß Klaus Krohe und alle nannten ihn KK.
Löwenthal war außer sich. Er mochte nicht glauben, dass Brandt und die von ihm im ZDF-Magazin allwöchentlich geschmähte Regierung immer noch im Amt waren.
Plötzlich sprang er auf und reckte die Faust in Richtung Regierungsbank.
„Wir kriegen Dich noch!“, schrie Löwenthal. „Wir kriegen Dich noch!“
Hasserfüllt stand er da. Ein wütendes, geiferndes, ohnmächtiges Denkmal des Kalten Krieges.
Ein Jahr später rückte sein Nachbar, der dürre KK ins Zentrum einer Geheimdienst-Affäre. Er war es, der den Hinterbänkler Julius Steiner zuerst zum SPIEGEL und dann zu Quick geschleppt hatte, um dessen Lügengeschichten zu verbreiten.
Als zwanzig Jahre später bekannt wurde, dass die Stasi den Hinterbänkler Steiner bezahlt hatte, war das schon keine richtige Sensation mehr. Und als mir im Mai 2004, zwei Jahre vor seinem Tod, der altersweise Rainer Barzel anvertraute, dass Franz Josef Strauß neben Julius Steiner und Leo Wagner der dritte Verräter aus den Reihen der Union gewesen sei, der ihm die Stimme verweigerte, waren alle möglichen Zeugen bereits tot.
Es gab zwar viele Indizien, die diese These stützten. Aber beweisen ließ sich das nicht mehr. Das ist der Grund, weshalb ich über die Ereignisse vom 27. April 1972 und die Steiner-Affäre von 1973 nur einen Roman schreiben konnte und keine journalistische Dokumentation.
Ich kann mich auch an den Tag erinnern, einschließlich Wetter. Es war bewölkt, aber trocken. Die Klasse hatte frei, im Klassenzimmer war ein TV aufgestellt.