Man darf sich in diesen Monaten wundern. Olaf Scholz ist noch keine 100 Tage im Amt, eine Zeitspanne, die früher mal als Maß für ein Zwischenzeugnis gesehen wurde, und schon ist das erste Urteil gefällt. Fehlstart, las ich gerade. Vor Tagen wurde gefragt: Wo ist Scholz? Man erinnerte sich an ein ähnliches Sprachbild aus dem Wintersport, als der Reporter im Fernsehen pausenlos nach dem Langläufer Behle aus dem Sauerland fragte, weil der aus einer Spitzenposition zurückgefallen und im Fernsehbild nicht mehr zu sehen war. Aber vor Tagen trat Scholz im ZDF auf und sagte doch tatsächlich was. Die Republik war erleichtert. Scholz war also doch präsent. Aber er war noch nicht gut für die Medien. Sie merkten an, der Kanzler müsste dem Putin mal die klare Kante zeigen, als wäre der ein Pommes-Verkäufer an einer Bude. Waffen für die Ukraine, hieß es, die sich dann gegen Russland richten würden. Scholz müsste das Heft in die Hand nehmen, wurde gefordert, mehr Entschlossenheit sei nötig hier wie gegen die Pandemie. Scholz war den sogenannten Leitmedien zu langsam, zu leise, zu zaghaft. Und jetzt kommt der nächste Alarmschrei: Scholz im Umfragetief. Er habe an Beliebtheit verloren. War doch klar, weil er nicht da war. Scholz müsste doch mal, und sollte doch endlich, die notorischen Kritiker wussten und wissen es natürlich besser, wie es geht und woran es mangelt.
Was eigentlich spricht gegen die leise und umsichtige Art der Politik, wie sie Olaf Scholz zumindest zu Beginn seiner Regierungszeit ausübt? Das Ampel-Bündnis aus SPD, Grünen und der FDP ist neu. Es ist eigentlich erstaunlich, dass dieses Bündnis überhaupt zustande kam. Ihre Gegner wollen es immer noch nicht wahrhaben, dass da der Scholz mit der Baerbock und dem Lindner regiert. Dass es gelegentlich knirscht, will ich glauben. Die Probleme sind ja auch groß. Man denke nur an die Energieversorgung. Raus aus der Kernenergie, der Kohle, auch Gas soll nur für einen Übergang eingesetzt werden dürfen. Mehr Wind, Sonne, Erdwärme, als ginge das alles so schnell. Dass wir mit der Windenergie nicht weiter sind, liegt im übrigen auch an dieser famosen Regierung in Bayern, die schon zu Zeiten des glorreichen Horst Seehofer- der Mann war mal Ministerpräsident- es nicht schaffte, mehr Windräder in die paradiesische Landschaft im Süden der Republik aufzustellen. Die Bauern waren dagegen.
Nehmen wir die Pandemie. Erst hieß es, kein Impfgesetz, dann wurde man schlauer und kam zu der Überzeugung und zwar alle demokratischen Parteien: Jawohl, wir brauchen eine Impfpflicht. Seit einigen Tagen wird wieder dagegen argumentiert. Selbst die berufsbezogene Impfpflicht für Pfleger, Krankenschwestern , Sanitäter, obwohl inzwischen Gesetz, wird von der Allmacht des Herrn Söder in Zweifel gezogen. Geht das denn überhaupt, ein Bundesgesetz gilt doch auch für Bayern. Oder? Söders Gesundheitsminister musste erklären, Bayern werde das Gesetz umsetzen, nur etwas später. Und dann sind da all die Bedenkenträger, denen die Virologen und Fachleute nichts vormachen können. Sie glauben ihnen einfach nicht. Und lassen sich nicht impfen und wir geben ihnen den Raum, möglichst viele andere Zeitgenossen mit ihrem Unsinn anzustecken. Es geht um Leben und Tod.
Über das Parlament zur Impfpflicht
Der Bundeskanzler hatte dafür plädiert, dass zur Impfpflicht ein Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments kommen soll. Es sollte nicht die Regierung die Linie vorgeben, man wollte eine breite Mehrheit, um mit dieser breiten Mehrheit draußen für mehr Zustimmung zu werben. Doch kein falscher Gedanke, oder? Herr Kubicki war der erste, der dagegen war. Die Opposition fordert seit Wochen Scholz auf, er möge doch einen Entwurf der Regierung präsentieren. Friedrich Merz wirft Scholz, weil der auf das Parlament verweist, Führungsschwäche vor. Dabei wäre es die Königsdisziplin des Bundestags, selbst einen Entwurf zu erarbeiten, an dem möglichst viele Demokraten mitwirken. Damit wir endlich erreichen, dass sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger impfen lassen. Nur so kommen wir aus der Pandemie in ein normales Leben zurück ohne Einschränkungen.
Nehmen wir die Ukraine-Russland-Krise. Niemand weiß, was Putin vorhat. Dass er über Hunderttausend Soldaten an der Grenze zur Ukraine hat aufstellen lassen und Panzer und Flugzeuge dazu, wird als Vorbereitung einer Invasion der Russen betrachtet. Möglich ist es. Die Regierungen des Westens haben inzwischen ihre Bürgerinnen und Bürger, die sich in der Ukraine aufhalten, gebeten, das Land zu verlassen. Das Verhalten des russischen Präsidenten wird als aggressiv angesehen, die Ausdehnung des Westens, das Vorrücken der Nato Richtung Osten aber als normal. Kann sich niemand vorstellen, dass den Russen das Vorrücken der Nato Angst macht? Ich will der Nato nichts Böses unterstellen, aber so zu tun, als wäre die Nato die Caritas, die Pakete an die armen Kinder im Osten verteilt mit Bonbons und Keksen und warmen Jacken gegen die Kälte, das ist naiv. Auch der Westen muss abrüsten, auf Putin zugehen, mit ihm reden, verloren gegangenes Vertrauen muss wieder aufgebaut werden. Das hier einiges kaputt gegangen ist, daran hat auch der Westen schuld.
„Meister Ungefähr“, hat ihn die SZ in einem Leitartikel kritisiert. Ich frage mich, was es daran zu kritisieren gibt, wenn ein Kanzler umsichtig handelt und leise, manchmal eher weniger redet, weil er sich vielleicht selber nicht sicher ist. Weil er erst mit anderen reden will, um deren Meinung zu erfahren? Ist das so falsch, wenn er nicht die klare Kante gibt? Ich habe einige Kanzler erlebt und deren Schwierigkeiten in den Anfangsjahren. Das war bei Helmut Kohl nicht anders als bei Gerhard Schröder. Kohl hatte die Wörner-Kießling-Affäre am Hals, hatte einige Patzer bei seinem Israel-Besuch, in einem Interview verglich er Gorbatschows-Politik-Methoden mit denen des Nazi-Propagandachefs Göbbels, über den Gräbern einstiger SS-Soldaten in Bitburg schüttelte er die Hände mit US-Präsident Reagan. Gerhard Schröder hatte Schwierigkeiten mit dem Doppelpass-Gesetz, das ihn die Landtagswahl in Hessen- die erste nach seinem Wahlsieg- verlieren ließ. Seine „Modeauftritte“ verliehen ihm den Beinamen Brioni-Kanzler. Es hagelte Kritik aus der Partei an Schröder. Oskar Lafontaine, der SPD-Chef und Finanzminister, warf nach wenigen Monaten aus Verärgerung über den Regierungsstil Schröders die Brocken hin. Das sind nur einige Beispiele. Kohl und Schröder haben sie überlebt. Oder denken wir an Angela Merkel. Die Kochs und Co der CDU hätten sie am liebsten am Wahlabend 2005 aus dem Amt gejagt, erst Schröders Polterabend verschaffte ihr die nötige Rückendeckung. Dann folgten viele Jahre Kanzlerschaft.
Der Bundeskanzler versucht, mit Diplomatie einen Krieg zu verhindern. Scholz war in Amerika, er ist im Dauer-Gespräch mit Frankreichs Präsident Macron, er hat mit den Polen geredet, auch die Sorgen der Balten wurden in Berlin zur Kenntnis genommen, Baerbock war in Kiew, Scholz reist dorthin und nach Moskau. Er will mit allen Seiten reden, getreu nach dem Motto von Willy Brandt: Solange geredet wird, wird nicht geschossen. Scholz hat gegen Kritik betont, alles läge auf dem Tisch, sowohl in Moskau wie in Kiew und in Washington. Alles heißt alles, heißen auch Sanktionen, zu denen dann auch die Debatte über Nordstream 2 gehört. Es wäre unklug, wenn der deutsche Bundeskanzler von Berlin aus Putin wissen ließe: Nichts geht mehr, es ist Aus mit dem Öl- und Gasgeschäft. Das Gegenteil muss erreicht werden, Putin muss an alle Tische zurück, wir müssen mit ihm, nicht über ihn reden. Es wäre klug, wenn der Westen dabei von seinem hohen Roß, auf der er sich gelegentlich befindet, herunterkäme.
Sicherheit nur mit Russland
Scholz muss cool bleiben und nicht auf den Marktplätzen Reden halten gegen Russland. Cool bleiben, reden, reden, nicht in den hysterischen Chor der Russland-Gegner fallen, die die deutsche Vergangerheit gern vergessen, er muss zuhören, Verständnis für seinen Gegenüber zeigen, um dessen Sorgen zu begreifen. Warum sollte Scholz Putin über die Fernseh-Sender wissen lassen, was Deutschland, was der Westen gegen ihn und sein Land unternehmen wird im Falle einer russischen Invasion? Er darf nicht als Oberlehrer auftreten. Wir wollen doch, dass die Ukraine in Ruhe leben kann, Sicherheit gibt es nur mit Russland und nicht gegen Russland. Davon würde auch Kiew profitieren. Und das mit Nord Stream 2 hat im übrigen US-Präsident Biden gesagt.
Nur, damit das nicht vergessen wird: Was haben wir davon, wenn diese Gasleitung nicht in Betrieb geht, hilft das der Ukraine, Russland, der Nato, den Balten? Natürlich nicht. Wandel durch Annäherung heißt auch Wandel durch Handel. Es kann genauso sein, dass Putin zu der Überzeugung kommt, er habe durch seinen Truppenaufmarsch alles erreicht, was er wollte: Nämlich Aufmerksamkeit, Anerkennung auf Augenhöhe anstelle einer Reduzierung zu einer Regionalmacht. Vergessen wir nicht, dass Russland das größte Land der Erde ist. Putin hat erreicht, dass es Gespräche gab und gibt mit allen Nachbarn, mit Amerika, Frankreich, Deutschland, der Ukraine. Russland als Teil von Europa, das wäre ein Zukunftsprojekt, an dem alle mitarbeiten. Damit könnten wir die stärkere Anbindung Moskaus an Peking verhindern. ( Was aber nicht heißt, dass das sich gegen China richtet.) Wir sollten daran arbeiten, dass bei diesem gefährlichen Spiel der Kräfte niemand, auch Putin nicht sein Gesicht verliert. Wir sollten nicht so überheblich sein, seine Sorgen nicht ernstzunehmen. Heißt, dass er sich eingekreist fühlt vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Wenn das russische Handeln nicht vom Wunsch nach Stärke dominiert wird, sondern von der Angst und der Sorge- das wäre doch möglich.
Waffenlieferungen an die Ukraine wären ein Anstoß in die Richtung Konfrontation. Das kann nicht der deutsche Ansatz von Politik sein. der Berliner Tagesspiegel erinnerte vor Tagen daran, dass es über Jahrzehnte so war, dass die Deutschen raus aus den Knobelbechern sollten, weg von der Blasmusik mit Trommelbegleitung. Und heute sollen wir wieder zurück in die Rolle, die die übrigen Europäer damals das Fürchten gelehrt hat? Die deutsche Zurückhaltung lasse sich nicht wegkommandieren, zitierte das Blatt den früheren Verteidigungsminister Volker Rühe(CDU). Und das ist gut so. Und kann so bleiben. Krieg wäre die Kapitulation von Politik, das Versagen der Diplomatie. Man kann nur hoffen, dass Scholz in dieser immer hektischer werdenden Debatte cool bleibt und nicht den Kopf verliert. Das, Herr Merz, nenne ich Führung.
Bildquelle: Frank Schwichtenberg, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons