Parteistrategen und Wahlkampfmanagern, Verlierern wie Gewinnern muss es bei der Lektüre des Buchs „Entscheidungstage“ von Stephan Lamby vor Schreck eiskalt über den Rücken laufen. In einer packenden Erzählung schildert der Autor, von Haus aus höchst profilierter Dokumentarfilmer, die Achterbahnfahrt der Parteien im letzten Bundestagswahlkampf.
Nicht die Strategie der einen, sondern die Fehler der anderen haben das Ergebnis bestimmt. Die Leerstelle, die der Rückzug der Dauerkanzlerin Angela Merkel hinterlassen hat, haben die Christdemokraten unterschätzt, während die Sozialdemokraten wie bei einem Wahlmikado ebenso stoisch wie hilflos darauf warteten, dass diese Erkenntnis irgendwann auch bei den Wählern zünden würde.
Entscheidungstage, sie wurden nicht bestimmt von strategischen Glanzleistungen in den Parteizentralen, sondern geprägt von „Pleiten, Pech und Pannen“ (Süddeutsche Zeitung), die in den traditionellen Medien, vor allem aber in den (un-)sozialen Medien den Takt vorgaben.
Selbst wer sich gut informiert fühlt, wer das Auf und Ab zwischen christdemokratischer Dominanz, dem überraschendem Hoch der Grünen und dem langen zähen Verharren der SPD im bitteren 15-Prozent-Gefängnis im Gedächtnis hat, liest gebannt, welche Mini-Veränderungen im Parteienranking Lamby beobachtete und letztlich für das Wahlergebnis als ausschlaggebend sah.
Natürlich ist es nicht erst ein Befund aus dem 2021er Wahlkampf, dass nicht nur ausgefeilte Programme den Takt angeben, sondern auch nebensächliche Patzer der Protagonisten. Legendär Peer Steinbrücks unbedachte Äußerung über Weinpreise im Wahlkampf 2013, als der SPD-Kandidat die Wähler wissen ließ, das für ihn ein Pinot Grigio unter fünf Euro ungenießbar sei. Geschmacksache, in den Medien als Überheblichkeit und Abgehobensein gedeutet.
Eine Reihe solcher Fehler, Ungenauigkeiten und Schönfärbereien ließ Annalena Baerbock abstürzen, als sich die Grüne im Frühjahr des Wahljahres schon auf dem Weg ins Kanzleramt sah. Lamby beschreibt das ohne Häme, dokumentiert in kleinen sich aneinanderreihenden Beobachtungen die Szenen eines Absturzes.
Noch viel tiefer der Fall von CDU-Kandidat Armin Laschet. Oder schlimmer noch für die Christdemokratie die langsam aber stetig nach unten fallende Spirale, seit Angela Merkel den Parteivorsitz 2018 abgab, obwohl sie lange Zeit der tiefen Überzeugung war, Kanzlerin und Parteivorsitz müssten in einer Hand sein. Dass sie mit Annegret Kramp-Karrenbauers Sieg vor allem ihren Erzfeind Friedrich Merz verhindern konnte, nach deren Scheitern mit Armin Laschet erneut gegen Merz an der Spitze der Partei als ihren Nach-Nachfolger installieren konnte, waren Pyrrhus-Siege. Jetzt, drei Jahre später, hat die Basis der Partei sich klar für den Sauerländer entschieden. Und aufgezeigt, dass die Partei drei Jahre im Stillstand verharrte.
Lamby reiht die Fehlentscheidungen analysierend, nicht kommentierend hintereinander und läßt dem Leser Raum, den Niedergang selbst zu interpretieren. Dass im Wahljahr noch die Querschüsse aus der CSU für Laschet hinzukamen – geschenkt. Dabei war die Breitbeinigkeit, mit der sich Markus Söder gegen den CDU-Vorsitzenden stemmte, nicht Grund für Laschets Schwäche in der Wahlkampfendphase. Sie war nur möglich als Konsequenz der Schwäche, die viele Beobachter stets an dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten beschrieben haben.
Doch ob CSU-Gemurre oder der langsame Niedergang der Volkspartei CDU, entscheidend für den Absturz des CDU-Kanzlerkandidaten wertet Lamby wie viele andere auch jene Szene von Laschets Lachen – im Rücken des Bundespräsidenten – während der Flutkatastrophe in Erftstadt . Entscheidungstage? Vielleicht gar nur Entscheidungssekunden, die den Strategen in der CDU-Parteizentrale wohl endgültig den Knock-Out versetzten.
Und umgekehrt mögen es diese Sekunden der ungezügelten Heiterkeit am Unglücksort vieler Todesopfer gewesen sein, die erstmals Bewegung in den Wahlkampf der bis dahin abgeschlagenen Sozialdemokraten brachten.
„Entscheidungstage“, das Buch von Stephan Lamby, ist eine spannende Erzählung über die Wahlentscheidung des Jahres 2021, über die zunehmenden Erregungswellen in den Medien und über eine Politik, die sich mit ihren Strategien unter der Berliner Käseglocke in beängstigendem Maße abgekoppelt hat von dem Empfinden der Menschen.