Selten hat mich ein Buch wie die Autobiographie von Margot Friedländer- „Versuche, dein Leben zu machen“- so berührt und mich betroffen gemacht. Am 5. November ist Margot Friedländer 100 Jahre alt geworden, eine Jüdin, die sich in der Nazi-Zeit in Berlin verstecken musste, deren Mutter Bendheim und Bruder Ralph in Auschwitz ermordet wurden, die erleben und erleiden musste, wie eine Kulturnation wie die deutsche in die Barbarei zurückfiel, die hungerte und fror, die schließlich von sogenannten Greifern geschnappt und ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Margot Friedländer überlebte das Grauen, wanderte in die USA aus und besuchte 50 Jahre danach ein neues, ein anderes Deutschland. 2010 beschloss sie, endgültig in ihre Heimat zurückzukehren, nach Berlin, das sie so liebt. Trotz allem! Seitdem erzählt sie ihre ergreifende Geschichte in Vorträgen, vor Schülerinnen und Schülern, ohne Rachegefühle redet sie von Menschlichkeit, damit sich nicht wiederhole, was ihr und Millionen anderen einst passiert war. Was für ein Leben, was für eine Frau!!
„Versuche, dein Leben zu machen“, steht auf einem Zettel, den ihre Mutter ihr bei einer Nachbarin hinterlassen hat, ehe sie beschließt, den Sohn Ralph, der von der Gestapo verhaftet wurde, zu begleiten. Margot weiß nicht, wohin die beiden sind. Sie erfährt von der Nachbarin, einer Nichtjüdin, nur: „Sie sind gekommen.“ Die Männer von der Gestapo, im Grunde das Todeskommando. Wir schreiben das Jahr 1943. Der Krieg ist verloren für Nazi-Deutschland, aber das Elend, die Verfolgung der Juden durch die Nazis nicht beendet. Sie wollten fort aus Berlin, was gescheitert war. Sie wurden deportiert Richtung Osten, ins KZ Auschwitz, wo sie vergast wurden, Mutter und Sohn. Aber das erfährt Margot erst viel später. Sie beschließt unterzutauchen. 15 Monate gelingt ihr das, mehrfach entkommt sie der „Geheimen Staatspolizei“. Dann im April 1944, ein Jahr vor dem Ende des Krieges, geht sie in eine Falle, wird erwischt von Männern, sogenannten Greifern, Juden, die für die Nazis arbeiten, und landet in Theresienstadt.
Verfall des Rechtsstaats Deutschland
Die Geschichte von Margot Friedländer ist auch die Geschichte des Verfalls des Rechtsstaats Deutschland. Sie bemerkt, wie im Laufe des Jahres 1935 die Stimmung in Berlin „immer bedrückender“ wird, ständig hört sie von Verhaftungen. „Wir liefen an Geschäften vorbei mit beschmierten Schaufensterscheiben, von denen selbst wir keine Ahnung hatten, dass die Inhaber jüdisch waren. Kauft nicht bei Juden!“ Liest Margot, die nicht begreift warum. Sie waren doch Deutsche, lebten unter Deutschen, hatten deutsche Freunde. Sie glaubte nicht, dass sie mit diesen Juden gemeint war, verstand nicht, dass die Nazis die Juden aus dieser Gesellschaft ausstoßen wollten. Deshalb fehlte, wie sie in ihrem Buch schreibt, der „letzte Anstoß zu sagen: Wir können in diesem Land nicht mehr leben.“
Auch denen, die Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hatten, fehlte die Vorstellungskraft, das ernst zu nehmen, was dort geschrieben stand. „Wir fühlten uns nicht gemeint“, betont Margot Friedländer. Vor 1933 sei ihre Familie nie mit Antisemitismus in Berührung gekommen, selbst die Boykotte jüdischer Geschäfte hätten auf sie „irreal“ gewirkt. „Es war absurd, dass die Leute nun nicht mehr zu ihrem gewohnten Fleischer, Bäcker oder Schuster an der Ecke gehen sollten, bei dem sie schon jahrelang kauften, nur weil dieser Fleischer, Bäcker oder Schuster Jude war“. Und sie waren gute Fleischer gewesen, gute Bäcker, gute Schuster. „Sie hatten einen festen Platz in einer funktionierenden Gesellschaft.“ Glaubten die Bentheims, glaubte Tochter Margot und Tausende anderer Juden.
Aber dann veränderte sich Schritt für Schritt dieses deutsche Reich, plötzlich wurde unterschieden zwischen deutschen Staatsangehörigen und „Reichsbürgern“. Die Nürnberger Gesetze, seit 1935 in Kraft, legten fest, dass Juden keine Reichsbürger sein konnten. Und diese Gesetze bestimmten, wer Jude war. „Wir waren noch deutsche Staatsangehörige“, schreibt Margot Friedländer, „mit allen Pflichten, aber unsere Rechte hatten wir fast alle verloren.“
Bleiben oder Gehen
Bleiben oder Gehen, diese Fragen beschäftigen viele Juden in Deutschland. Immer mehr emigrierten in die USA oder nach Südamerika, verschifften ihre Möbel, gaben ihre Existenz, ihr Leben in Deutschland auf. Und retteten damit ihr Leben. In der Familie der Margot Bentheim stand das Thema Auswanderung nicht zur Diskussion, schildert die Zeitzeugin, auch weil der Vater es nicht wollte. „Wie kann man ein gutgehendes Geschäft einfach so im Stich lassen?“, habe ihr Vater Tante Jessi und ihren Mann Adolf kritisiert, die nach Brasilien emigrierten. Dennoch verlief das Leben der Tochter Margot in fast friedlichen Bahnen. 1936 fanden die Olympischen Sommerspiele in der Reichshauptstadt statt, „es gab mehr Luft zum Atmen“, schreibt Margot erleichtert. Die Nazis verzichteten für kurze Zeit auf Boykotte und Zeitungskampagnen gegen Juden, Schaufensterscheiben blieben ohne Schmierereien. Man glaubte(oder hoffte?), „eines Tages ist der Spuk vorbei“.
Doch es ging bald wieder los gegen Juden, weil sie Juden waren, erhielten sie Berufsverbote, keine Steuervergünstigungen mehr, durften sie keinen Doktortitel führen, nicht länger an nichtjüdischen Schulen und Universitäten lehren, keine Apotheken und Gasthöfe pachten, jüdische Anwälte durften nicht mehr praktizieren, Journalisten wurden aus der Reichspressekammer ausgeschlossen. Nachzulesen in Margot Friedländers Buch. Später war ihnen das Fahren in der U-Bahn verboten. Und dennoch sahen sie ihr Leben nicht bedroht, aber „es schlossen sich allmählich vor den deutschen Juden alle Türen in die Zukunft.“ Dann der 9. November 1938, jener Tag, an dem die Nazis gezielt Jagd auf Juden machten, ihnen die Schaufenster ihrer Geschäfte einschlugen, diese plünderten und die Synagogen in Brand steckten. Margot Friedländer bemerkte am Tag danach, wie ihr Rußpartikel ins Auge flogen, es knirschte unter ihren Füßen, weil sie auf Scherben ging, in der Uhlandstraße lagen zerbeulte Konservendosen auf der Straße und den Bürgersteigen, SA-Männer standen breitbeinig vor zertrümmerten Läden, es roch nach Moder und Rauch. Reichskristallnacht, so die verniedlichende Sprache von Goebbels und Co, was eine Pogromnacht war. Dann sagte jemand aus ihrer Familie: „Sie haben die Synagogen angezündet.“ Juden wurden verschleppt, verprügelt, in KZs gebracht und viele hatten zu- oder weggeschaut, aber nichts dazu gesagt.
Zeit des Selbstbetrugs vorbei
„Deutschland ist doch ein zivilisiertes Land“, zitiert Margot Friedländer, was damals in jüdischen Familien betont wurde, und räumt ein, dass man sich damit all die Jahre selbst betrogen habe. Die Nichtjuden unter den Deutschen fielen nämlich Hitler nicht in den Arm, sondern reckten ihm begeistert den rechten Arm zum Führergruß hin. Aber: „Am Morgen des 10. November 1938 war die Zeit des Selbstbetrugs vorbei. Jetzt war uns allen klar: Hitler verschwindet nicht. Wir sind es, die gehen müssen.“ Aber da war es für viele zu spät. Es folgten Enteignungen, Arisierungen, Verhaftungen. Die Wannseekonferenz mit Adolf Eichmann, bei der man bei einem Glas Cognac aufschrieb, dass es in ganz Europa über 11 Millionen Juden gab, die man vernichten wollte.
Margot Friedländer hat das alles fast nüchtern aufgeschrieben. Das macht das Entsetzliche, was uns allen ja längst bekannt ist, umso schlimmer. Weil es die Wahrheit war. Man muss das nachlesen, wie sie ihre Haare rot färben, sich die Nase operieren ließ und den Judenstern von der Jacke riss, um nicht erkannt zu werden. 16 Menschen, schildert sie, hätten ihr geholfen, immer wieder Verstecke zu finden. „Man hat gekämpft um zu überleben, diese Menschen auch. Es war ja gefährlich.“ Ein Leben in Angst.
Zum Erbe ihrer Mutter gehörte neben dem erwähnten Zettel das Notizbuch ihrer Mutter und eine Bernsteinkette. Sie bewahrte es auf über das KZ hinaus bis heute. Man muss das lesen über den Lageralltag im KZ Theresienstadt, die knüppelharte Arbeit, die sie leisten musste, die miserable Verpflegung, die man kaum als Essen bezeichnen konnte, den ständigen Hunger, die bittere Kälte, das spärliche Lager, auf dem man schlafen musste. Ein Bett sieht anders aus. Sie erfährt unendliches Leid, sieht furchtbare Bilder, wenn die zu Skeletten abgemagerten Menschen aus den Transport-Zügen, die ja oft nur Tierwaggons waren, fielen, halbtot. Immer wieder stellt sie sich die Frage: „Wieviel kann der Mensch aushalten?“ In Theresienstadt lernte sie ihren späteren Mann Adolf Friedländer kennen, den sie kurz nach der Befreiung des KZ heiratete und mit dem sie 1946 nach Amerika auswanderte.
Appell: Seid Menschen
Trotz all der Qualen, die sie und viele Juden erlitt, aller Pein, hat Margot Friedländer später bei ihren Besuchen in deutschen Schulen stets von Menschlichkeit geredet. „Seid Menschen!“ las ich in einem Bericht über ihren Besuch auf Schloss Torgelow. „Lasst so etwas nie wieder passieren!“ Viele der wenigen Holocaust-Überlebenden- sechs Millionen Juden wurden von den Nazis in ganz Europa umgebracht, weil sie Juden waren- konnten ihr Leben lang nicht vergessen, was ihnen die Nazis angetan hatten, sie waren, wen wundert es, traumatisiert. Es ist bewundernswert, dass eine Frau wie Margot Friedländer den Mut fand, dieses Buch zu schreiben.
Die Rückkehr nach Berlin, in das Land der Täter, das Weitergeben ihrer Geschichte an die nachwachsende Generation, empfinde sie, so hat sie es mal im Rundfunk gesagt, als eine Art Mission. Bei der Vorstellung ihres Buches im Roten Rathaus von Berlin sagte sie: „Ich kann für die sprechen, die es nicht geschafft haben. Aber ich spreche nicht nur für die sechs Millionen Juden, ich spreche für alle Menschen, die man umgebracht hat. Was ich jetzt mache, ist für die Jugend, sie sollen wissen, was war. Was war, das können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen.“ An anderer Stelle hat sie betont: „Der Mensch muss Mensch bleiben, denn schließlich haben alle das gleiche Blut in den Adern. Es gibt kein jüdisches, kein muslimisches oder christliches Blut.“
Worte einer Zeitzeugin, einer großen Persönlichkeit.