Am 27. April 1972 stand es Spitz auf Knopf. Willy Brandt sollte abgewählt, Rainer Barzel Bundeskanzler werden. Die Verträge mit Moskau, mit Warschau und mit Ost-Berlin lagen ausgehandelt auf dem Tisch des Bundestages, aber hatten keine Mehrheit. Zusammen mit Brandt sollten sie stürzen.
In dem Industriebetrieb, in dem ich als Angestellter diesen Tag erlebte, beherrschte üblicherweise der Lärm der Facondrehautomaten die Situation. Aber heute hatten einige Kollegen ihre Kofferradios mitgebracht. Kurz vor Bekanntgabe des Ergebnisses standen die Maschinen still. Ruhe! Und dann entlud sich ein großer Freudenschrei durch den ganzen Betrieb. Willy Brandt war mit knapper Mehrheit bestätigt und blieb Bundeskanzler. Was für ein Tag!
Man wusste nicht genau, was würde. Aber wir durften hoffen. Und nun bekamen die Verträge eine immer noch knappe, aber sichere Mehrheit. Respekt vor den – wenigen – Unions-Abgeordneten, die mit JA für die Verträge stimmten, Richard von Weizsäcker war dabei.
„Wir wollen gute Nachbarn sein. Innen und nach außen. Wandel durch Annäherung, Kontakte, Verhandlungen, – Vereinbarungen.“ Das waren die Botschaften dieser Zeit.
Aber es gab auch noch die laute, harte Gegenreaktion im Lande. Willy Brandt „der Vaterlandsverräter“, der „so tat, als ob es die DDR wirklich gäbe“ und der „Polen keine immer noch deutschen Ostgebiete“ abverlangte. Die Attacken waren massiv. Härter habe ich die fundamentalen Auseinandersetzungen zwischen den deutschen demokratischen Parteien nie erlebt, als in dieser Phase. Willy und die Sozialdemokratie hielten durch. Die FDP auch.
Dass Helmut Kohl, Zweifler bis Gegner der Verträge, ab 1982 als Bundeskanzler zu den Verträgen stand und weitere acht Jahre später nach der friedlichen Revolution in der DDR mit Gorbatschow eine neue Phase zwischen unseren Ländern auf der Grundlage dieser Verträge, mit großer Bedeutung für ganz Europa, formte, sprach für die Belastbarkeit dieser deutschen Demokratie. Ein gutes Zeichen auch an andere Länder. Es bedeutete Deutsche Einheit und Souveränität und Demokratie für zahlreiche andere europäische Länder, die wieder sie selbst sein konnten.
1989 und danach waren wir Deutsche auf Mauerfall und Vereinigung fixiert, aber die Implosion der Sowjetunion 1990/91 war natürlich der international noch viel schwerwiegendere Vorgang. Ein Weltreich endete. Und das Bestreben zahlreicher Regionen/Länder, ihr Selbstbestimmungsrecht wiederzuerlangen und Demokratie zu leben, bestimmte die Zeiten. Der 27. 4. 1972 und das Ergebnis für Willy Brandt eröffnete die Chancen auf historische Entwicklungen, in deren Mittelpunkt Frieden und Demokratie für alle betroffenen Staaten und ihre Menschen stand. Deutschland half, Frieden stiften, konkret. Eine großartige Sache für viele meiner Generation, – und überhaupt, – und auf immer.
Wir Deutschen, die 1972 zwischen zwanzig und vierzig – oder so ähnlich – alt waren, wir hatten jahrelang nichts gehört und gewusst von dem, was bis 1945 in deutschem Namen geschah, dann häppchenweise relativierende Wahrheiten, dann die brutalen Ungeheuerlichkeiten. Deutschland, schwierig Vaterland. Mit dem 27. 4. 1972 und seinen kurz- und mittelfristigen Perspektiven konnten wir zum ersten Mal doch stolz sein auf unser Land und sein Handeln und konnten gerne Deutsche sein. Und das Erlebnis trägt noch immer.
Die explosive Bi-Polarität, in der WESTEN und OSTEN, Kapitalismus und Kommunismus, Demokratie und Diktatur herrschten und sich bedrohten, endete so. Viel Gutes erwuchs aus dem Ende der offenen Konfrontation, in der deutsche Länder Waffenstillstandszone waren, abhängig von ihren Großmächten, die sich Alliierte nannten.
Aber fünfzig Jahre danach, am 27. 4. 2022 ist auch offenbar, wie vergänglich und abhängig von politischer Macht Freiheit und Demokratie sind. Endgültig gewonnen ist die Freiheit nie. Jetzt müssen wir sie verteidigen und ihr neue Perspektiven verschaffen. Abwarten oder gar resignieren dürfen wir nicht. Aber das tun wir auch nicht. Diese deutsche Demokratie hat eine stabile und zukunftsfähige Grundlage und Perspektive. Und sie ist hellwach und aktionsfähig und -willig. Und außer uns gibt es auch noch viele andere in Europa und der Welt, die für dieselbe Idee einstehen.
Die pauschale Diffamierung ganzer Völker und Staaten muss dabei Tabu bleiben. Die Verantwortung für den Rückfall in Unterdrückung von Freiheit bis hin zum mörderischen Krieg ist immer das Tun von Menschen, manchmal Gruppen, die dazu die nötige Macht erschlichen, bekommen oder sich erlogen haben. Es bleibt wahr: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Nicht alle Russen sind Putin-Jünger. Alle demokratischen Parteien und ihre Anhänger wissen das auch in Deutschland.
Man muss Verhandlungen suchen, Überzeugung versuchen. Aber wir dürfen uns nicht zweimal von demselben Mann und seinen Kumpanen und Lakaien belügen lassen.
- Die NATO muss stehen und alle schützen, die ihr angehören, bedingungslos.
- Der Ukraine und ihren Menschen müssen wir beistehen, so intensiv wir können, helfend im Alltag des Krieges und sie stärken für mutige Selbstverteidigung, zur Blockade des Angreifers.
- Putin und sein Regime sind Kriegsverbrecher, die lange getrickst und getäuscht haben, die jetzt kriegstechnisch und ökonomisch blockiert und in ihrer Widerstandskraft minimiert werden müssen.
- Putin und seine Handlanger gehören vor Internationale Gerichte, wegen Kriegsverbrechen und wegen Völkermord. Sie sind eine Schande für die Menschheit.
Die Besetzung der Krim durch die Russische Föderation und die Okkupation ukrainischer Regionen im russlandnahen Teil des Landes erweisen sich spätestens heute nicht mehr als spontane Willkür- und Befriedungs-Akte – das wäre schon schlimm genug -, es waren offensichtlich sorgfältig kalkulierte, hinterhältige Vorbereitungen für den Angriffskrieg 2022.
Gleichwohl wurden damals Vereinbarungen getroffen zum Umgang mit diesen ersten Geschehnissen, in der Hoffnung auf im weiteren friedlichen Umgang miteinander. Die Zusagen Putins waren nichts wert. Sie wurden gebrochen. Putin wird es schon damals geplant und gewusst haben. Er ist ein Lügner und Kriegsverbrecher. Aber die Ideen des Friedens, der Freiheit und der Demokratie werden Putin überleben und dann werden auch die Freundschaften zwischen Deutschen und Russen wieder größeren Platz haben und auch gelingen.
In zehn Jahren werden wir eine neue Zwischenbilanz ziehen. Dann ohne Putin, darf man heute hoffen. Er ist eine Zumutung für alle friedfertigen Menschen. Putin muss scheitern. Gewinnen müssen und werden die Ideen des friedlichen Miteinanders, für die es am 27. 4. 1972 eine so wichtige und richtige Weichenstellung gab.
Zum Autor: Franz Müntefering, Sozialdemokrat