Es ist eine Hymne auf den Kanzler und eine bitterböse Abrechnung mit der Riege führender Unionspolitiker. Wenige Tage nach dem gescheiterten Misstrauensantrag schrieb Heinrich Böll im Mai 1972 einen Essay „Über Willy Brandt“. Einer der schönsten und einfühlsamsten Texte, der je über den Sozialdemokraten geschrieben worden ist.
„Als einer, der von 1930 an deutsche Geschichte bewusst erlebt hat, empfinde ich mich nicht als mit Kanzlern verwöhnt, und ich betrachte Willy Brandt als Wunder…“, urteilt der Kölner Schriftsteller. Als Wunder, weil der Sozialdemokrat für Böll der erste Regierungschef ist, der kein „Herrenvolkskanzler“ ist, „kein Herr und Herrscher, der mit den Sporen klirrt und die Peitsche gelegentlich blicken lässt“.
Für Böll ist das der wahre Grund für die „hassgetränkte Abneigung“ der Konservativen gegen ihn. Brandt kam als unehelich Geborener nicht aus der Herrenklasse. „In Willy Brandts Lebenslauf“, so Böll, „liegt Stoff für eine Legende, fast für ein Märchen, das wahr wurde. Nicht der legitime Aggressionskatholik aus München (gemeint ist Franz-Josef Strauß) wurde Bundeskanzler, sondern der illegitime Herbert Frahm aus Lübeck, der diesen von der bürgerlichen Gesellschaft mitgegebenen Urmakel, diese Idiotenerbsünde auch noch verstärkte, indem er Sozialist und auch noch Emigrant wurde. Und er wurde Bundeskanzler nicht mit legalistischen Tricks, sondern legal.“
Bevor sich Böll in dem Text mit der Riege der aktiven Unionschristen auseinandersetzt, teilt er gegen den ersten Kanzler der Bundesrepublik aus. Er werde Adenauer nie dessen „Wahlkampfparolen vom unehelichen Kind und Emigranten Willy Brandt“ vergessen. Es sei erstaunlich, dass diese Verletzungen bei Brandt niemals zu Aggressionen führten. „Offenbar verletzt der Verletzliche nicht gern, und das macht ihn sporenklirrenden, gelegentlich die Peitsche schwingenden Herren von der Herrenpartei so verdächtig.“
Dann geht er ein auf die „Niveaulosigkeit der CDU während der Misstrauensdebatte“. Kein einziger Redner, keiner habe staatsmännisches Niveau gezeigt. Strauß noch weniger als Barzel. „Man hatte die große Stunde der Opposition erwartet: das Konstruktive, das über das Angebot einer Barzelkanzlerschaft hinausgegangen wäre. Nichts. Nichtssagend. Die Opposition präsentierte eine jetzt schon verschlissene Garnitur …. Es war die missglückte Show eines Herrenclubs.“
Trotz der großen Verehrung für Willy Brandt war Böll zu dem Zeitpunkt, als er den Essay schrieb, noch weit davon entfernt, die von Günter Grass organisierte Wählerinitiative für die SPD zu unterstützen. Noch im Juni ließ er den Schriftstellerkollegen wissen, für Willy Brandt werde er alles tun, aber nicht für dessen Regierung, in der ihm vor allem Innenminister Hans-Dietrich Genscher ein Dorn im Auge war.
Erst als es im Herbst 1972 zu vorgezogenen Neuwahlen kam, entschied er sich, den Wahlkampf für eine Fortsetzung der sozialliberalen Koalition zu unterstützen, trat beim SPD-Parteitag in Dortmund auf, hielt Wahlkampfreden in Kleve, Geldern und Bonn und bekannte sich in einem Brief gemeinsam mit seiner Frau Annemarie zur Unterstützung von Willy Brandt „in jeder uns möglichen Form“. Nicht weil er das kleinere Übel im Vergleich zu dem CDU-Kandidaten Rainer Barzel sei, „sondern weil wir in ihm und seiner Politik die einzige Möglichkeit sehen, die Bundesrepublik Deutschland innenpolitisch stabil zu halten und sie außenpolitisch vor Isolation zu bewahren“.