Es ist ein unbequemes Buch, das ich gerade gelesen habe. Die Autorin Tupoka Ogette, eine Expertin in Sachen Rassismus, eine Trainerin, jemand, der selber Rassismus erfahren hat in der Schule, dann mit den eigenen Kindern, eine Spiegel-Bestseller-Autorin auch noch, hält uns den Spiegel vor. Nach dem Motto: Jeder von uns ist Rassist. Wer dennoch behauptet: Ich doch nicht. Ich bin offen, rede offen über Schwarze und nie negativ über sie, ich verteidige sie sogar, wird bei der Lektüre des Buches feststellen, wie schief er mit seiner Selbsterklärung- Ich doch nicht!- lag. Das Buch eignet sich kaum als Bettlektüre, weil es kein einfacher Stoff ist, den die kundige Autorin dem Leser ausbreitet. Aber es lohnt sich, man wird mal geschockt, mal belehrt, man lernt etwas kennen, was man eigentlich in Deutschland nicht für möglich halten würde. Und dennoch, der tägliche Rassismus ist da.
Ich will gleich ein paar Sätze zur Autorin sagen, damit der Leser weiß, um wen es sich handelt. Eine Schwarze Frau, verheiratet, Kinder, gut ausgebildet, geboren in Leipzig 1980. Ein Punkt, bei dem ich gleich angehalten habe, weil ich selber immer wieder einen Taxifahrer, wenn er ein Schwarzer war und dennoch fließend deutsch sprach, ihn ausfragen wollte, woher er denn komme. Natürlich hatte ich eine Antwort erwartet: Aus Afrika, also Ghana, zum Beispiel. Unsere Autorin ist als Tochter eines tansanischen Studenten der Landwirtschaft und einer deutschen Mathematikstudentin geboren. Aber eben in Deutschland, damals der DDR. Kurz vor der Wende wechselte die Familie nach Westberlin, wo Ogette das Abitur ablegte. Sie hat einen Magister in Afrikanistik und Deutsch als Fremdsprache von der Uni Leipzig und damit nicht genug auch einen Master in International Business von der Uni Grenoble. Ihr Handbuch „exit Racism“wurde ein Spiegel-Bestseller, sie hat mehrere Auszeichnungen erfahren.
Jeder Mensch ist gleich. Die Menschenwürde ist unantastbar und unteilbar und sie unterscheidet nicht zwischen Weißen und Schwarzen. Man schaue ins Grundgesetz. Aber das ist vielfach im Alltag anders. Weiße genießen Privilegien, Schwarze nicht. Man kann beliebig in das Buch von Tupoka Ogette schauen und stößt auf Beweise, die einen erschrecken. Auf Seite 160 finden wir Beispiele über den Kolonialismus, darüber wie Kolumbus Amerika entdeckte, wobei er glaubte, es handele sich um Indien. Und dann erzählt sie, wie Kolumbus die Freunde aus der europäischen Heimat aufforderte, mit ihm in das von ihm entdeckte Amerika zu gehen. Die Leute würden ihnen schon Platz machen, notfalls müsse man sie zwingen, mit Gewalt, „sie zerstörten die Häuser der Menschen, die dort lebten, taten ihnen weh und töteten sie sogar.“ Und was ist mit dem Gerede von den „edlen Wilden“ und den „Cowboys? Es stimmt halt nicht, es ist eine „verzerrte Projektion, die die grausame Ausbeutung, die Genozide, die Vertreibung und vor allem die bis heute anhaltende Unterdrückung und Marginalisierung von Native Americans verkennt.“ Schreibt Tupoka Ogette.
Auf der Seite 233 findet sich das Kapitel „In der Schule“. Tupoka Ogette spricht über ein Thema, das sie selber leidvoll erfahren hat. Ihr wurde in der vierten Klasse „keine Gymnasialempfehlung gegeben, weil die Welt ja auch Handwerker und Reinigungskräfte braucht.“ So hat man es ihr gesagt. Ihr Sportlehrer sagte der 15jährigen Tupoka, wenn man sie in zwei Teile schneide, „könne man wenigstens mit dem unteren noch etwas anfangen.“ Ihre Französisch-Lehrerin teilte ihr kurz vor dem Abitur mit, dass es Zeitverschwendung sei, sie weiter zu unterrichten, da Menschen wie Tupoka „eh unter der Brücke landen würden.“ Tupoka rannte dann in den letzten zwei Jahren ihrer Schulzeit zur Deutschlehrerin, „um mich wieder stark zu weinen. Ohne sie hätte ich es sicher nicht geschafft.“ Noch heute bekomme sie feuchte Hände, wenn sie ein Schulgebäude betrete. Alte Ängste, Verunsicherungen und Ohnmachtsgefühle paarten sich mit Wut und dem Entsetzen über die Verletzungen, die nun ihre und unsere Kinder erlebten, schreibt sie im Wissen, das eigene Kind nicht oder nur bedingt schützen zu können.
Rassismus, Diskriminierung, Entmenschlichung, all dies ereignet sich täglich. Der Mord an dem Schwarzen George Floyd ist nur eines von vielen schrecklichen Beispielen. Und wir haben gelernt, dass Rassismus historisch gewachsen ist. Christoph Kolumbus als Beispiel, Tupoka weist auch auf die Missionierung hin. Auch dort herrschte der Weiße Mann vor, der Privilegierte, weil Weiße. Rassismus äußert sich in Spott und schlechten Witzen, in ungerechter Behandlung, darin, dass man einem Schwarzen eher nicht traut, ihm aber Diebstahl zutraut, deshalb verschließt man schnell manches, wenn ein Schwarzer in der Nähe ist. Oder man versperrt das Auto, weil ein Schwarzer daran vorbeigeht. Das hat übrigens US-Präsident Barack Obama in seinem Buch beschrieben, weil er es als Student erlebt hatte. Rassismus zeigt sich im Kindergarten, in Familien, in Freundschaften. Und auch in der Musik-Klassik. Das glauben Sie nicht? Auf der Seite 275f beschreibt Tupoka Ogette dieses Problem: Schwarze Dirigenten würden bewusst vergessen. Schwarze Musiker würden schnell abgestempelt für Soul, Rap, Hip-Hop, für das Klassische eigneten sie sich nicht. So das gängige Vorurteil. In den klassischen Orchestern fänden sich bis heute kaum Schwarze Dirigentinnen und Dirigenten, die Klassik bleibe als Teil der gehobenen Bildung „einer exklusiven weißen Elite vorbehalten“.
Eine der wenigen Ausnahmen sei der US-Amerikaner Brandon Keith Brown. Der habe in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt: „Wir werden immer als etwas Unerwartetes bestaunt, wenn wir die Bühne eines klassischen Orchesters betreten. Wir gelten unbewusst als minderwertig- einfach, weil wir Schwarz sind.“ Und Brown kritisiert weiter: „Die klassische Musik unterteilt die Gesellschaft nach Rasse und Klasse. Schauen Sie sich doch in den Konzertsälen um, wer da sitzt und wer da nicht sitzt…Das ist eine hochfein verlesene Zuhörerschaft, ein ganz bestimmtes Grüppchen von weißen Menschen, die da zuhören. Und hier wird natürlich nicht die Musik verkauft, sondern hier wird im Grunde nur die Überlegenheit der weißen Rasse verkauft. Das klingt jetzt abstoßend und ekelhaft- weil es abstoßend und ekelhaft ist.“
Wie gesagt, es ist ein unbequemes Buch. Die Autorin will unbequem sein, das ist auch gut so, weil man sich sonst schnell wegducken würde und eine Entschuldigung für sich parat hätte. Tupoka Ogette will ihre Leser dazu bringen, aktiv daran zu arbeiten, „dass die Räume, zu denen du-gemeint der Weiße- Zutritt hast, weniger rassistisch werden.“ Es ist unsere Wahl, Verbündeter im Kampf gegen Rassismus zu werden. Jeden Tag. Immer wieder, weil das Konstrukt Rassismus auch uns, jeden von uns einengt. Am Ende zitiert sie die Autorin und Aktivistin Audre Lorde: „Ich bin nicht frei, solange irgendeine Frau unfrei ist, auch wenn ihre Fesseln ganz anders sind als meine eigenen. Und ich bin nicht frei, solange noch eine Person of Color angekettet bleibt. Und auch ihr werdet es bis dahin nicht sein.“
Das Buch sollte Schullektüre werden. Damit das System Rassismus verschwindet und wir „eine gerechtere Welt für uns alle schaffen.“
Tupoka Ogette: Und jetzt du. Rassismuskritisch leben. Penguin Verlag. München 2022. 329 Seiten. 22 Euro. ISBN 978-3-328-60218-7