Ja, es ist notwendig, den militärischen Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine als mehr als einen „nur“ unfreundlichen Akt zur Kenntnis zu nehmen. Mehr als hunderttausend Soldaten, schwer bewaffnet, aufzubieten und daran zu erinnern, dass Russland bereits einen Teil des Nachbarlandes militärisch besetzt hält, wird ja nicht dadurch falsch, dass der dafür notwendige militärische Arm durch eine neutrale Uniform und damit nicht gleich erkennbar, als russische Befreiungsarmee in das Land eingefallen war.
Der neuerliche Aufmarsch an der ukrainischen Grenze durch russische Truppen hängt damit zusammen und macht klar, worum es Moskau wirklich geht. Das lässt sich auch ablesen an den von Russlands Außenminister vorgelegten Vertragsentwürfen zu einer „Neuordnung der Sicherheit in Europa“. Moskau will danach die Charta der OSZE, der „Organisation der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ neu aushandeln, und sieht in ihrer geltenden Form „substanzielle Differenzen“ über „das Prinzip der Sicherheit in Europa“.
In der geltenden Charta findet sich der Grundsatz, dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis mit anderen wählen dürfe. Gleichzeitig wird allerdings auch festgehalten, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe. Der Widerspruch im geltenden Vertragstext, auf den Russland verweist, führe dazu, dass der Westen nur für sich das Recht auf freie Bündniswahl nimmt, nicht aber den zweiten Teil: „der Unteilbarkeit von Sicherheit, was doch heiße, dass es entweder Sicherheit für alle oder keine Sicherheit für niemanden gibt“. Trotz dieses Widerspruchs in der Charta der OSZE zeigt der Blick auf die veränderte Landkarte seit 1999 die Ausweitung der Nato, von Polen bis Rumänien seither.
Vor diesem Hintergrund, und um Voraussetzungen dafür zu schaffen, den Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze durch Moskau zurückzunehmen, könnte auch die Reisetätigkeit von Bundeskanzler Olaf Scholz in der nächsten Woche eine wichtigen Beitrag leisten. Scholz wird seinen Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden machen und es ist davon auszugehen, dass ihre Gespräche sich wesentlich mit der gespannten Lage der Ost-West-Beziehungen befassen werden. Es folgen in der gleichen Woche Besuch von Scholz in Kiew und zum Abschluss seiner Reisediplomatie das Treffen in Moskau mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Bis dahin wäre es durchaus angemessen, die deutsche Diskussion zum Thema „Wo bleibt Scholz“ und das Thema deutscher Waffenlieferungen in die Ukraine zu versachlichen. Entgegen den Forderungen des ukrainischen Botschafters in Berlin, würden Waffenlieferungen aus Deutschland die Lage der Ukraine nicht verbessern, sondern nur Öl ins Feuer gießen. Deutschland ist eines der wichtigsten Geberländer für wirtschaftliche und soziale Programme in der Ukraine, die auf Hilfe dringend angewiesen ist Anders als sein Botschafter in Berlin hat der ukrainische Präsident Selenski dafür beim Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew ausdrücklich für die deutsche Wirtschaftshilfe gedankt. Die Ampel steht dafür weiterhin auf Grün.