Seit Wochen ist es brandgefährlich, höre ich im Funk, Fernsehen und lese ich in den Medien. Man überschlägt sich in Alarmschreien. Mittwoch, also morgen, beginnt der Krieg. Hat US-Präsident Biden gesagt. Woher er das weiß? Von seinem Geheimdienst. Da möchte man lachen, wenn es nicht so Ernst wäre. Natürlich, wer stellt das in Frage, geht der Krieg von Russland aus, der Westen, mit seiner wertegebundenen Außenpolitik habe damit nichts zu tun. Wir im Westen kommen mit Kerzen und Blumen, Putin, dieser russische Diktator, ist der böse Chef des bösen Reiches. Er kommt selbstverständlich mit Panzern. Wie selbstherrlich wir im Westen sein können.
Botschaften westlicher Staaten rufen ihre Bürgerinnen und Bürger aus der Ukraine zurück. Hört man von Biden und Baerbock, als wüssten die beiden, der US-Präsident wie die deutsche Außenministerin genau, was uns und der Welt bevorsteht. Bald, sehr bald. Die Quelle des amerikanischen Geheimdienstes wird uns natürlich vorenthalten, sonst wäre das ja nicht geheim. Soll man das glauben? Ich kann das Gegenteil nicht beweisen, hege aber Zweifel an der Seriösität der Berichterstattung. Wo bleibt die verbale Abrüstung?
Keine Waffen an die Ukraine
Waffen in die Ukraine, wird gefordert, landauf, landab. Berlin, der Kanzler Olaf Scholz, wird kritisiert, weil er mit seinem Scheckbuch dem bedrängten Kiew helfen wolle. Deren Botschafter tritt ungeniert im deutschen Fernsehen auf und wirft Berlin vor, Kiew im Stich zu lassen. Scholz verweist auf deutsche Gesetze, keine Waffen in Krisengebiete, er lehnt Waffen an die Ukraine ab, erinnert an die Geschichte Deutschlands, an den Krieg, die Verbrechen der Nazis und der Wehrmacht damals vor fast 80 Jahren in der Sowjetunion, gegen Ukrainer, Russen, Weißrussen und all die anderen, die umgebracht wurden, weil Nazi-Deutschland, Hitler und Himmler deren Bewohner für Untermenschen erklärt hatten, was im Grunde bedeutete, dass man sie entweder töten würde, aushungern oder erfrieren lasse oder, wenn sie bei Kräften waren und jung genug, als Arbeitskräfte für die Deutschen herhalten sollten. Keine Waffen an die Ukraine, die sich gegen die Russen richten könnten, wenn es denn wirklich losgehen sollte.Das muss die Politik Berlins bleiben.
Der Geheimdienst als Quelle, da darf man die Stirn in Falten ziehen. Wann hat ein Geheimdienst je das Treffende vorausgesagt, oder besser: Wann kam er der Wahrheit nahe und nicht der Lüge? Da hätte man gleich die Rüstungsindustrie zu Rate ziehen können, die natürlich ihre teuren Waffen gern mal einsetzen, testen würde. Mir fällt zum Thema Dienste der Irak ein. Wer erinnert sich noch, wie Deutschland damals beschimpft wurde. Berlin sagte Nein zum Krieg gegen den Irak, den die USA wollten, ein SPD-Kanzler und ein Grüner Außenminister standen an der Spitze des alten Europa, alt im Sinne von Uralt, überholt, antiquiert, dagegen wurde das neue Europa ins Feld(!) geführt mit Polen und den anderen, die bereit waren, mit Amerika in die Schlacht zu ziehen. Wer erinnert sich noch an das Lügengebäude der USA, das schließlich zusammenbrach? Ihr Außenminister Powell hatte sogar die UNO vor versammelter Mannschaft belogen. Massenvernichtungswaffen- erstunken und erlogen. Und im Irak herrscht immer noch das Chaos vor. Man kann auch an alles, was mit Afghanistan zusammenhängt, erinnern, oder an Vietnam, den Kosovo, den Golfkrieg. Wurden nicht dauernd Lügen aufgetischt, erfundene Grausamkeiten des Gegners, Bilder vorgetäuscht? Und jetzt will derselbe Geheimdienst wissen, dass es morgen losgeht?Dass der Russe losschlägt.
Damit man mich nicht falsch versteht: Ich will Wladimir Putin gewiss nicht heiligsprechen. Aber ich habe die Bilder im Kopf, als er 2001 im Berliner Reichstag redete, den Deutschen, den Europäern die Hand reichte. Für kurze Zeit schien der Traum einer gesamteuropäischen Partnerschaft möglich zu sein, die Sache mit dem europäischen Haus, in dem Russland ein Zimmer beziehen könnte. Quasi neben Deutschland, Frankreich, Italien usw. Und jetzt wird Putin fast nur nach als Aggressor dargestellt, der in den nächsten Stunden die Ukraine überfallen werde. Ich weiß, dazwischen lag die Annexion der Krim, die man im Westen, hätte man hingehört und Putin Ernst genommen, hätte erahnen können.
1914 hineingeschlittert ins Verderben
Steht Europa vor einem neuen Krieg, der sich ausweiten könnte auf den Rest der Welt, dessen Flammen andere Länder anstecken könnten wie damals 1914, als keiner wollte, aber am Ende fast alle hineingeschlittert waren in dieses Morden und Töten und Zerstören, ins Verderben? 1914, das ist weit weg, stimmt, der Schrecken von damals lebt von der Erinnerung, von den Zeugnissen des Krieges, wie das war 1914 oder 1939. Seit 1945 haben wir in Deutschland keinen Krieg mehr gehabt. Welch ein Segen! Und jetzt heißt es, so wird Biden zitiert: Am Mittwoch, morgen also, beginnt der Krieg, startet Russland seine Invasion in das Nachbarland, mit dem es früher befreundet war, große Teile beider Bevölkerungen sprechen die gleiche Sprache: Russisch. Kann sein, dass die Freundschaft zerbrochen ist- möglich auch durch Putins Agieren, das manche als aggressiv empfinden. Aber wenn das so ist, müsste man dennoch versuchen, auf die erhitzten Gemüter einzuwirken. Nicht zündeln, nicht eskalieren, sondern de-eskalieren.
Ich kann mich, Jahrgang 1941, nur schemenhaft an den Krieg erinnern. Wir wohnten auf dem Land, da fielen kaum Bomben und wenn sie fielen, hatten britische und amerikanische Flieger ihre letzten Brandbomben irgendwo auf dem Land, dem Feld, im Wald abgeworfen, wenn sie auf dem Rückflug waren, ihre Luft-Angriffe auf das nicht weit entfernte Ruhrgebiet mit Essen und der Waffenschmiede Krupp beendet waren. Ich weiß nur, dass meine Eltern mich nachts weckten, wenn die Sirenen heulten, und sie mich in den nächsten Bunker mitnahmen. Wir mussten durch Gärten von Nachbarn laufen, der hochstehende triefnasse Kohl beengte den Weg und machte mich naß bis zum Hals, ehe wir den Bunker erreichten. Ich sehe noch den ersten schwarzen Soldaten, der plötzlich vor dem Bunker stand, als der Krieg vorbei war.
Russland betont, über seinen Außenminister Lawrow, dass es nicht angreifen werde. Moskau will Garantien, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato werde. Der Westen lehnt ab, betont aber zugleich, eine Nato-Mitgliedschaft Kiews stünde überhaupt nicht auf der Agenda, nicht jetzt und auch nicht bald. Aber, wird nachgeschoben, jedes Land dürfe selber entscheiden, wohin es sich wenden wolle, Richtung Westen oder Richtung Osten. Und da soll keine Einigung möglich sein? Scholz trifft sich mit Putin, an dem riesengroßen Tisch, wie wir ihn aus Fernsehbildern kennen. Ausloten, was geht. Vielleicht erinnert er sich an sein großes Vorbild, Willy Brandt, den Kanzler der Entspannungspolitik, der Aussöhung mit dem Osten, Friedensnobelpreisträger, an einen Kernsatz des Sozialdemokraten: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.
Zusagen des Westens
Wir streiten darüber, ob es damals, im Zuge der deutschen Einheit, also 1990 und folgende, Zusagen des Westens gegenüber Moskau gegeben habe, dass sich die Nato nicht Richtung Osten ausdehnen werde. Es gebe keine Verträge, das sagen sie in Brüssel und anderswo. Das weiß ich auch, aber es gab natürlich auch einen Geist, der die Gespräche damals beflügelte, einen Geist voller friedlicher Absichten, man träumte von einer Partnerschaft, die vom Ärmelkanal bis Wladiwostok reichen solle. Ich verweise noch einmal auf Hans-Diedrich Genscher, der kurz vor seinem Tod die politischen Führer des Westens dazu aufrief: Geht auf Putin zu, gebt ihm die Hand. Wir haben in diesem Blog Genschers engsten Mitarbeiter, den früheren Botschafter Frank Elbe zitiert, der in einer Rede vor Jugendlichen die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition gerühmt hatte, eine Politik des Friedens, der Zusammenarbeit, des Aufeinander-Zugehens. Wir haben den ehemaligen leitenden Mitarbeiter des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Prof. Friedbert Pflüger, im Blog-der-Republik zitiert. Pflüger, ein Berliner CDU-Politiker verwies auf Willy Brandt und einen Kernsatz des SPD-Politikers: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Wandel durch Annäherung lautete eine Formel von Willy Brandt und Egon Bahr, die Wirtschaft machte daraus die für sie wichtige Richtschnur: Wandel durch Handel. Und noch einmal Brandt: Solange geredet wird, wird nicht geschossen.
Wir haben kürzlich einen Beitrag -aus der SZ- zitiert des Schriftstellers Eugen Ruge, der versuchte, sich in die Befindlichkeit der Russen zu versetzen. Kann es nicht sein, dass Russland sich bedroht fühlt von einem Westen, der Moskau immer näher rückt? Dass Moskau, um es höflich zu sagen, sich nicht wohlfühlt, wenn es sich die seit 1990 veränderte Landschaft in Europa anschaut: Polen, die Slowakei, Tschechien, die baltischen Staaten, Ungarn, alles Nato-Mitglieder, um nur die zu nennen. Und wenn wir dann noch die Rüstungsausgaben der Nato, Frankreichs, der USA und Großbritanniens mit denen der Russen vergleichen, stellen wir fest, dass allein die Ausgaben fürs Militärische in England, Frankreich und Deutschland um mehr als Zweieinhalbfache über denen von Russland liegen. Die USA allein geben mehr als das Zwölffache für Rüstung aus als Russland. Der Vergleich Nato-Russland ist noch gravierender: die 29 Nato-Staaten gaben 2019 rund 1.035 Milliarden US-Dollar, was 958 Milliarden Euro entspricht. Russlands Rüstungsausgaben lagen im selben Zeitraum bei 65.1 Milliarden US-Dollar. (Die Ukraine gibt nur sechs Milliarden Dollar für Waffen aus.) Auch wenn ich nicht an einen Krieg glaube, der vom Westen ausgeht, kann ich doch verstehen, dass die Dinge von Russland aus anders eingeschätzt werden.
Aufmerksamkeit für Moskau
Der Westen droht Putin mit Sanktionen für den Fall einer Invasion. Der russische Außenminister hat auf seine eher rustikale Art vor einiger Zeit die Aufstellung von Zigtausend russischen Streitkräten entlang der Grenze zur Ukraine als Militärübungen abgetan. Manöver halt? Im übrigen könne Russland auf seinem Territorium machen, was es wolle. Auch richtig. Andererseits kann man das natürlich auch als Drohung verstehen, wenn man soviele Soldaten und Panzer in eine Richtung bewegt. Putin fühlt sich isoliert, bedrängt, umzingelt, er wolle, sagen seine Kritiker, die Welt im Osten neu ordnen, um den Zerfall der Sowjetunion rückgängig zu machen. Zumindest teilweise. Ich kann mir das nicht erklären. Der russische Präsident muss schließlich mit allem rechnen, wenn er den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gibt. Krieg ist auch in seiner Gefolgschaft nicht populär, zumal niemand weiß, wie so etwas endet. Kann es nicht sein, dass er erreicht hat, was er wollte: Aufmerksamkeit für Russland, das größte Land der Erde, Reden mit Moskau, mit ihm, Putin.
Wir brauchen Sicherheit mit Russland, nicht gegen Russland. Hat Wolfgang Ischinger, der frühere Botschafter in Washington gesagt. Und dazu muss auf Augenhöhe mit dem russischen Präsidenten geredet werden. Respice finem, möchte man allen zurufen. Egal, was Ihr tut, bedenket das Ende. Einen Krieg anzufangen, ist ein Leichtes, ihn zu beenden das Problem. Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes, hat Henry Miller einst gesagt. Und eine Volksweisheit aus Schwaben kommt zu dem Schluß: Im Krieg verlieren alle- auch die Sieger.