- Einleitung
In den letzten beiden Wochen hat es innerhalb des Westens einen regen Austausch gegeben. Es ging vor allem um die Abstimmung von wirtschaftlichen Sanktionen, die man ggfls. gegen Russland verhängen will. Wobei „Westen“ übertrieben ist, es ging nur um die USA und die großen Mitgliedstaaten der EU. Die Türkei macht nicht mit, das wird kaum mehr wahrgenommen. Sie profitiert als Trittbrettfahrer von den Sanktionen, die die Rest-NATO-Mitglieder verhängen wollen. Sanktionen sind bekanntlich immer auch Selbstbeschränkungen im bilateralen Verhältnis, damit Selbstschädigungen, die Dritten Raum eröffnen, also zu deren Vorteil sein können. Die NATO ist gespalten.
Die Verhängung von Sanktionen braucht einen Auslöser. Die Rote Linie des Westens nimmt Gestalt an. Stichworte sind „further invades“ oder „further escalates“. Was das „further“ bedeuten soll, scheint geklärt. Referenzpunkt ist das mögliche Szenario, dass Russland „nur“ die Rebellengebiete offiziell und offen vor der Weltöffentlichkeit besetzt, mit allen Rechten und Pflichten, die das mit sich bringt; und möglicherweise zudem die Selbständigkeit der Gebiete anerkennt, deren Sezession also legitimiert. Völkerrechtlich ist das wohl eine „Invasion“. Aber keine schwere. Die Sanktionen des Westens sollen in ihrem Ausmaß differenziert werden in Abhängigkeit vom Ausmaß der Schwere der „Invasion“, diese Selbstverständlichkeit wurde offenbart durch einen Lapsus von Präsident Biden bei seiner Pressekonferenz aus Anlass des einjährigen Jubiläums seiner Amtszeit.
2. Sanktionsoption Ausschluss aus dem SWIFT-System
Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System scheint erwogen worden zu sein. Im Ergebnis scheint dieser Pfeil im Köcher bleiben zu sollen.
Den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zu fordern, hat im Europäischen Parlament bereits eine Tradition. Doch über Sanktionen entscheiden die Mitgliedstaaten im Ministerrat, und dafür gilt das Erfordernis der Einstimmigkeit. Die „mutig“ anmutenden Mehrheitsbeschlüsse des Europäischen Parlaments sind nur mit Mehrheit erreichte Aufforderungen. Die Bereitschaft, ggfls. „die Erdöl- und Erdgaseinfuhren aus Russland in die EU sofort <einzustellen>“, diese Leidensbereitschaft, also die Folgen zu tragen, ist in Europa nicht weit verbreitet. Man will den Bevölkerungen nicht zumuten, im Winter zu frieren und die Mobilität erheblich einzuschränken.
Ich basiere hier auf einer Analyse des ökonomischen Experten für Russland und weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Roland Götz. Seine Einschätzung zur ökonomischen Wechselwirkung eines Ausschlusses aus dem SWIFT-System:
„Wegen der breiten ökonomischen Wirkungen einer SWIFT-Abtrennung Russlands … wird oft von einer „nuklearen Option“ der Sanktionsgeber gesprochen. Aber auch in diesem Zusammenhang gilt die Doktrin des „Gleichgewichts des Schreckens“, der sicheren gegenseitigen Vernichtung (mutually assured destruction, MAD-Doktrin). Im Unterschied zum Nuklearkrieg droht der „Zweitschlag“ sogar unmittelbar und ohne Zutun des Gegners, denn zeitgleich mit den nach Russland gesendeten Finanzinformationen werden alle aus Russland über SWIFT in das Ausland transferierten Finanzinformationen gestoppt. Russland würde zumindest mittelfristig als wichtiger Lieferant von Erdöl und Erdgas weitgehend ausfallen. Weil genau dies die USA und die EU nicht wollen, haben sie den Energiesektor Russlands bislang von Sanktionen praktisch ausgenommen.“
In ähnlichem Sinne rufen zwei US-Energie-Ökonomen dazu auf, bei einer „minor incursion“ die Kirche im Dorf zu lassen, bei einer wirklichen Invasion aber dann auch richtig gänzlich auf den Bezug von Gas UND Öl aus Russland zu verzichten. Gas betrifft nur Europa, bei Öl aber gingen die USA in die Mit-Betroffenheit. Das aber ist vom Tisch.
3. Sanktionsoption Cancelung von Nord Stream 2
Bleibt das Loch-Ness-Phänomen Nord Stream 2 (NS2). Dabei handelt es sich um eine Zusatz-Pipeline auf modernem technischen Stand. Die könnte man sperren, ohne auf Gas zu verzichten, es ist gleichsam eine „Wasch-mir-den-Pelz-aber mach-mich-nicht-naß!“-Option. Deshalb so attraktiv. Doch die Attraktivität schwindet, wenn man die finanziellen Implikationen in den Blick nimmt. Man wird nämlich doch recht naß.
NS2 ist ein Investitionsprojekt, welches die rechtlichen Genehmigungen in Jurisdiktionen mehrerer Rechtsstaaten erhalten hat, vor allem in Deutschland. Hier steht nur eine noch aus, die der energierechtlichen Zulassung des betreibenden Unternehmens. Dieses letzte Verfahren läuft, die zuständige Behörde ist dieserhalb nicht weisungsgebunden. Die herrschende Stimmungslage unterstellt zwar bzw. fordert ein, der Bundeskanzler könne agieren wie ein absolutistischer Herrscher, dennoch gilt: Wir leben in einem funktionierenden Rechtsstaat. Das hat Konsequenzen für die Verhinderung der Nutzbarkeit dieser Pipeline, einer genehmigten Anlage im Wert mehrerer Milliarden Euro.
Die Regierenden können lediglich dafür sorgen, dass die Bedingungen, unter denen die Genehmigung erteilt wurde, eingehalten werden – mit den begrenzten Mitteln des Rechts. Ob ein Stop mit den Mitteln des Rechts erreichbar ist, ist offen – und unwahrscheinlich. Es bleibt dann nur noch die Option „Verhinderung qua Rechtsbruch“. Auch das Widergesetzliche kann legitim sein. Muster ist dann der Sanktions-Vorgang nach der Ukraine-Krise 2014, die Verhinderung der Ablieferung von zwei bereits fertiggestellten Hubschrauberträgern („Mistral“) an Russland von Seiten Frankreichs. Obwohl es da lediglich um 1,8 Mrd. € ging, wurde immerhin, auf Wunsch Frankreichs, nach Lösungen Ausschau gehalten, wie organisiert werden könne, dass die Last nicht allein auf Frankreichs Schultern liegen bleibe. Erwogen wurde die Option, dass die NATO oder die EU die Schiffe kaufen. Letztlich wurden sie an Ägypten verkauft.
Rechtsstaatlich gemacht würde eine NS2-Blockade allein den deutschen Staat mehr als 10 Mrd. € kosten – die Summe dürfte deutlich über den Errichtungskosten für NS2 liegen, da mit einer solchen Sanktionierung auch die Ableitungs-Pipelines (EUGAL, OPAL) teilentwertet werden. Zu zahlen wäre der Betrag an die Finanzierer des NS2-Vorhabens, d.i. neben Gazprom BASF/Wintershall und Uniper (vormals E.ON) in Deutschland, OMV in Österreich, Engie (vormals GDF Suez) in Frankreich und Royal Dutch Shell in den Niederlanden. Teil der Gespräche mit den europäischen Partnern, insbesondere dem profitierenden Polen, hat dann eine Mitbeteiligung an dem Schadensersatz, den Deutschland zu zahlen verpflichtet ist, zu sein.
Diese gut 10 Mrd. € aber sind gleichsam peanuts nur. Hinzu kommt zur Rechnung der Schaden aus der Sanktion für die Gas-Endverbraucher – Beschränkungen, um eine solche handelt es sich hier, gehen regelmäßig mit erhöhten Preisen einher. Die sind im Falle non-NS2 (in Vollfunktion, also incl. beschränkungsfreier Ableitung via EUGAL und OPAL,) auf Kosten (Mittelwerte; szenarienabhängig) allein für die Kunden in Deutschland in Höhe von 11 bis 28 Mrd. €/a geschätzt worden. Auf eine Amortisationszeit von 15 Jahren bezogen sind zu den mehr als 10 Mrd. € aus den Investitionsaufwendungen noch einmal 165 bis 420 Mrd. € zu addieren und ins Abwägungskalkül einzustellen.
Gegenzurechnen ist, was Gazprom an Durchleitungsgebühren zu zahlen hat wegen Weiternutzung des Pipeline-Systems in der Ukraine (UGTS). Das dürfte maximal in der Größenordnung von 2 Mrd. €/a liegen, also 30 Mrd. €/15a.
Das Ergebnis der Rechnung, in Mittelwerten: 300 Mrd. € über 15 Jahre oder 20 Mrd. € pro Jahr.
Zusammengenommen gilt: Wenn der Sinn von Sanktionen vor allem die Schädigung des Gegners bei In-Kauf-Nahme von Kollateralschäden bei einem selbst ist, dann ist schwer zu sehen, wie dieser Sinn mit einer Verweigerung der In-Betrieb-Nahme von Nord Stream 2 getroffen sein soll. Anders als beim Mistral-Fall ist Russland bei der Entschädigungs-Frage nur zu einem geringen Anteil der Betroffene. Bei ungestörtem Gasfluss ist der Schaden für Russland im Verhältnis zum Schaden, die der Sanktionierende für sich in Kauf nimmt, minimal. In der westlichen Gemeinschaft findet sich zudem nicht einmal, so sieht es bislang aus, die Bereitschaft für ein „burden sharing“ der Sanktions-Kollateralschäden. Es wird nicht einmal thematisiert. Zudem gibt es offensichtlich weit klügere Alternativen, wenn man 20 Mrd. € pro Jahr einzusetzen bereit ist: Wer Gazprom/Russland wirklich schädigen und das Klima schützen will, muss nicht einzelne Transportwege in einem Netz blockieren – das Wesen eines Netzes ist, dass sich das Fließende immer einen neuen Weg finden kann, um zum Ziel zu gelangen. Er muss vielmehr den Gasbezug drosseln und damit seinen Verbrauch – eine Option, die völlig legitim ist und frei in seiner Hand liegt. Dann aber schädigt er auch den Eigner des UGTS, da der Ertrag aus der Durchleitung sinkt – wenn das UGTS denn dann noch Bestand hat. Man kann eben nicht immer alles haben, insbesondere wenn man auch unseren Partner Ukraine in ein klimagerechtes Zeitalter führen will.