1. Einleitung
Deutschland hatte einmal eine politische Ordnung für leitungsgebundene Energien, welche es Unternehmen rechtlich erlaubte, sog. „Demarkationsgebiete“ zu errichten. Sie waren jeweils mit einem Gebietsmonopol ausgestattet, um deren Abgrenzung und Erstreckung es in den Jahrzehnten zuvor massive Konflikte gegeben hatte. Berühmt ist der „Stromkrieg“ von 1901 – „Krieg“ ist ein angemessenes Bild, weil es um Territorien ging. Die abschließende rechtliche Fassung dieser Ordnung stammte aus dem Jahre 1937, also aus einer Zeit, als das nationalsozialistisch beherrschte Deutschland sich auf einen Krieg vorbereitete. Die Rechtfertigung für den Weiterbestand dieser Ordnung nach dem II. Weltkrieg in Westdeutschland, gegen die Ordnungsvorstellungen der Leitmacht USA, lautete: Leitungsgebundene Energien stellen ein „natürliches“ Monopol dar, das sei effizient nur in Monopolform zu bewirtschaften. Demgemäß wurde es eingerichtet, mit einer „Preisaufsicht“, um überhöhte Preise und folglich überhöhte Gewinne zu vermeiden. Es stellte sich dann heraus, dass die so konzipierte Ordnung sehr wohl zu völlig überhöhten Preisen führte, aber nicht wegen überhöhter Gewinnmargen sondern wegen einer Überproduktion von Sicherheit. Das gehörte zum Kernbestand der Bonner Republik, in der Zeit des Kalten Krieges, im Frontstaat Westdeutschland. Da konnten die politischen Spitzen in Deutschland den Bossen der Energiewirtschaft mal eben sagen „Mach mal …“, et vice versa.
Es kam das Ende des Kalten Kriegs. Es herrschte Frieden. Im Militärischen wurde eine Friedensdividende eingefahren. Das sollte auch für die Gas- und Stromwirtschaft der Fall sein. Das Mittel dafür firmierte unter dem Stichwort „Liberalisierung“. Die Friedensdividende wurde, so zeigt die Statistik, auch erreicht. Die Memoiren der Macher der ersten Stunden geben inzwischen preis, dass die Regulierer für Preisdegression sorgten, auch wenn dafür an der Substanz gezehrt werden musste. Seriös war das nicht. Es war wie bei der Vorbereitung der Privatisierung der Deutschen Bahn oder wie bei der Bundeswehr.
Die Kompetenz für das Projekt „Liberalisierung der leitungsgebundenen Energiewirtschaft“ war der EU übergeben worden, weil man sich nicht zutraute, dass die Bonner Republik ihre Festungsmauern selbst schleift. Die EU war am Ende erfolgreich im Schleifen dieser Mauern. 15 Jahre später war der liberalisierte Strom- und Gasmarkt Wirklichkeit. Es erwies sich zwar, dass mit der Liberalisierung das Volumen der erforderlichen Regulierung erheblich zunahm – um die Sicherheit der Versorgung wenigstens einigermaßen zu gewährleisten – vgl. Graphik im Anhang. Private Unternehmen kümmern sich um Ausnahmesituationen, die definitorisch selten auftreten, von alleine nicht wirklich, es rechnet sich einfach nicht.
Die kürzliche Betriebsaufgabe von Gasvertriebsunternehmen, die „günstige“ Preise geboten hatten und meinten, ohne Zukunftspreis-Absicherung auskommen zu können, war ein eher triviales Beispiel – die regelmäßigen Desaster in Texas, im Muttergebiet der Deregulierung, sprechen Bände. Es gilt eben: Mit dem Institut des Konkurses hat man eingerichtet, dass Unternehmen sich ihrer vertraglichen Verpflichtung zur Leistung, bzw. im negativen Fall zur Begleichung der Kosten aus Großschadensfällen, entziehen können – also gibt es auch keinen marktlichen Anreiz, gegen seltene auftretende Risiken substantiell Vorsorge zu treffen. Vorsorge wird allein selbstbezüglich getroffen, durch verschachtelte Konzern-Strukturen zur Haftungsbegrenzung nach oben oder in schwach ausgeprägte Rechtsräume von Drittstaaten.
Zudem gilt: Die ganze Deregulierungs-Philosophie war lediglich auf Basis des Weiterbestands der thermischen Kraftwerke, mit Atom, Kohle und Gas, konzipiert – ob es auch für den Prozess der Transition dieses wackeligen Gebildes in die Dominanz der volatil einspeisenden Energie aus erneuerbaren Quellen geeignet sein würde, hatte sich niemand vorbereitend überlegt. Inzwischen gibt es Erfahrungen mit der Trennung der Funktionen unter dem liberalisierten Regime. Die Wettbewerbsausrichtung bedeutet, dass Kooperation sehr stark formalisiert werden muss, weil die kooperierenden Leistungen als marktförmige Leistungen getrennt auszuschreiben sind. Unter dem neuen Regime volatiler Kraftwerke ist der rechtlich zu gestaltende Koordinationsbedarf deutlich höher als unter dem zu Ende gehenden Regime thermischer Kraftwerke, von Atom, Kohle und Gas.
2. Der Beginn der Energie-Kriegswirtschaft im aufziehenden Kalten Krieg 2.0
Mit dem 24. Februar 2022 hat sich die Welt für Europa geändert, auch die Energiewelt. Seitdem entwickelt sich wieder die Kriegslogik, das Sicherheitsbedürfnis überlagert alle überkommenen Maximen. Das gilt insbesondere für Energie, welches besonders leicht und augenfällig als Waffe zu gebrauchen ist.
Sehr konkret wird das bereits in einem kleinen Teil des Gassystems – bei der Bewirtschaftung von Gasspeichern, die in der EU gelegen sind. Da wird jetzt ein Pionierprojekt gestartet. In Deutschland hat der Bundestag am 25. März ein „Gasspeichergesetz“ verabschiedet, mit Füllstandsvorgaben; auf EU-Ebene wird parallel eine Ergänzung der Regulierung zur Sicherheit der Gasversorgung kurzfristig durchgezogen. Ziel ist vor allem sicherzustellen, dass die Gasspeicher für den nächsten Winter gefüllt werden, mit 90% der Kapazität per 1. November 2022. Das aber ist so radikal, dass der Geschäftsführer des Verbandes der Gasspeicherbetreiber, der Initiative Energien Speichern e.V. (INES), den Beschluss so kommentiert:
„Das Gasspeichergesetz führt Vorschriften ein, die die Gasspeicherung für Marktakteure unattraktiv werden lässt. In der Folge werden die politisch gewünschten Füllstände zu großen Teilen durch den Marktgebietsverantwortlichen sichergestellt werden müssen. Mit dem Gasspeichergesetz wird ein bislang dezentral marktwirtschaftlich organisierter Gasspeichermarkt innerhalb weniger Monate in zentral organisierte und politisch gesteuerte Strukturen umgebaut. Diese radikale Transformation bringt große finanzielle, rechtliche und operative Risiken mit sich.“
Klar, das ist eine Äußerung eines betroffenen Lobbyisten. Dessen ungeachtet hat er recht – die Änderung im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) ist eine Wende um 180 Grad. Sie ist zudem erst der Beginn.
3. Der Auslöser bzw. das Vorspiel: Das schlitzohrige Gazprom-Verhalten im Herbst 2021
Die neue Regulierung des Gassystems ist durch den Ukraine-Krieg und die Möglichkeit ausgelöst, dass die Erdgas-Verfügbarkeit im nächsten Winter als Waffe eingesetzt wird. Dagegen will sich die EU wappnen. Verstehbar ist sie nur, wenn man das Vorspiel vom Herbst 2021 kennt und versteht. Da hat Gazprom vorgeführt, welches „Spiel“ mit Marktmitteln unter der bestehenden Regulierung, also anscheinend legal, möglich ist.
Dargestellt wird das hier mit der Schilderung eines rhetorisch höchst begabten jungen Politikers. Bengt Bergt war beim Windkraftanlagenhersteller Nordex beschäftigt als technischer Redakteur – seine rhetorischen Fähigkeiten sind trainiert und somit geschliffen. Bergt vertritt den Wahlkreis Segeberg/Stormarn-Mitte und ist seit Herbst 2021 Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag sowie Mitglied im Ausschuss für Klimaschutz und Energie. Die Vorgeschichte in seinen Worten, einer Rede im Bundestag am 17. März 2022.
„Seit 1998 funktioniert der Gasmarkt nach den gleichen Regeln. … Im Sommer ist das Gas günstig, im Winter ist das Gas teuer. Im Sommer wird gekauft, im Winter verkauft, Geld gemacht; kein Problem, alles gut, der Markt läuft.
Bereits im Juni 2021 aber waren die Preise auf einem Allzeithoch, begründet durch das Wiederanspringen der Wirtschaft, Corona, die Frachtkrise; die weltweite Nachfrage war hoch …. Die Förderkapazitäten hatten noch nicht nachgezogen. Aber der Markt hat noch immer funktioniert: Im Sommer wurde gekauft, gespeichert, im Winter wurde verkauft, Geld verdient; so fair, so gut, kein Problem. Aber es gab schon erste Anzeichen, dass der höhere Preis im Sommer das Einspeichern unattraktiv macht.“
D.h. die bestehende Regulierung setzte darauf, dass die Marktteilnehmer ‚von alleine’ Gas für den Winter einspeichern, nicht weil das ihr Ziel sei oder weil sie eine solche Langfriststrategie als Marktteilnehmer von sich aus vollziehen, nein, nur im Normalfall, weil dann zu erwarten sei, dass mit der Preisdifferenz zwischen Sommer und Winter Geld zu verdienen sei. So blauäugig werden Gesetze zur Förderung des Marktes gemacht. Für den Nicht-Normalfall war nichts an Regulierung etabliert. Der aber trat in der zweiten Hälfte 2021 ein. Bergt:
„Letztes Jahr fiel zusätzlich auf, dass der Speicher in Rehden, der allein 17 Prozent unserer Speicherkapazitäten ausmacht, fast leer war. Dieser Speicher gehört astora, einer Gazprom-Tochter. Und die Firmen, die dort eingespeichert haben, gehören auch Gazprom. Das war nach dem Gesetz alles legal, es war unbundelt. Das heißt, der Speicher war zwar gebucht, aber er war nicht befüllt. Das Ziel dahinter – das ist jetzt offensichtlich – war, Druck hinsichtlich der Zulassung von Nord Stream 2 auszuüben.
Ich ergänze: Im Herbst war die Pipeline Nord Stream 2 (NS2) betriebstechnisch zugelassen, sie war mit Gas befüllt, es stand allein die eher formaljuristische Zertifizierung des Betreiberunternehmens noch aus. Da lag es angesichts der generellen Nicht-Normal-Situation nahe darauf zu setzen bzw. mit herbeizuführen, dass angesichts der knappen Kapazität des Pipeline-Ferntransport-Systems der jenseits dieses Systems angelegte Vorrat nicht reichen wird und Deutschlands Regierung gegen Winterende vor die Wahl gestellt werden könnte, entweder den Mangel zu verwalten oder dem NS2-Betreiber eine Ausnahmegenehmigung zu geben, damit erstmals Gas durch NS2 nach Deutschland fließen zu lassen. Bergt weiter:
„Mit genau diesen 17 Prozent zu wenig im Speicher sind wir durch den Winter unterwegs gewesen. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie sind durstig und rennen in den Supermarkt, aber dort, wo sonst die Getränke stehen, steht nur Leergut, und vor dem Regel befindet sich eine Kette, sodass keiner volle Flaschen einräumen kann. Das ist die Situation, meine Damen und Herren; so sah es aus. Diese Sorge um Knappheit hat den Weg für die grenzenlosen Spekulationen und Preisaufschläge von 500 bis 600 Prozent möglich gemacht, obwohl wir genug hatten.
Es gab keine Knappheit – gibt es übrigens immer noch nicht –; es wird nur kräftig mit der Angst Geld verdient.“
Korrekt geschildert von Bergt. Nur warum dieses völlig illegitime Geld-Einheimsen legal sein soll, erschließt sich mir nicht. Wofür gibt es eine Wettbewerbsaufsicht wenn nicht für das Einschreiten in solchen Fällen? Bergts „alles legal“ bezieht sich m.E. lediglich auf das EnWG, nicht auf das Kartellrecht.
4. Von Limo, Regal und Ketten
Hier Bergts Schilderung der Vorgänge um Rehden im Detail – auch dass sich Derartiges wiederholen kann, soll mit dem Gasspeichergesetz unterbunden werden.
„Wir brauchen Regeln mit dem Ziel, durch die Vorgabe und Einhaltung von Mindestfüllständen Versorgungssicherheit herzustellen. Wir brauchen die Möglichkeit, Gas auf den Markt zu bringen, wenn es nötig ist, damit wir nicht sehenden Auges in die nächste Krise laufen. Und wir wollen uns ja unabhängig machen von russischem Gas. Dazu müssen wir in der Lage sein, zu puffern, wenn es einmal zu Engpässen kommt. Das ist ein superkomplexes Thema. …
In den Markt einzugreifen, ist sehr schwierig, weil der Markt durchliberalisiert ist. Das heißt, der Staat hat keine eigenen Speicher, hat kein eigenes Gas und hat auch keinen Zugriff auf die Speicher. Der Markt regelt also so lange, bis sich jemand nicht mehr an die Regeln hält. Das bringt uns zum Kern der Sache, zu den neuen Regeln:
Die erste neue Regel ist: Wir werden konkrete Speichervorgaben machen. Wir werden, um bei der Analogie zu bleiben, zu bestimmten Zeitpunkten vorgeben, wie viele Flaschen im Regal stehen sollen. Dazu gibt es regelmäßige Berichte zu den Füllständen und den Prognosen.
Dann kommt die zweite neue Regel. Wir regeln eine erzwingbare Bereitstellung ungenutzter Kapazitäten. Das heißt: „Du hast keinen Platz im Regal? Gut, wir stellen dir ein Regal.“
Dann die dritte neue Regel: Wir schreiben strategische Einlagerungsmengen aus, als Option für eine marktbasierte Befüllung von Speicherkapazitäten. Das heißt, wir legen einen Preis fest für die Limo, die im Regal stehen soll.
Bei der vierten neuen Regel machen wir marktbasiert das Gleiche, aber wir legen noch ein Zückerli obendrauf und sagen: „Okay, die Limo ist gerade knapp, wir zahlen dir ein bisschen mehr; wir brauchen die Limo, wir haben Durst.“
Dann kommt aber die fünfte neue Regel, und die ist die wichtigste: Wenn das Wirtschaftsministerium und die Bundesnetzagentur sagen: „Es wird Speicherplatz gebucht, wir brauchen unbedingt neue Vorräte“, dann wird physisches Gas gekauft und eingespeichert, und wir halten es, auch bis zum Ende der Heizsaison, geben es dann heraus, wenn es nötig ist. Das heißt, wir kaufen jetzt die Limo selbst, wir stellen das Regal, und wir haben die Kette vor dem Regal weggenommen. Dann behalten wir aber auch das Regal und verkaufen die Limo selbst.
Das Ganze wird kontrolliert vom Wirtschaftsministerium und der Bundesnetzagentur. … Wir müssen aufpassen, dass da nichts schiefläuft. Denn der ganze Markt ist momentan wie ein Knallbonbon: Da ist die Regulierung auf der einen Seite, da ist der Markt auf der anderen Seite, und wenn wir an beiden Seiten zu sehr ziehen, knallt es vielleicht. Dann haben wir das Problem, dass wir das Erdgas rationieren müssen. Das müssen wir verhindern: ….“
5. Systematisches
So sieht es aus, wenn ein sehr tiefgehender Eingriff in Eigentumsrechte mit rhetorischer Begabung unter’s Volk gebracht wird. Die Änderung ist schon revolutionär. Wenn man ins Detail geht, gerade auf EU-Ebene, erkennt man die Herausforderung noch sehr viel deutlicher. Unter den Unternehmen, die da gezwungen werden sollen, sínd etliche deutsche Unternehmen, die Gazprom-Töchter sind, die alle Rechte unseres Rechtsstaates in Anspruch nehmen können. Und „Quasi-Enteignung“ ist ein fundamentaler Eingriff – eben revolutionär.
Blauäugig nimmt sich vor diesem Hintergrund aus, wie die Energie- und Klimaminister des Westens in ihrer G7-Sitzung sich zur Maßgabe Russlands verhalten haben, exportiertes Gas nur noch mit Rubel begleichen zu können. Sie haben die Importeure „aufgerufen“:
„… call on the companies based in their countries not to accede“
Das hört sich an wie zu seligen Zeiten der Bonner Republik. Aber das heute? Da sollen Unternehmensführer das Risiko eingehen, ihr Geschäft einzustellen, die Vermögenswerte ihres Unternehmens, für die sie als Treuhänder walten, abzuschreiben, allein deswegen, weil die Minister sie dazu aufgerufen haben, der Forderung ihres Geschäftspartners nicht zu entsprechen? Ohne Rechtsschutz für die Manager, ohne Garantie einer Entschädigung, falls die russische Seite in dem Poker nicht nachgibt? So funktioniert Kriegswirtschaft eher nicht. Das ist Täuschung der Öffentlichkeit. Unter Beihilfe der Medien. Zu erwarten ist, dass mit der kriegswirtschaftlichen Re-Regulierung Kosten für eher überhöhte Sicherheit und zudem große Entschädigungsansprüche vorprogrammiert sind.