Du meine heilige Einsamkeit,
du bist so reich und rein und weit
wie ein erwachender Garten.
Meine heilige Einsamkeit du –
halte die goldenen Türen zu,
vor denen die Wünsche warten.
(Rainer Maria Rilke)
Einsamkeit ist ein viel bedichtetes und besungenes Thema. Es hat Dichter vieler Epochen beschäftigt, auch Komponisten und Schriftsteller. Sie setzen sich wehklagend, romantisierend, tröstend mit dem Phänomen auseinander, das jetzt in aller Munde ist, in Bestsellerlisten, Podcasts und praktischen Initiativen.
Da ist die „Bank:Verbindung“ in Bochum. Ehrenamtliche sitzen regelmäßig auf Parkbänken in mehreren Stadtteilen und sind zum Gespräch mit älteren Menschen bereit. „Gemeinsam statt einsam“ heißt der Mittagstisch in Ennepetal, der mit der gemeinschaftlichen Mahlzeit nicht nur den Hunger, sondern auch das Bedürfnis nach Begegnungen stillt. In der Corona-Zeit sind vielerorts Nachbarschaftsprojekte entstanden und Hilfstelefone geschaltet worden. Die Schutzmaßnahmen während der Pandemie haben den Menschen zugesetzt und das Gefühl des Alleinseins verstärkt. Jetzt erreicht das Thema Einsamkeit die politische Debatte.
Die Sozialminister der Länder fordern einen nationalen „Einsamkeitsgipfel“. In Kommunen wird ein Einsamkeitsbeauftragter gefordert. Der Landtag von NRW hat eine „Enquetekommission Einsamkeit“ eingesetzt, deren Untertitel „Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit“ lautet. Abgeordnete und Sachverständige erörtern das Thema unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten. In bisher 19 Sitzungen hat die Kommission wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Zivilgesellschaft beleuchtet.
„Einsamkeit macht krank“, sagte Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) nach dem Videotreffen mit ihren Amtskollegen. Sie bezog sich nicht nur auf die Lage in Pflegeheimen und Krankenhäusern, sondern auch die Probleme von Kindern und Jugendlichen. „Junge Erwachsene fühlen sich heute einsamer als früher – und das nicht erst seit Corona“, lautet ein wissenschaftlicher Befund dazu. Ein Forschungsteam der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat Studien zur Einsamkeit junger Erwachsener zwischen 1976 und 2019 ausgewertet und deutet die Ergebnisse als „Warnsignal“. Einsamkeit scheine „ein zunehmendes Problem im jungen Erwachsenenalter zu sein“, sagt Dr. Susanne Bücker vom Lehrstuhl Psychologische Methodenlehre an der Fakultät für Psychologie der RUB.
Zugleich geht das Forschungsteam auf Distanz zu dem Begriff „Einsamkeitsepidemie“. Der sei „überdramatisierend“, da „die Effektgröße des Anstiegs relativ klein ist“. Die Studie, die in der Zeitschrift Psychological Bulletin vom Dezember 2021 veröffentlicht ist, nimmt eine „wachsende gesellschaftliche Sorge“ zur Kenntnis, „dass Einsamkeit gerade bei jungen Erwachsenen, zu denen Expertinnen und Experten 18- bis 29-Jährige zählen, angestiegen ist“.
„Tatsächlich haben sich die Lebenserfahrungen junger Erwachsener seit den späten 1970er-Jahren massiv verändert“, erläutern die Autoren und führen aus: „Zu den gesellschaftlichen Veränderungen, die das bedingen, gehören unter anderem die zunehmende Unbeständigkeit sozialer Beziehungen, größere Mobilitätsmöglichkeiten, eine Verschiebung von Heirat und Familiengründung in spätere Lebensphasen und Veränderungen in der Kommunikation durch technologische Innovationen.“
Die zunehmende Einsamkeit wird auch aus Quellen bestätigt, von denen das nicht unbedingt zu erwarten war. Die jüngste „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich mit dem wachsenden Rechtsextremismus befasst, hat die Vereinsamung unter den für die Menschen in Deutschland besorgniserregenden Themen als fünft wichtigstes identifiziert. Im Diskurs ist von Einsamkeit oder Vereinsamung, Vereinzelung und sozialer Isolation die Rede. Die Unterschiede in den Begrifflichkeiten werden kaum deutlich, und es bleibt auch offen, ob eine messbare Verschärfung des Problems vorliegt, oder zunächst nur eine zunehmende Aufmerksamkeit entstanden ist. In den politischen Fokus rücken vor allem die Fragen nach den gesundheitlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen.
Großbritannien gilt weltweit als Vorreiter. Schon 2018 stufte das Land die Bekämpfung von Einsamkeit als nationale Aufgabe ein und erhob die Aufgabe in ministerielle Zuständigkeit. Japan zog mit einem entsprechenden Ministerium nach, und in der deutschen Debatte steht die Notwendigkeit eines Einsamkeitsministeriums im Raum. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat die britischen Maßnahmen zur Einsamkeitsbekämpfung untersucht. Zu einer Bewertung jedoch, inwieweit sie Wirkung gezeigt und zu einer Verringerung der Einsamkeit beigetragen haben, sah er sich nicht imstande. Entsprechende Studien lägen noch nicht vor.
Zu beobachten war demnach, dass die britische Regierung während der Pandemie ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Einsamkeit verstärkt habe. Die Einführung einer nationalen Strategie zur Einsamkeitsbekämpfung in Großbritannien ging auf die Arbeit der 2016 eingesetzten Jo-Cox-Einsamkeitskommission (Jo Cox Commission on Loneliness) zurück. Die Unterhaus-Abgeordnete hatte sich aufgrund der hohen Anzahl Betroffener und der negativen Auswirkungen für den Einzelnen und die Gesellschaft dafür eingesetzt. Die Strategie fördert die wissenschaftliche Erforschung der Verbreitung, Ursachen und Auswirkungen von Einsamkeit. Außerdem strebt sie eine Entstigmatisierung des Themas an und bemüht sich, die gesamtgesellschaftlichen Kosten zu beziffern.
Zu letzterem Aspekt wurde im Juni 2020 von der britischen Regierung der Report zur Monetarisierung der Einsamkeit veröffentlicht. Im Rahmen der Studie sollten die aufgrund von Einsamkeit entstehenden Kosten bewertet werden. In die Berechnung flossen drei verschiedene Faktoren ein, und zwar die Verringerung des subjektiven Wohlbefindens, die gesundheitlichen Folgekosten sowie die Auswirkungen auf die Produktivität. Aus wissenschaftlichen Studien und volkswirtschaftlichen Daten wurden zunächst Lebenszufriedenheitseinheiten ermittelt und sodann in Geldbeträge umgewandelt.
Je nach Schwere der Einsamkeit – unterschieden wurde zwischen „fast nie“, „gelegentlich“ und „oft/immer“ – ergaben sich Kosten zwischen 6400 und 17.000 Pfund pro Person und Jahr allein für die Verringerung des Wohlbefindens. Die Gesundheits- und die Produktivitätskosten wurden jeweils in Bezug auf schwere Einsamkeit berechnet.
Die Autoren schätzten die Kosten durch Krankheitstage aufgrund von Depression, Herzerkrankungen und Schlaganfall, die auf Einsamkeit zurückzuführen sind, auf 21 Pfund pro Person und Jahr. Sie gingen davon aus, dass lediglich 45 Prozent der einsamen Personen erwerbstätig sind. Die Gesundheitskosten veranschlagten sie bei 109 Pfund pro Person und Jahr. Sie betrachteten schließlich den Einfluss von Einsamkeit auf die Arbeitszufriedenheit und wiederum, in welchem Maß sich die Arbeitszufriedenheit auf die Produktivität auswirkt. Auf diese Weise ermittelten sie einen Produktivitätsverlust in Höhe von 730 Pfund pro Person und Jahr im Durchschnitt bezogen auf sämtliche Branchen.
Die britische Regierung beschloss im Rahmen der nationalen Strategie die finanzielle Unterstützung von Organisationen und Initiativen, die sich der Einsamkeitsbekämpfung widmen. Den entsprechenden Fonds, den „Building Connections Fund“ stattete sie 2018 zunächst mit 11,5 Millionen Pfund aus und stockte die Mittel 2020 im Zuge der Corona-Pandemie auf 24 Millionen Pfund auf.
Ob das nun viel oder wenig ist und ob es die erhofften Wirkungen entfaltet, lässt sich kaum beurteilen. Und es lässt sich nicht ohne weiteres auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Über die hat Susanne Bücker von der Ruhr-Universität Bochum, Mit-Autorin der oben genannten Studie, dem Bundestag im April 2021 berichtet. In Deutschland seien ca. zehn bis 20 Prozent der Menschen von chronischer Einsamkeit betroffen, und die habe „gravierende negative Konsequenzen für die Gesundheit und die Lebenserwartung“, verursache mithin hohe Gesamtkosten für die betroffene Person und die Gesellschaft. Insgesamt sei jedoch besonders Einsamkeit in der Kindheit, Jugend und jungen Erwachsenenalter noch zu wenig erforscht. Auch sei „wenig bis gar nichts über die Wirkung von politischen oder zivilgesellschaftlichen Maßnahmen und Kampagnen gegen Einsamkeit in Deutschland bekannt“.
Für die von Einsamkeit betroffenen Menschen bedeutet ihre Einsamkeit „großes Leid“, so die Wissenschaftlerin. Die Ursachen der Einsamkeit seien vielschichtig, jedoch fehle es bislang an Forschung, die die Ursachen, Konsequenzen und Entwicklungsverläufe von Einsamkeit in Deutschland umfassend untersucht. „Die Corona-Pandemie“, so die vorsichtige Formulierung, „könnte die Problemlage verschärft haben“. Von Vereinsamung bedroht seien besonders Menschen, „die schon vor der Pandemie wenig zufriedenstellende soziale Beziehungen geführt haben“. Bücker nennt als klassische Risikogruppen für Vereinsamung wie „Menschen mit niedrigem Einkommen, arbeitslose Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund, alleinerziehende Eltern, alleinlebende Menschen und Menschen mit psychischen oder körperlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen“ sowie deren Kinder.
Bei aller Vagheit der Erkenntnisse unterstreicht Bücker: „Einsamkeit ist politisch höchst relevant.“ Sie gehe mit erheblichen gesundheitlichen Problemen einher, die hohe Gesamtkosten verursachen, und auch mit einer geringeren politischen Partizipation. „Aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel der demographische Wandel, die Digitalisierung oder die Corona-Pandemie führen dazu, dass uns das Thema Einsamkeit auch zukünftig weiter begleiten wird“, sagt sie und fordert zum Handeln auf: „Es ist dementsprechend wichtig, jetzt politische Maßnahmen auf Bundesebene zu ergreifen, um Einsamkeit zu adressieren.“
Noch einmal Rilke, dessen Verse daran erinnern, dass Einsamkeit lange vor dem Internet und der Zunahme von Singlehaushalten (auf inzwischen 40 Prozent der Haushalte in Deutschland) ein verbreitetes Empfinden war:
„Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…“
Noch älter – aus dem 17. Jahrhundert – das Sonett „Einsamkeit“ von Andreas Gryphius:
„In dieser Einsamkeit der mehr denn öden Wüsten,
Gestreckt auf wildes Kraut, an die bemooste See,
Beschau ich jenes Tal und dieser Felsen Höh,
Auf welchen Eulen nur und stille Vögel nisten.
Hier, fern von dem Palast, weit von den Pöbels Lüsten,
Betracht ich, wie der Mensch in Eitelkeit vergeh,
Wie auf nicht festem Grund all unser Hoffen steh,
Wie die vor Abend schmähn, die vor dem Tag uns grüßten.
Die Höhl, der raue Wald, der Totenkopf, der Stein,
Den auch die Zeit auffrisst, die abgezehrten Bein
Entwerfen in dem Mut unzählige Gedanken.
Der Mauern alter Graus, dies ungebaute Land
Ist schön und fruchtbar mir, der eigentlich erkannt,
Dass alles, ohn ein Geist, den Gott selbst hält, muss wanken.“
Auch aus Sicht der Soziologie ist das Thema nicht so neu, wie es sich momentan in Talkshows und Rezensionen von Daniel Schreiber („Allein“) und Diana Kinnert („Allein zu sein“) darstellt. Die Vereinzelung des Menschen hat Soziologen seit der Industrialisierung beschäftigt, Globalisierung und Digitalisierung brachten einen weiteren Forschungsschub. Das einsame Sterben in der Plattensiedlung, anonyme Bestattungen, das Fernsehgerät, das Alleinstehenden das Gefühl von Gesellschaft vermittelt, sind einzelne Aspekte eines vielschichtigen Phänomens. In der Diskussion über das wachsende Prekariat schwangen die Vereinsamung und das Abgehängtsein ganzer Bevölkerungsgruppen schon mit; der Trend zur Individualisierung beschrieb die gleiche Entwicklung mit einer positiveren Wortwahl. Und wann immer von der wachsenden Armut die Rede ist, geht es um den Verlust von gesellschaftlichen Teilhabechancen, von Zugängen zu Kultur und Mobilität, Austausch und Anerkennung, Respekt.
Wenn sich nun also die Politik mit der Einsamkeit befasst, kann sie sicher neue Lebensformen und Gemeinschaftsmodelle fördern, Generationenprojekte unterstützen, Quartiere entwickeln, Nahversorgung sicherstellen, das Gesundheitswesen sensibilisieren, das Thema enttabuisieren und vieles mehr. Wer jedoch mehr als einen Reparaturbetrieb schaffen, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig stärken will, muss den Blickwinkel auf die soziale Lage und die wirtschaftlichen Verhältnisse erweitern.
Die Corona-Krise hat eine Reihe von Schwachstellen, Fehlentwicklungen und Versäumnissen ans Licht gebracht. Insbesondere Bevölkerungsgruppen, die noch nicht oder nicht mehr produktiv sind, haben die mangelnde Fürsorge zu spüren bekommen. Einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Generationen Stiftung unter 1000 jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren zufolge fühlt sich die Jugend von der Politik im Stich gelassen.
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen plagt in Folge der Pandemie Angst vor Einsamkeit und Depressionen. Fast zwei Drittel der jungen Erwachsenen (61,4 Prozent) geben an, dass die Regierung für bessere Wahlergebnisse in Kauf genommen hat, dass die Corona-Pandemie außer Kontrolle gerät. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen (52,3 Prozent) hat das Gefühl, dass die Rechte von Impfgegnern höher wiegen als ihr Recht auf Gesundheit, Bildung und ein soziales Leben.
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