Noch befindet sich die deutsche Wirtschaft zum Teil im Corona-Modus. Viele Firmen machen immer noch Kurzarbeit und laufen nicht auf vollen Touren. Nicht wenigen fehlen Zulieferungen von Chips, Metallteilen und andere Materialien. Einige Bereiche – von Messerveranstaltern über die Gastronomie bis hin zur Eventbranche – werden wegen der Pandemie durch staatliche Gesetze und Verordnungen immer noch ausgebremst. Doch die Rückkehr zum Normalbetrieb ist vorgezeichnet. Der Bund und die Länder haben bereits grünes Licht für den Weg aus dem Lockdown ab Anfang März gegeben. In fast allen Unternehmen laufen dafür die Vorbereitungen auf vollen Touren.
Über 500.000 offene Stellen
Doch nicht wenige müssen feststellen, dass es kaum genug Personal für den Neustart mit „voller Fahrt voraus“ gibt. Schon jetzt werden über 500.000 offene Stellen von der Arbeitsverwaltung angeboten. Hinzu dürften einige hunderttausend dazu kommen, die nicht offiziell gemeldet werden; viele Betriebe machen sich vielmehr selbst auf die Suche nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Trotz neuer Technologien, Roboter, Künstlicher Intelligenz und elektronischer Steuerung von Produktionsprozessen geht uns nicht die Arbeit aus, wie es viele Untergangspropheten seit langem prognostizieren. Vielmehr zeigt sich in vielen Bereichen, dass uns die Fachkräfte fehlen. Während in nahezu allen Industriefirmen Fertigungsprozesse digitalisiert und mit hohem Kapitaleinsatz alles Mögliche rationalisiert wird, tun sich dennoch riesige Defizite an qualifiziertem Personal auf. Dieses Problem wird sich in der nächsten Zeit noch wesentlich verschärfen. Der Blick auf unsere Demografie, also auf die Alterspyramide, zeigt die Dimensionen allzu deutlich. Denn jetzt in den 20er Jahren und in dem Jahrzehnt danach wird die Generation der Babyboomer, der in den 60er und 70er Jahren Geborenen, in Rente und Pension gehen. Bis 2035 dürften das einige Millionen sein, deren Arbeitsplätze nicht einfach neu zu besetzen sein werden. Es fehlt an Nachwuchs, der die Lücken in der Arbeitswelt schließen könnte.
Hindernisse für mehr Frauenbeschäftigung
Die Ausweitung der Beschäftigung von Frauen, die in den letzten Jahren zum Teil bereits geschafft wurde, wird etwas helfen können. Allerdings müssen dafür die Rahmenbedingungen wesentlich verbessert werden. Für viele Frauen ist nach wie vor die Suche nach einem Kita- oder Kindergartenplatz ein abenteuerliches Unterfangen, oft genug ein Lotteriespiel. Wer gar einen solchen Platz in seiner Gemeinde findet, muss vielfach feststellen, dass die Betreuungs- und Öffnungszeiten der öffentlichen Kitas und Kindergärten kaum mit den Arbeitszeiten synchronisiert sind. Zudem fehlt es zumeist an Flexibilität, wenn die Eltern sich auf diese Einrichtungen für ihre Kinder verlassen, dort Personal wegen Krankheit oder anderer Gründe ausfällt und die Kinder daheimbleiben müssen. Die Personalplanung kennt oft die Form der Springer, wie sie in der Industrie üblich ist, nicht. In den meisten dieser Fälle stehen dann auch nicht Omas oder Tanten zur Aushilfe in solchen Notfällen zur Verfügung.
Dramatische Personalengpässe
Inzwischen sind die Personal-Engpässe in einigen Sektoren wahrlich dramatisch. Das gilt insbesondere für den Pflegebereich wie für die meisten Sparten des Gesundheitswesens. Bereits seit langem fehlen hier einige hunderttausend Pflegekräfte, Krankenschwestern, Mediziner sowie andere Helferinnen und Helfer. Dieselben Probleme tun sich im Handwerk auf. Schon heute müssen Kunden einige Wochen, bisweilen sogar Monate auf den Elektroniker, Installateur, Maler, Schlosser oder andere Handwerker warten. Gute Handwerker sind insbesondere auch für die angestrebte Transformation unserer Wirtschaft erforderlich – für die praktische Umsetzung der Energiewende, für die energetische Sanierung von Gebäuden, als Mechatroniker für Elektroautos, für die Installation von Solardächern und vieles mehr.
Qualifizierte Kräfte wachsen indessen nicht wie Obst auf den Bäumen, sondern müssen als Azubis optimal in unserem dualen System ausgebildet werden. In Zeiten, da wesentlich mehr junge Menschen Lehrstellen suchten, waren viele Handwerksbetriebe nicht bereit, auf Vorrat auszubilden. Jetzt können für die angebotenen Ausbildungsplätze nicht mehr genug junge Menschen gefunden werden. Das Handwerk muss sich viel attraktiver den Schulabgängern präsentieren. Die Lehrlingsvergütungen sind inzwischen für zahlreiche Gewerke erhöht worden. Die Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs vom Lehrling über den Gesellen bis zum Meister sowie in die Selbständigkeit mit einem eigenen Betrieb sollten noch viel stärker herausgestellt werden. In der Industrie und im Dienstleistungssektor fehlen viele Kräfte im wachsenden IT-Bereich und insbesondere auch Ingenieure.
Arbeitsmarktexperten schätzen, dass insgesamt eine jährliche Nettozuwanderung von mehr als 400.000 Arbeitskräften aus dem Ausland notwendig sein wird. Denn nicht nur qualifizierte Menschen fehlen, sondern in vielen Bereichen auch ungelernte – beispielsweise für Arbeiten an Flughäfen, bei der Bahn, im Hotelgewerbe in der Gastronomie bei Paketdiensten oder am Bau.
Make it in Germany-Initiative
Die deutsche Volkswirtschaft wird in Zukunft ohne mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland nicht auskommen. „Wir müssen mit der Zuwanderung von Fachkräften offensiv umgehen“, so forderte es Habeck, der Bundeswirtschaftsminister. Größere Unternehmen tun sich leichter, Personal aus dem Ausland gezielt anzuwerben und in ihre deutschen Betriebe zu integrieren. Wichtig ist jedoch auch Wege zu ebnen, damit mittlere und kleinere Firmen Fachkräfte aus dem Ausland rekrutieren können. Das Anwerbeabkommen, das vor über 60 Jahren zwischen Deutschland und der Türkei abgeschlossen wurde, mag als Blaupause dienen. Derzeit tun sich deutsche Behörden allzu schwer, die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte zu organisieren. Zu Recht moniert der Bundeswirtschaftsminister, dass die Visa-Erteilung in den Konsulaten zu umständlich ist und viel zu lange dauert, dass zudem die Verfahren zur Anerkennung beruflicher Abschlüsse viel zu kompliziert sind. Zwar gibt es schon das Portal „Make it in Germany“, doch die Prozesse der Anwerbung und die Sprachnachweise dauern viel zu lange. Die beste Integration wäre durchaus in den deutschen Betrieben dadurch zu erreichen, wenn die ausländischen Arbeitskräfte sie bei der praktischen Arbeit „on the job“ erfahren würden. Auch so könnten wichtige Sprachkenntnisse für die Arbeit besser erworben werden als bei den Goethe-Instituten in fernen Ländern – vor allem wenn der Sprachunterricht in den Betrieben erfolgen würde.
Diese großen Personalprobleme müssen gelöst werden, damit die Wirtschaft wieder auf Touren kommt und das qualitative Wachstum steigt. Humankapital ist besonders wertvoll und wird in Zukunft noch wertvoller. Die Ansprüche an Qualifikationen, know how, praktische Fertigkeiten, Beherrschung neuer Technologien und Präzision werden weiter steigen. Aus den früheren „abhängig Beschäftigten“ sind längst Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geworden. Mit Blick auf ihre Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft sollten sie in Zukunft möglichst auch Teilhaber werden, also Verantwortung mittragen, mitbestimmen, am Ergebnis und Kapital beteiligt werden. Damit wird gewiss eine größere Identifikation mit unserer Sozialen Marktwirtschaft und insbesondere mit dem jeweiligen Betrieb zu erzielen sein. Schließlich muss auch die Wertschätzung vieler Tätigkeiten – zum Beispiel im Pflegebereich, aber nicht nur dort – größer werden, nicht zuletzt mit besseren Einkommen und mehr Erholungszeiten.