Wer kennt schon die Frau, die in der tiefen Provinz von Ostholstein 1898 als Emmy Westphal unehelich und aus kleinen Verhältnissen stammend auf die Welt kam, dann nach ihrem Stiefvater Kröger hieß und sich als junge Frau mutterseelenallein nach Berlin aufmachte, um sich in der aufstrebenden kulturellen Metropole während der berühmt-berüchtigten Goldenen Zwanziger Jahre als Bardame Nelly eine eigene Existenz aufzubauen? Und wie kommt der allseits bekannte und hoch anerkannte Schriftsteller Heinrich Mann, dessen einschlägiger Roman Der Untertan gerade erschienen war und zu einem großen Erfolg wurde, weil er mit seiner Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs den Nerv der Zeit getroffen hatte, dazu, sich in diese Nelly zu verlieben und mit ihr später das Leben im Exil durch Dick und Dünn zu teilen?
Über diese ungewöhnliche Cross Class-Beziehung oder Mésalliance in politisch gefährlichen Zeiten kann man jetzt in einer umfangreichen Studie, die Annette Lorey kürzlich veröffentlicht hat, viel erfahren. Dass sich die Autorin schon seit geraumer Zeit mit dem Thema Deutsche Exilliteratur befasst und auf Basis umfangreicher Recherchen auch den „blinden Fleck“ namens Nelly Kröger-Mann ausgemacht hatte, belegt ihr bereits elf Jahre zuvor publizierter Aufsatz[1] . Zwischenzeitlich hatte sie ihre Forschungen ausgeweitet und intensiviert (Recherchen in diversen Archiven, Studienreisen etc.), um im Ergebnis dieses Konvolut vorzulegen. Das Buch genügt allen wissenschaftlichen Standards (s. den umfangreichen Anhang), ist aber zugleich sehr gut lesbar und bisweilen spannend geschrieben, so dass die Autorin über den Expertenkreis der Exilforschung hinaus ein breiteres Publikum anzusprechen vermag. Und es ist mehr als eine Biografie über Nelly Mann, sondern zugleich ein (mitunter romanhaft erzähltes) Geschichtswerk über eine Zeitspanne von rund 30 Jahren, die gerade für deutsche Verhältnisse von besonderer Brisanz ist: sie umfasst die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Herrschaft, die die kulturelle Elite der deutschen Schriftsteller und Künstler in das europäische und US-amerikanische Exil trieb, die Widerstandsbewegung gegen Hitler-Deutschland im In- und Ausland, bis hin zur Rückkehr der Emigrierten in der Nachkriegsperiode, sofern sie das Exil überlebt hatten. Die historische Einbettung verknüpft die Autorin mit individuellen Schicksalen und Erfahrungen, wodurch man eine Menge über die Existenzbedingungen und beruflichen Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten so namhafter Kulturschaffender und politischer, jüdischer und nichtjüdischer Emigrierten wie Thomas Mann und seine Großfamilie, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Hermann Kesten, Josef Roth, Lion Feuchtwanger, Wilhelm Herzog, Alfred Kantorowicz, Ludwig Marcuse, die Schickeles, Levys, Rottenbergs, Münzenbergs, Lips’ u.a.m. erfährt. Diese Mischung aus politischer, sozialer, kultureller Zeitgeschichte und individuell gelebter Erfahrung, rekonstruiert auf der Basis von Briefen, autobiografischen Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen und sonstigen Dokumenten, macht dieses Buch allein schon lesenswert.
Im Zentrum steht allerdings immer wieder die Person Nelly Kröger-Mann und ihr schweres Schicksal, ein Leben im Exil, in der Fremde und unter Fremden (denn sozial und kulturell trennten sie Klassengrenzen gegenüber all diesen „Größen“ der deutschen Exilanten, denen sie unpassend schien), das von Verunglimpfungen, Ressentiments, Herabwürdigungen geprägt war, die sie seitens der kulturellen Elite aus unmittelbarer Nähe bis zu ihrem Suizid 1944 erfahren musste. Bis auf wenige Ausnahmen wurde Nelly Mann auch noch nach ihrem Tod zum Objekt von Verachtung und Verleumdung, weil sie nicht dazu gehörte – allen voran seitens der Familie Thomas Mann: für Katia Mann war sie eine arge Hur‘, für Lion Feuchtwanger eine geile Hündin, für Ludwig Marcuse eine Lügnerin u.a.m. Die abschätzigen Urteile über sie nach dem Muster „schön, aber vulgär und dumm“ verbreiteten sich nicht zuletzt über Klatsch und Tratsch im Kreis der Emigrierten. Dass sie aus Verzweiflung auch immer wieder zum Alkohol griff, gerät zum Stigma ihrer ganzen Person. Zum verzerrten Bild Nelly Manns als schlichtes Gemüt und Säuferin hat auch Heinrich Breloer mit seinem vielbeachteten Film Die Manns beigetragen, in welchem die Nelly-Darstellerin Veronica Ferres fast ausschließlich betrunken und mit der Flasche in der Hand gezeigt wird.
Gegen solche Verzerrungen anzugehen, hat sich Annette Lorey mit ihrer Studie vorgenommen; gelungen ist ihr, dieses vorurteilsbelastete Bild auf der Basis ihrer Recherchen zugunsten eines realistischeren überzeugend zurechtzurücken. So schreibt sie im Schlusskapitel Dunkle Spiegel, mit Blick auf Monografien über die Emigration und den hiervon handelnden Roman von Joachim Seyppel (1975), in dem Nelly Mann unverkennbar vorkommt:
Der Boden ist bereitet für das eindimensionale, ikonische Bild einer Frau, deren Körper das Beste zu sein scheint, was sie zu bieten hat. Daran orientiert sich bis heute die Literatur über Nelly Mann, mal mit dem Dünkel des Bildungsbürgertums, mal mit moralischer Verachtung, meistens aus der Schlüssellochperspektive und immer mit hohem Unterhaltungswert. Die oft mit Hochmut vorgetragenen Verleumdungen verfolgten stets das gleiche Ziel: die soziale Vernichtung einer Frau, die nichts weiter getan hat, als selbstbestimmt zu lieben und zu leben – und das in politisch schwierigsten Zeiten. Einer Frau, die auch deshalb provozierte, weil sie nicht demütig war, sondern Mut, Beharrlichkeit und Stärke bewiesen hat im Überlebenskampf, aber die dennoch stets auf der Suche war nach Geborgenheit und einem sicheren Leben – und daran schließlich gescheitert ist.
Loreys Studie ist klar gegliedert – nach Kapiteln über Nelly Krögers ländlicher Herkunft und das Weimar in Berlin, wo sich die junge Frau und der bedeutend ältere Heinrich Mann kennengelernt haben, folgt die Darstellung den Stationen des Exils, zunächst in Südfrankreich, dann in den USA in und um Los Angeles. Lebendig geschildert wird das Berliner Nachtleben in Charlottenburg, damals ein Boheme-Viertel im Westen der Stadt, wo die Bars zu beliebten Treffpunkten gerade auch für Linksintellektuelle wie Heinrich Mann gereichten. Der bekannte Schriftsteller wird als Nonkonformist geschildert, distinguiert und eher unnahbar, mit dem äußeren Schein der Bürgerlichkeit versehen und einen unkonventionellen Lebensstil pflegend, worin er sich sehr von seinem Bruder Thomas unterschied.
Die Autorin hebt auf die politischen Veränderungen des aufziehenden Nationalsozialismus ab, die hier besonders scharf ins Blickfeld gerieten: die Präsenz der SA auf den Straßen, Schlägertrupps, die durch die Kneipen ziehen; schließlich die Reichstagswahlen von 1932, wo Hitler die meisten Stimmen davonträgt – all dies von Heinrich Mann als durch und durch politischer Mensch und Antifaschist mit Sorge beobachtet und kritisch verfolgt.
Die Nähe und das Vertrauen zwischen Nelly Kröger und Heinrich Mann zeigen sich bereits bei seiner unbemerkt gebliebenen Flucht aus Berlin 1933, die sie tatkräftig unterstützt und mit organisiert hatte, um Monate später ihm nach Südfrankreich zu folgen. Sein Interesse an ihr mag auch im Erkennen eines politischen oder Klassen-Instinkts, über den sie wohl qua Herkunft verfügte, begründet gewesen sein; so schreibt sie ihm Briefe mit versteckten Botschaften, um ihn über die politische Lage in Deutschland auf dem Laufenden zu halten, ohne ihn zu gefährden; oder darin, dass sie ihm Szenen aus dem Alltagsleben in Nazi-Deutschland schildert, auch aus dem Widerstand (Nelly ist mit einem jungen Kommunisten befreundet), die Heinrich Mann als Stoff für einen Essayband verwendet, um den Franzosen die neue politische Lage in Deutschland zu erklären. Und dass ihn auch die soziale Herkunft seiner Freundin interessiert, die seiner eigenen völlig entgegengesetzt und unvertraut ist, zeigt sich daran, dass er anhand der ausführlichen Schilderungen Nellys über ihre in Armut verlebte Kindheit und Jugend in der Provinz einen Roman verfasst, der unter dem Titel Ein ernstes Leben erscheint und sich eng an der Lebensgeschichte Nelly orientiert. Dies zeigt, dass Heinrich Mann von Anfang der Beziehung an mehr in ihr gesehen und erkannt hat als nur ihren schönen Körper und ihre erotische Ausstrahlung.
Beispielhaft dafür, wie schroff die sozialen Gegensätze im Umfeld der untereinander bekannten bis befreundeten Exilierten im Hinblick auf Nelly Kröger waren, soll anhand der Schilderung einer Besuchsszene bei den Feuchtwangers in Südfrankreich, die der Gast René Schickele in seinem Tagebuch aufgezeichnet hat (von Lorey zitiert und teils paraphrasiert), gezeigt werden:
Immer wenn die Unterhaltung eine Wendung genommen habe, ‚die uns andere fesselt, gibt Frau Kröger unzweideutige Zeichen von Langeweile von sich‘ und betrachtet das Gespräch als ‚eine Missachtung ihrer Person, deren Bildungsgrad es ihr nicht erlaubt, ihren Ausführungen zu folgen.‘ Für sie gibt es nur ein Thema: ‚die deutschen Greuel. Das ist das einzige, wo sie anbeißt.‘ Heinrich Mann sitze ‚aufmerksam, ja beflissen‘ neben seiner Freundin, ‚er wird den Lübecker >Anstand< auch im Bordell nicht los, aber seine Haltung verrät, dass er sich des >ungeregelten Verhältnisses< bewusst ist. Als dann Julius Meier-Graefe aus seiner >feudalen Vergangenheit< eine Geschichte erzählt >von einem Korpsbruder, der hinausflog, weil er sich mit einer Landnerin gezeigt hatte<, wird Frau Kröger >rot und blass<, und alle fallen >wie eine Meute über die unbeendete Geschichte her und reißen sie, Frau Kröger zu Ehren, in Stücke.<
Annette Lorey kommentiert mit soziologischem Blick diese Szene wie folgt:
Mokant bis zur Bösartigkeit, aber präzise, wird hier das Modell der Abweichung beschrieben: Nellys äußere Erscheinung, Sprache, Benehmen und Umgangsformen passen ebenso wenig in diese Gesellschaft wie ihre mangelnde Bildung und vor allem ihre angeblich überaus anrüchige Vergangenheit. Schickele drückt aus, was Nelly Kröger in Emigrantenkreisen immer wieder unausgesprochen als Haltung begegnen wird: wir gehören – bei allen Differenzen – zusammen, weil wir die gleiche Herkunft und Bildung haben, wir erkennen einander an vielen scheinbar nebensächlichen Kleinigkeiten. Du hingegen gehörst nicht dazu, denn Du bist anders. So, wie der Burschenschaftler sich nicht mit einer Verkäuferin zeigen darf. Selbst ausgegrenzt im Exil, hebt sich die kulturelle Elite sozial ab und wertet sich dadurch auf.
Drastischer noch fallen die abwertenden bis vernichtenden Kennzeichnungen Nelly Krögers aus dem Kreis der Familie Thomas Mann selbst aus; um nur ein Beispiel anzuführen: da ist die Rede vom Typ Heinrichbraut, einer nicht salonfähigen Weibsperson (so werden Katia und Golo Mann zitiert). Einig ist man sich auch darüber, dass Nelly entfernt werden müsse, da die Existenz mit dem Weibe unmöglich sei; Heinrich jedoch weist das Ansinnen einer Trennung empört zurück. Wie schon erwähnt, schlagen auch die mit Heinrich Mann befreundeten Exilierten verbal zu: Joseph Roth spricht von einer Nutte, René Schickele von einer dummen Gans. Auch Alma Mahler-Werfel oder Eva Sternheim halten sich mit ihren abfälligen Urteilen nicht zurück.
Doch es gab auch einige aus dem Kreis der Emigrierten, die sich wertschätzend über Nelly Kröger geäußert und in ihr anderes erkannt haben, nämlich Herzenswärme, Echtheit im Charakter sowie die Befähigung zur guten Gastgeberin, Köchin und Wirtschafterin. Hierzu zählen die Paare Kantorowicz, Levy, Münzenberg, Lips und Rottenberg, die es mit ihrer Zuneigung und brieflichen Korrespondenz geschafft haben, Nelly das Leben im Exil erträglicher zu machen.
Verglichen mit den späteren Erfahrungen im Exil in den USA, geht es Heinrich Mann und Nelly Kröger in Südfrankreich zunächst relativ gut: Er, der die französische Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrscht, erfährt hier die Anerkennung, die ein Schriftsteller zum Überleben braucht wie das täglich Brot. Seine Sachen werden nachgefragt, übersetzt und publiziert, die Tantiemen ermöglichen ein halbwegs gutes Auskommen: sie sind weder begütert noch mittellos. Politisch wird Heinrich Mann zur Gallionsfigur des Widerstands im französischen Exil, der sich überall dort engagiert, wo es wichtig und nötig ist, und seine Stimme zählt, etwa beim Bemühen um die Errichtung einer antifaschistischen Volksfront. Nelly verfolgt dieses politische Engagement durchaus mit Interesse, begleitet ihn auch auf zahlreichen Veranstaltungen und Vortragsreisen.
Ihre Hauptaufgabe sieht sie jedoch darin, Heinrich Mann bei der Organisation des Alltags den Rücken freizuhalten. Während er seinen politischen, publizistischen und schriftstellerischen Tätigkeiten bis zur Erschöpfung nachgeht, besorgt und organisiert Nelly den häuslichen Bereich – die „klassische“ Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, hier jedoch von der Notwendigkeit diktiert, alternativlos und solidarisch zu verstehen. Man erfährt auch, dass sie sich die französische Sprache in Form von Wendungen, die sie für den Einkauf von Lebensmitteln braucht, selbst beibringt – mit der Folge, dass Nelly bald die Anforderungen der feine französische Küche meistert, was von verschiedenen geladenen Gästen, selbst aus der Familie Mann, anerkannt wird. Kochen als Anerkennungsquelle, immerhin. Anhand von Fotos (die Studie enthält zahlreiche Fotografien, die immer wieder als Anschauungsmaterial dienen und den Text belebend auflockern) aus dieser Zeit vermutet Lorey, dass es – trotz immer wieder erfahrener Demütigungen – Nellys glücklichste Zeit im Exil war.
Doch das trifft nur für eine begrenzte Zeit zu. Zum einen spitzen sich aufgrund des europaweiten Vormarschs der Hitler-Armee bis zur Belagerung von Paris und der Aufteilung Frankreichs in zwei Zonen die politischen Verhältnisse zu, die die Emigrierten dazu zwingen, Frankreich zu verlassen und die Flucht nach Übersee anzutreten. (Die dramatischen Umstände der Schiffspassagen sowie die Fluchtrouten über die französisch-spanische Grenze in den Pyrenäen, die detailliert von Lorey geschildert werden, sind allein lesenswert.)
Zum anderen erkrankt Nelly Ende 1938 so schwer, dass sie zum Notfall wird und einen zweimonatigen Klinikaufenthalt in Nizza über sich ergehen lassen muss. Es ist der Beginn einer schweren psychischen Krankheit, die auch in den USA immer wieder ausbricht und stationäre Behandlungen nötig macht; allerdings werden die Therapien (als Vorläufer der Psychiatrie) von der Autorin kritisch gesehen; die Rede ist von Essensentzug, Kältezufuhr des Körpers, sozialer Isolation und anderen drakonisch wie antiquiert anmutenden Maßnahmen mehr, welche die Symptome wie panische Angstzustände, Paranoia, Wahrvorstellungen nur oberflächlich zurückdrängen. Lorey spricht hingegen von einer sozialen Krankheit als Ausdruck ihrer Lebensumstände, womit die beschriebenen Zustände von Nelly wohl eher zu erklären sind als durch Diagnosen in Richtung von Nervenschwäche.
Denn mit der Flucht in die USA und der Wahl von Los Angeles als Exil-Wohnort haben sich diese Lebensumstände erheblich verschlechtert. Was in Loreys Studie ausführlich und plastisch dargestellt wird, auch in sozialer Differenzierung unter den Emigrierten, kann hier nur summarisch benannt werden: Während etwa Thomas Mann in den Vereinigten Staaten zu Ruhm, Ansehen und Reichtum kommt, verarmen die meisten der Emigrierten, die über keine finanziellen Rücklagen verfügen, so auch Heinrich Mann, der hier das Gegenteil an Bedingungen wie im französischen Exil vorfindet: Seine Publikationen werden nicht nachgefragt, er leidet unter Erfolglosigkeit und sozialer Vereinsamung, er beherrscht die englische Sprache nicht und fühlt sich fremd in der neuen Umgebung. Mit ihm leidet seine Frau Nelly (sie sind inzwischen verheiratet), die herkunftsbedingt stets große Angst vor Armut und sozialer Deklassierung hatte, auf ihre Weise an den neuen Bedingungen. Auch mit staatlichen Hilfsprogrammen für die Emigrierten und später, nach deren Auslaufen, mit bescheidener Unterstützung durch die Familie Thomas Mann, sieht sie sich gezwungen, sofern es ihr Gesundheitszustand zugelassen hat, einer niederen Erwerbstätigkeit nachzugehen. In Spitzenzeiten ihrer finanziellen Beschaffungsbemühungen arbeitet sie praktisch rund um die Uhr: Neben den Jobs schreibt sie für Heinrich Mann umfangreiche Manuskripte auf der Schreibmaschine ab, was mit ihrem niedrigen Bildungsstand eine erhebliche Heraus- bis Überforderung dargestellt haben muss und sie immer wieder erkranken lässt. Es ist bisweilen „schwere Kost“ zu lesen, wie diese Frau in ihrer Verzweiflung alles daransetzt, den Anforderungen standzuhalten, um daran letztlich doch zugrunde zu gehen. Nach vier missglückten Suizidversuchen „gelingt“ der fünfte – dieses Leben war wohl nicht mehr zu retten.
Vom Tod Nellys, auf den die ihr und Heinrich Mann Wohlgesonnenen mit Erschütterung und Mitgefühl, Bruder Thomas und Familie mit Erleichterung reagieren, wird auch in der Los Angeles Times ausführlich berichtet. Lorey kommentiert dies nicht ohne Sarkasmus: Die Frau des deutschen Schriftstellers ist nur deshalb von öffentlichem Interesse, weil ihr Ehemann der Bruder des prominenten Nobelpreisträgers ist.
Was Nelly Mann letztlich in die Selbsttötung getrieben hat, bleibt im Bereich der Vermutung und Schlussfolgerung aus ihren Lebensumständen:
Nicht nur die ständige Geldnot, ihr ‚armer Kopf‘ und die Fremdheit des Exils haben ihre Sehnsucht nach ewigem Schlaf übermächtig werden lassen; es war auch die soziale Ausgrenzung, die offene oder verdeckte Ablehnung, die ihr aus der unmittelbaren Umgebung entgegenschlug, trotz all ihrer Bemühungen um Akzeptanz. Und auch davor hatte Heinrich Mann sie nur bedingt schützen können, immer weniger, von Jahr zu Jahr. Annette Lorey hat mit ihrer umfangreichen Studie im Rahmen der Exilforschung und –literatur mehr als eine Lücke geschlossen. Sie schildert überaus engagiert das Leben einer Frau, die aus kleinen sozialen Verhältnissen stammt; ihr Bemühen, ihre Würde zu wahren, wofür einen harten Kampf ausficht, auch wenn sie letztlich daran scheitert. Das abschätzige Bild Nelly Manns, welches seitens der kulturellen Elite der Emigrierten kolportiert wurde, wird mit unzähligen Belegen und Dokumenten gerade gerückt. Das Buch verhilft dazu, ein schweres Schicksal und einen steinigen Lebensweg nachzuvollziehen, eingebettet in eine der übelsten Epochen deutscher Geschichte – und auch zu verstehen, was Heinrich Mann an dieser Frau geliebt hat. Traurig nur, dass nicht allein in der Literatur – wie etwa in Theodor Fontanes Erzählungen (s. meine Besprechung vom 01.05.2020 im Blog der Republik) – Cross Class-Beziehungen oder Mésalliancen fast immer zum Scheitern verurteilt sind, sondern, wie hier und anderswo, auch im realen Leben.
[1] Lorey, Annette: Nelly Mann – die „unglückliche Säuferin“? – Überlegungen zur biographischen Wahrnehmung von Heinrich Manns zweiter Ehefrau, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 32/2014. Hrsg. Von Andrea Bartl, Ariane Martin und Hans Wißkirchen, Lübeck 2010)