2006 wurde es eng für Merz. 2002 war er nach der Bundestagswahl von Angela Merkel, der Parteivorsitzenden, vom Fraktionsvorsitz verdrängt worden und seitdem einer von sechs Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. 2005 kam er nicht ins Kabinett, gewollt oder ungewollt.
2006 weigerte er sich, als Bundestagsabgeordneter seine Nebeneinkünfte offenzulegen, wie es die Norm ist. Er klagte vor dem Bundesverfassungsgericht und das entschied 2007 gegen ihn. Es stellte klar, dass das politische Mandat im „Mittelpunkt der Tätigkeit“ stehen müsse. Merz musste sich also entscheiden und entschied sich gegen eine weitere Kandidatur für den Deutschen Bundestag, gegen das politische Mandat. Seine Partei trauerte nicht sonderlich.
Aber vor seinem Abschied hinterließ er 2008 mit einem dicken Buch noch sein Glaubensbekenntnis: „Mehr Kapitalismus wagen“, so der Titel. Sein Vorschlag, komprimiert: Kapitalismus als Lebensform und Prinzip, für Wirtschaft, Finanzen, Bildung, Sozialsysteme. Er stellte dabei auch klar, was für ihn „…Sozialdemokratisierung“ bedeutete. Zum Beispiel: „…mit der Einführung der Pflegeversicherung als Umlagesystem haben wir eine Erhöhung der Lohnzusatzkosten in Kauf genommen“. Er war dagegen, klar. Er stellte fest, wo die Vorsitzende A. M. im Rückblick sanft geblieben war: „Das Anbiedern an die Kultur der Umverteilung bringt uns keinen Wahlerfolg mehr“. So hakte Merz seine politische Ära ab. Die Union gewann die kommenden Wahlen ohne ihn im Bund 2009 und 2013 und 2017.
2021 rieben sich manche und mancher überrascht die Augen: Als Frau Merkel ihr Ausscheiden für die Bundestagswahl ankündigte, sprang Friedrich Merz sofort aufs Spielfeld. Bewarb sich um den Parteivorsitz. Merz und Parteivorsitzender? fragte sich wohl auch ein größerer Teil der CDU. Merz verlor denn auch mal wieder gegen eine starke Frau, Annegret Kramp-Karrenbauer. Dass er ihr dann bei der Wahrnehmung ihrer komplizierten Aufgabe besonders geholfen hätte, wurde mindestens öffentlich nicht erkennbar. Dass er dann im Fernkampf gegen Söder und im Nahkampf gegen Laschet und Röttgen verlor, sprach für den Instinkt der CDU und der ganzen Union.
Merkels Endspurt in Kanzleramtszeit und Vorsitzenden-Zeit musste ohne größeren Beitrag von ihm auskommen. Er wartete auf seine Chance. Ob die identisch ist mit der Perspektive seiner Partei, war für ihn selbst wohl keine Frage. Nach der Bundestagswahl schon gar nicht. Er bekam die Rolle des Retters geschenkt und nahm sie fröhlich an. Schritt Eins geschafft. Für Merz. Ob auch für die CDU, muss sich noch zeigen.
Die Wahl – was der Union in ihrer Selbstbespiegelung wohl entgangen ist – war eine Zeitenwende: Olaf Scholz zeigte Vernunft und Verstand und gewann Respekt und Vertrauen bei vielen Menschen. Auch die Bundestagswahlen um das Kanzleramt. Er bildete für die SPD und mit den Grünen und der FDP eine Koalition dieser Zeit.
Die SPD insgesamt wollte gewinnen, um zu regieren. Gut so. Das überzeugte. Kanzler für alles. Und Arbeit, Soziales, Gesundheit, Innen und Verteidigung. Die Grünen gleicherweise. Mit zwei interessanten Persönlichkeiten an der Spitze. Frau Baerbock und Herr Habeck. Auswärtiges und Wirtschaft, also Umwelt umfassend. Die FDP gleicherweise. Herr Lindner war wichtig und ist wichtig. Um Geld geht’s immer und noch mehr als erwartet. Und um politischen Liberalismus. Die Mischung hat was. Situativ und perspektivisch. Test und erste Runde.
Und nun Merz.
Was will Friedrich Merz mit dem Parteivorsitz der CDU?
Vielleicht relevanter: Was will die CDU mit einem Vorsitzenden, der sich nicht für eine solche Volkspartei eignet?
Interessieren ihn das Adenauer-Haus, die Bürgermeister, die Parteigliederungen und Ortsunionen wirklich?
Ist ihm der Vorsitz mehr als das Sprungbrett für die Kanzlerkandidatur?
Bei der CDU und mindestens bei Merz gehören Partei- und Fraktionsvorsitz in eine Hand. Seinem Begehr wurde kurzfristig entsprochen. Hauptsache: Ruhe im Karton. Merz forsch. Und keiner redet dazwischen. Die CDU ist sprachlos. In München als Union mit einer losen Kanone an Bord.
Die CDU-Mitgliedschaft wollte es so und will es so und nickt pragmatisch. Ja, sie will endlich wieder klare, personalisierte Botschaft, fast: Koste es, was es wolle. Vieles spricht dafür, dass es teuer wird für die CDU, nicht nur fast. Sie werden ihren Willen bekommen. Die CDU als fünftes Rad am Wagen der relevanten Parteienlandschaft dieser Demokratie.
Die Probleme der Volkspartei CDU, letztlich der ganzen Union, sind offensichtlich: Freiheit und Gerechtigkeit und Solidarität, Ökologie und Ökonomie, Gesundheit, Bildung und Wissenschaft, Familie, Frauen, Jugend und Senioren, Soziales und Sicherheit, Digitales und Mobilität, Wehrhaftigkeit und Internationalität, alles, alles ist in der Wählerschaft und in der Programmatik der gegenwärtigen Koalition von SPD + Grüne + FDP substanziell enthalten und personalisiert. Markant auch im Überthema Finanzen: Lindner, FDP.
Anders: Die verbliebenen populären Positionierungen der Union sind in der Koalition alle erkennbar und wählbar, teils klarer und dominanter als bisher. Gerade auch für die Jüngeren, die interessiert nach vorne blicken.
Merzens Kapitalismus als Lebensform ist nichts, was in Deutschland der Mehrheit oder auch nur einer großen Minderheit erstrebenswert scheint. Genau das nicht. Nicht als Methode, nicht als Ziel. In Zeiten wie diesen schon gar nicht.
„Mehr Kapitalismus wagen“, Merzens Botschaft, ist nicht das Wahrzeichen einer Volkspartei, sondern einer Klientel-Organisation. Gibt die Union sich dazu her? Merz spricht von der „materiellen Ungleichheit beim Zugang zum Wohlstand“, – als Prämisse, nicht als Übel und Irrweg. Schritte zu mehr sozialer Gerechtigkeit sind nicht seine Sache. Sittenwidrig hohe und sittenwidrig niedrige Löhne wohl auch nicht das große Ärgernis für ihn.
Merz steht zur Demokratie, ohne Zweifel. Das ist gut. Aber auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Das tun alle in dieser Koalition auch, wie auch die CSU, auch die LINKE. Da bleibt CDU-spezifisch nicht mehr viel, was Wählerschaft für sie mobilisieren könnte. Die CDU wird existieren, klar, aber sie wird mit Merz an der Spitze beim Regieren im Bund immer seltener vermisst werden. Und diese Tendenz sickert auch in die Länder und Kommunen.
Friedrich Merz ist ein kluger, erfahrener Mann, ein erfolgreicher Kapitalist. Aber er ist nicht die prädestinierte Führungs-Persönlichkeit auf politischem Feld für dieses Jahrzehnt in Deutschland.
2030 wird er die Fünfundsiebzig erreichen. Und der Zahn der Zeit nagt auch an Kapitalisten. Gute Gesundheit! Aber das ist so.
Zunächst einmal wird Merz lange Zeit ohne große Aura in seiner Partei Kärrnerarbeit leisten müssen und erläutern, wie er per Kapitalismus das Land retten und Klimaschutz, Pandemie-Dellen und innere und äußere Sicherheit befrieden will. Und Europa als demokratische Einheit stabilisieren und zukunftsfähig machen.
In sorgenfreier Zeit mit immerwährender Sonne hätte Friedrich Merz ein interessanter Joker sein können für die Union. Aber die Zeiten sind nicht so. Das ist längst klar. Dass die CDU – anscheinend oder scheinbar? – ihre Zukunft als Volkspartei an die persönliche Perspektive von Friedrich Merz knüpft, ist beachtlich, aber nicht unumkehrbar, wenn man nicht auf die lange Rutsche will.
Realistisch scheint, dass die Sache für Merz anständig, aber irgendwann ohne Großen Zapfenstreich endet und dass er nicht viel Zeit auf die Auswahl dreier Musikstücke verwenden muss. Damit wird er leben können. Friedrich Merz ist nicht rätselhaft, sondern erkennbar und durchschaubar. Bei der CDU insgesamt weiß man‘s nicht so genau. Aber sicher denken dort doch einige über die Konsequenzen nach, die sich zum Beispiel aus der letzten Antwort seines Interviews in der FAZ vom 16. April 2022 ergeben: „Zunächst einmal müsste ein Ausgabenmoratorium beschlossen werden. Der Bundeskanzler müsste den Menschen sagen: Mehr als jetzt geht nicht. Wir müssen unsere Prioritäten neu ordnen. Wir können uns zum Beispiel größere Transferleistungen und neue Ausgabenprogramme erst einmal nicht leisten. Das wäre verantwortungsvolle Politik“.
Zum Autor: Franz Müntefering, Sozialdemokrat