Wie kann man nach dem flächendeckenden russischen Angriffskrieg auf Kommando Putins diese Überschrift wählen?
Ja, auch ich fühle mich betrogen und belogen. Ich bin enttäuscht und fühle mich getäuscht. Und ich muss bekennen, dass ich falsch lag in meiner Einschätzung, dass Putin zwar mit dem Militär droht, um die aus seiner Sicht berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands durchzusetzen, dass er aber keinen Krieg vom Zaune brechen würde. Der 24. Februar ist für alle, die auf ein friedliches Europa, auf das Völkerrecht gesetzt haben, ein rabenschwarzer Tag.
Ja, ich gestehe, dass ich für die geopolitische Sichtweise Putins, wonach der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Sicherheitsinteressen Russlands zu wenig Rücksicht genommen hat, ein gewisses Verständnis hatte. Nach der Vereinigung Deutschlands 1990 hat es bezeugte Zusagen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher oder auch von US-Außenminister Baker und vielen anderen gegenüber Michail Gorbatschow gegeben, dass die NATO sich nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ nicht nach Osten ausdehnen werde – zwar nicht vertraglich kodifiziert, wohl aber gab es mündliche Versprechen.
Und es gab danach auch Warnungen vor einem „historischen Fehler“ einer Ausdehnung der NATO nach Osten, so etwa von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan, von US-Außenminister Robert McNamara oder auch von Egon Bahr. Der Warschauer Pakt löste sich auf, während die NATO mit den Ländern Polen, Tschechien, Ungarn (1999), Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei und den baltischen Staaten (2004), Albanien, Kroatien (2009), Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) sich bis an die russische Grenze heranschob. Es gab die für Russland bedrohliche Stationierung von Raketen in Polen und Rumänien, die angeblich gegen iranische Raketenangriffe gerichtet seien. Trump hat Rüstungskontrollverträge (ABM-Vertrag, INF-Vertrag, Open-Skies-Abkommen) einseitig aufgekündigt. Man hat im Westen immer nur das in mehreren Abkommen mit Russland vereinbarte Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Staaten für einen Beitritt zur EU und zur NATO betont, die meist zugleich niedergelegte Rücksichtnahme auf die gegenseitigen Sicherheitsinteressen aber vernachlässigt. (Wobei natürlich auch die Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten legitim sind.)
Es wäre doppelbödig zu sagen, nur Putin falle in das geopolitische Denken des Kalten Krieges zurück. Natürlich haben die osteuropäischen und Balkan-Länder in die NATO gedrängt, aber der Westen, allen voran die USA haben ihrer Aufnahme auch unausgesprochen aus geopolitischen Motiven zugestimmt. Über Alternativen zur militärischen Friedenssicherung in Europa wurde zu wenig nachgedacht.
Zwar war auch die Einverleibung der Krim durch Russland ein glatter Verstoß gegen das Völkerrecht, aber sie wurde nicht (offen) mit militärischen Mitteln durchgesetzt.
Ja, auch Deutschland und Frankreich haben die Ukraine vielleicht nicht ausreichend gedrängt, den im Minsker Friedensabkommen von 2015 vereinbarten Sonderstatus von Luhansk und Donezk umzusetzen.
Aber das kann keine einseitige Aufkündigung eines Vertrages, den Putin selbst unterschrieben hat, rechtfertigen und schon gar keinen flächendeckenden Angriffskrieg auf die auch von Russland völkerrechtlich anerkannte Ukraine legitimieren.
Ja, die USA, die EU und zumal auch Deutschland verwiesen voller Stolz darauf, dass sie die Ukraine mit Milliarden Euro unterstützt haben; die USA auch zunehmend mit Waffen. Aber wurde damit Russland angegriffen? Es gab militärischen Schutz, aber gab es auch Angriffspläne der NATO auf Russland? Russland befand sich jedenfalls nicht in einer Notlage.
Auch dass der Westen keine Garantie abgeben wollte, die Ukraine nicht in die NATO aufnehmen zu wollen, ist kein Grund für einen Angriffskrieg auf dieses Land.
Und ja, ich habe mich in meiner friedenspolitischen Gesinnung an dem Strohhalm festgehalten, dass Putin in seiner Grundsatzrede vom 21. Februar nach seiner abwegigen Geschichtsbetrachtung über die Gründung der Ukraine immerhin auch noch gesagt hat: „Natürlich können die Ereignisse der Vergangenheit nicht geändert werden“. Ich habe mich auch noch mit folgenden Hinweis Putins täuschen lassen: „Trotz all dieser Ungerechtigkeiten, des Betrugs und des offenen Ausraubens Russlands hat unser Volk die neuen geopolitischen Realitäten anerkannt, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstanden sind, hat die neuen unabhängigen Staaten anerkannt.“ Und mit einer gewissen Beruhigung habe ich Putins Aussage registriert: „Gleichzeitig war und ist Russland immer dafür, die komplexesten Probleme mit politischen und diplomatischen Mitteln am Verhandlungstisch zu lösen“.
Putin missbraucht das Völkerrecht, wenn er in seiner Kriegserklärung vom 24. Februar sagt:
„Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Kapitel 7 Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen mit Zustimmung des russischen Föderationsrates und in Umsetzung der von der Föderalen Versammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk die Entscheidung getroffen, eine Sonder-Militäroperation durchzuführen.“
Nach diesem UN-Artikel haben nur Mitglieder der Vereinten Nationen ein Selbstverteidigungsrecht, das kann man von den selbsternannten Volksrepubliken beim besten Willen nicht sagen. Und die Erklärung Putins stellt den Sinn des Artikels 51 der UNO-Charta geradezu auf den Kopf, denn der Sicherheitsrat müsste umgekehrt die Notwehrmaßnahmen legitimieren. Schon gar nicht legitimiert ein „Hilferuf“ der abtrünnigen Volksrepubliken einen flächendeckenden Angriff auf die gesamte Ukraine. Die Verhinderung eines „Genozids“, wie sich Putin wohl unter Anspielung auf die Begründung für den Kosovo-Krieg zu rechtfertigen versucht, ist eine typische Kriegslüge. Mit der Ausrede einer „Schutzverantwortung“ für die Separatisten ist einen Überfall auf die gesamte Ukraine nicht zu legitimieren, das ist schon deshalb reine Kriegspropaganda, weil dafür auch „Schutztruppen“ im Donbass genügt hätten. (Was allerdings gleichfalls ein Bruch des Völkerrechts gewesen wäre.)
An dem nicht zu leugnende und nun von Putin als Einmarschgrund vorgeschobenen „extremen Nationalismus, ja auch (teilweise) „Nazismus“ ist sicherlich etwas dran, aber daran trägt Putin selbst ein gerüttelt Maß an Schuld, war es doch er selbst, der immer wieder auf die Ethnizitäten abgehoben hat. Es ist lächerlich, wenn er als autoritärer Herrscher, mit Günstlingswirtschaft (Crony-Kapitalismus) und nationalistischer Außenpolitik die Führung in der Ukraine beschimpft.
Der militärische Überfall auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen.
Das ist keine „Sonder-Militäroperation“, es ist ein völkerrechtswidriger und verbrecherischer Krieg.
Ja, es gab auch völkerrechtswidrige militärische Kampfhandlungen der USA, der NATO und auch von Deutschland, man denke nur an die Kriege im Kosovo, im Irak, in Syrien oder in Libyen. Solche Kriegseinsätze waren und sind zu verurteilen, damit kann Putin aber den Angriff auf die Ukraine nicht legitimieren. Zumal von diesem Angriff auf die souveräne Ukraine weit größere Gefahren für einen europäischen Krieg, ja sogar für einen Weltenbrand ausgehen.
Putin spricht die Drohung eines Welt- oder gar Nuklearkrieges sogar ausdrücklich aus: „Jetzt ein paar wichtige, sehr wichtige Worte für diejenigen, bei denen die Versuchung aufkommen könnte, sich von der Seite in das Geschehen einzumischen. Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen wurden in dieser Hinsicht getroffen. Ich hoffe, dass ich gehört werde.“
Und als wäre es des Wahnsinns nicht genug, versetzt nun Putin auch noch die Abschreckungskräfte des Landes in Alarmbereitschaft.
Ja, Putin hat mich und alle, die auf ein friedliches Miteinander gehofft haben, getäuscht und belogen. Er hat alle diplomatischen Bemühungen zumal in der letzten Zeit in geradezu zynischer Art und Weise eine Abfuhr erteilt. Er verstößt gegen alle Regeln, mit denen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs auf internationaler Ebene eine Friedensordnung aufgebaut und Regelungen für zivile Konfliktlösungen eingeführt werden sollten. Das allerschlimmste ist, dass Putin gegen Verträge verstößt, die sein Land geschlossen und teilweise er selbst unterschrieben haben, nicht nur gegen das Minsker Friedensabkommen von 2015, sondern auch gegen das „Budapester Memorandum“ von 1994, in dem sich Russland im Gegenzug für den ukrainischen (sowie kasachischen und belarussischen) Verzicht auf (sowjetische) Atomwaffen dazu verpflichtet hatte, die territoriale Integrität der Ukraine (und der der anderen beiden Staaten) zu respektieren.
Wie soll man nach solchen Vertragsbrüchen noch sagen können, vertragen kann man sich nur durch Verträge? Ist die Diplomatie und ist eine Entspannungspolitik am Ende?
Viele „Kalte Krieger“ triumphieren nun, sie wussten es ja schon immer: „Nicht wir haben versagt, nicht wir haben uns getäuscht: Das wart ihr“ (so Jasper von Altenbockum in der FAZ). Neben dem traurigen Schicksal und dem Schrecken für die Menschen in der Ukraine ist es eine Tragik in dieser Katastrophe, dass der Schock über das bis dahin nicht für möglich Gehaltene offenbar alle Schleusen für eine neue Stufe der Abschreckungspolitik öffnet und alle Hoffnungen auf eine neue Entspannungspolitik über Nach zerstört zu haben scheint.
Schröder, Merkel und Scholz seien gegenüber Putin naiv gewesen. Sie hätten ihn falsch eingeschätzt. Man müsse jetzt die Ukraine militärisch unterstützen, zumindest aber mit Waffen beliefern. Die USA müssten ihre militärische und nukleare Präsenz in Europa ausweiten. Man müsse die NATO-Truppen in den baltischen und osteuropäischen Staaten verstärken und endlich dauerhaft Soldaten stationieren. Und vor allem müsse die Bundeswehr mit erheblich mehr als derzeit 50 Milliarden Euro jährlich aufgerüstet werden. Nur militärische Abschreckung halte diesen Despoten Putin in Schranken. Alles was bislang für richtig gehalten wurde, könne nicht mehr richtig sein. Krieg dürfe nicht mehr Ultima Ratio sein, sondern zum Mittel der Wahl werden.
Kann diese Logik der Eskalation der militärischen Abschreckung zu einer stabileren Friedensordnung in Europa und angesichts der zentralen Rolle der Kontrahenten in der ganzen Welt führen? Hat nicht die Geschichte gelehrt, dass Wettrüsten keine Lösung darstellt? Können Waffenlieferungen oder gar ein Nato-Einsatz die geballte russische Streitmacht, die sich an der ukrainischen Grenze aufgebaut hat und nun von mehreren Seiten in die Ukraine einmarschiert ist, aufhalten? Wird mit Waffenlieferungen das Leid der ukrainischen Bevölkerung verringert werden und erhöht es die Chance für Verhandlungen zumindest über einen Waffenstillstand?
Die nukleare Abschreckung hat Putin nicht abgehalten, in die Ukraine einzumarschieren. Weder die NATO noch die USA wollen und können einen Krieg gegen die Atommacht Russland riskieren. Die begrenzte Wirkung der beschlossenen und auch noch weiterer Sanktionen, die – wenn überhaupt – ihre Wirkung erst längerfristig zeitigen können, wird die Ukrainer bitter enttäuschen. Niemand kann vorhersagen, wie lange der Widerstand durchgehalten werden kann. Angesichts von vielen Toten und Trümmern schmerzt es, dass die Solidarität mit der Ukraine so hilflos ist. Auf kurze Frist sind die Aussichten der Ukrainer trostlos.
Aber vielleicht kann ein Blick in die Geschichte wenigstens ein wenig Hoffnung machen. Man denke etwa an die Panzer in der ehemaligen DDR 1953, an die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 oder des „Prager Frühlings“ 1968 mit Waffengewalt durch die damalige Sowjetunion. Die Niederlagen wurden schließlich zu einem Sieg – man kann nur wünschen und alles was möglich ist tun, dass die Zeit der Leiden möglichst kurz sein wird und dass die Waffen möglichst rasch schweigen und weitere Opfer vermieden werden.
Das Völkerrecht kann nur dadurch gestärkt werden, dass man daran festhält und die Weltgemeinschaft sich einmütig und mutig dahinter stellt. Wie das im UN-Sicherheitsrat geschehen ist.
„Hätte“ und „müsste“ zählt in der Politik nicht. Geschichtliche Versäumnisse – welcher Art auch immer – lassen sich nicht wegdiskutieren, sie müssen dringend aufgearbeitet werden. Aber irgendwie muss es weitergehen. Das Ziel eines friedlicheren Miteinanders in Europa und der Welt darf bei allen Misserfolgen und allem Schrecken nicht aus den Augen verloren werden. Das müssen auch all diejenigen bedenken, die schärfere Sanktionen, die weitere Bewaffnung der Anliegerstaaten Russlands fordern und die sich mit Forderungen nach immer mehr Mittel für militärische Rüstung überbieten wollen. Wie es genau weitergehen wird, weiß leider im Moment wohl niemand, viel zu Umstürzendes ist seit dem 24. Februar geschehen. Vordringlich sind eine Waffenruhe und die Hilfe für Flüchtlinge und vor allem ein Rückzug aller Truppen.
Viele Lösungsversuche der Vergangenheit müssen als gescheitert gelten. Ein „weiter so“, geht nicht mehr. Wir stehen nicht nur rüstungstechnisch „blank“ da. Aber eine weitere Eskalation muss verhindert werden. Es gilt, nach neuen Wegen heraus aus der Konfrontation zu suchen. Wichtig wäre jetzt, dass die nach wie vor bestehenden Verträge der Helsinki-Schlussakte von 1975, der Charta von Paris von 1990 oder der Budapester Vereinbarung von 1994 endlich mit Leben erfüllt werden und neue Vorschläge und Initiativen für eine neue und stabilere europäische Friedenordnung und eine neue Sicherheitsarchitektur entwickelt werden. Das gebietet auch schon das Risiko einer bündnispolitischen Annäherung und einer Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Russland und China. Will man an die Stelle einer Vision eines „Eurasiens“ von Lissabon bis Wladiwostok lieber ein „RussChina“ von Peking bis Sankt Petersburg? So unvorstellbar es im Moment auch sein mag und so naiv es erscheinen mag, ich bleibe dabei: Vertragen kann man sich nicht mit Gewalt, vertragen kann man sich nur durch Verträge. Und ein dauerhafter Frieden in Europa kann – so schwer es heute auch fällt, daran zu glauben – immer noch nur mit und nicht gegen Russland bewahrt werden. Wenn man keine dauerhafte und lebensgefährliche Konfrontation zwischen dem Westen und einem russischen Machtblock will, ist eine Rückkehr an den Verhandlungstisch alternativlos. Denn auch die schärfsten Sanktionen und Waffenstarre sind keine Dauerlösung. Um so wichtiger ist es nun, dass Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, zu denen Präsident Selenskyj seine Bereitschaft erklärt hat, zustande kommen und dass wir auch aus Deutschland – was in unserer Kraft steht – die ukrainische Seite unterstützen.
Bildquelle: Homoatrox, CC0, via Wikimedia Commons