Die Augen der Nation blicken gebannt auf Inzidenzwerte und Hospitalisierungsraten. Doch mit der Corona-Pandemie hat sich eine zweite Pandemie aufgebaut, die weitaus weniger Aufmerksamkeit erhält: ein beispielloser Anstieg psychischer Leiden. Die Zahl der Menschen, die wegen Angststörungen, Beziehungsstörungen, Depressionen, Burnout und Co. Hilfe suchen, hat sich seit Anfang letzten Jahres um mehr als ein Fünftel erhöht.
Das zeigt eine aktuelle Studie, die das von mir geführte Analyseunternehmen HASE & IGEL gemeinsam mit dem Institut für Verhaltensökonomie durchgeführt hat. Hinter diesem Anstieg verbirgt sich nicht nur millionenfaches menschliches Leid, sondern auch eine Kostenwelle von 10-30 Milliarden Euro pro Jahr, die auf Gesundheits- und Sozialsysteme sowie die Betriebe zurollt. Das entspricht einer Belastung, als ob sich sämtliche Ungeimpfte gleichzeitig mit Corona infizieren würden… und das jährlich.
Besonders besorgniserregend ist dabei, dass die Zahlen in verschärften Krisensituationen (z.B. im Lockdown) steil nach oben schnellen, doch in entspannteren Zeiten (wie z.B. im Sommer) nur langsam wieder sinken. Mit jeder neuen Hiobsbotschaft, jeder weiteren Welle schraubt sich damit das Niveau weiter in die Höhe. Psychische Erkrankungen dauern dabei oft sehr lange an und führen zu beinahe der Hälfte aller Frühverrentungen. Betroffene verlieren im Schnitt 10 Jahre Lebenserwartung – während im Zuge von Corona die Lebenserwartung bisher um 0,15 Jahre gesunken ist. Was sich hier gerade aufbaut, wird uns also auf lange Zeit beschäftigen.
Massiver Anstieg psychischer Störungen in allen Bereichen
Der Zuwachs betrifft dabei alle typischen Bereiche psychischer Krankheiten. Nach absoluten Zahlen führen Angststörungen, wobei neben diffusen Symptomen wie Panikattacken insbesondere soziale Ängste massiv zugenommen haben.
Den stärksten relativen Anstieg – mit über 40 Prozent Wachstum – verzeichnen hingegen Beziehungsstörungen: wo sich das Leben primär in den eigenen vier Wänden abspielt und soziale Kontakt stark reduziert werden, eskalieren toxische Beziehungen und Co-Abhängigkeiten nehmen massiv zu.
Doch auch die abrupten Umstellungen in der Arbeitswelt haben ihre Spuren hinterlassen: Zwar ist die Zahl Jener, die Hilfe wegen zu hoher Arbeitsbelastung sucht, weitgehend gleich geblieben, doch zugleich beklagen wesentlich mehr Menschen Burnout-Symptome. Pikant ist, dass dieser Anstieg immer dann besonders stark ausfiel, wenn Arbeitnehmer nach längeren Home Office Phasen wieder ins Büro zurückkehren sollten.
Einen starken Zuwachs verzeichnen auch depressive Verstimmungen, gepaart mit permanenter Unruhe.
Angststörungen hemmen auch die Impfkampagne
Gerade Angststörungen zeigen dabei, dass das Private durchaus politisch sein kann und sich die psychische Pandemie nicht immer von der viralen trennen lässt: So hat die Angst vor Spritzen mehr als doppelt so stark zugenommen wie die Angst vor Krankheit.
Wer Ungeimpfte pauschal als uninformiert, unsolidarisch oder rechtsradikal abstempelt und mit Drohungen und Druck ihr Verhalten ändern möchte, wird bei Jenen, die von Angststörungen betroffen sind, die Neurosen weiter verstärken und damit das Gegenteil des gewünschten Effektes erzielen.
Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft sollte man also nicht primär als politische Radikalisierung begreifen – sondern muss darin vielmehr auch eine Pathologie sehen.
Die mediale Kommunikation wirkt sich negativer aus als der Lockdown
Mindestens ebenso wichtig wie die Diagnose, dass sich neben dem Coronavirus auch psychische Krankheiten immer stärker ausbreiten, ist die Frage, was dafür ausschlaggebend ist.
Als „Verdächtiger“ stehen bisher meist die politischen Corona-Maßnahmen im Fokus – insbesondere die Lockdowns. Doch unsere Studie zeigt, dass diese Erklärung zwar nicht falsch ist, doch zu kurz springt. So haben die sozial besonders restriktiven Lockdownmaßnahmen Angststörungen und depressive Verstimmungen signifikant ansteigen lassen, doch lässt sich damit nur ein Drittel dieses Anstiegs erkären. Gewichtiger haben sich sowohl die Verbote von Veranstaltungen als auch die Maskenpflicht auf psychische Leiden in allen Bereichen ausgewirkt. Doch auch hier kann man weniger als die Hälfte des Anstieges auf die Maßnahmen selbst zurückführen.
Viel stärker indes wird der Anstieg psychischer Störungen getrieben durch die Kommunikation über die Pandemie in den Medien. Treiber Nummer eins ist hierbei die Negativdynamik und Polarisierung im Social Web. Doch auch die Dominanz von Corona im reichweitenstarken Journalismus zeigt einen deutlichen Negativ-Einfluss auf die psychische Gesundheit – insbesondere, wenn die Berichterstattung stark emotionalisiert und Wut wiedergibt. Schon alleine die Kombination der stärksten Faktoren – Shitstorms im Social Web und Corona-Schlagzeilen in führenden journalisischen Medien – erklärt beinahe vier Fünftel des psychischen Leidensdrucks.
Das Hygienegebot der Stunde: Besonnen und nüchtern bleiben
Die Erkenntnis, dass uns unsere Kommunikation über Corona psychisch kranker macht als jeder Lockdown, kann gerade in der aktuellen Lage gar nicht überbewertet werden. Immer lauter werden derzeit die Konflikte in journalistischen und sozialen Medien ausgetragen, immer polarisierter und parteiischer wird auf allen Seiten der Ton und zugleich hat die Angst, mit Omikron in einen Zusammenbruch kritischer Systeme zu führen, das Land fest im Griff.
Unsere Studie zeigt unmissverständlich, wie entscheidend es ist, in dieser Situation einen kühlen Kopf zu bewahren. Verbal zu deeskalieren, jede vermeidbare Emotionalisierung zu unterlassen, Ängste nicht unnötig zu befeuern. Selbstverständlich geht es hier nicht darum, zu verharmlosen. Vielmehr ist es vor dem Hintergrund der Studienergebnisse das Hygienegebot der Stunde, besonnen zu bleiben – und da, wo man keine neuen Erkenntnisse hat, auch einfach mal nichts zu sagen oder zu schreiben.
Wir müssen Kommunikation verantwortungsvoller gestalten
Die Verantwortung liegt hierbei in Politik und Journalismus genauso wie beim Einzelnen. Politische Akteure sollten sich bei aller notwendigen Debatte rhetorischer Zuspitzungen und düsterer Prophezeihungen enthalten und stattdessen nüchtern bei gesicherten Fakten und rationalen Argumenten bleiben. Journalisten sollten sich an die Trennung von Bericht und Kommentar erinnern und jede Effekthascherei vermeiden, sich ganz auf die Aufgabe der Information konzentrieren. Und jeder Einzelne muss um der eigenen Gesundheit und jener seines Umfelds willen dringend seine Nutzung der Sozialen Medien kritisch überprüfen: das Hochschaukeln in Filterblasen – egal wofür oder wogegen – ist ein zentraler Treiber dieser psychischen Pandemie.
Für das Coronavirus kann keiner etwas. Wie wir ihm am Besten begegnen, muss zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft leidenschaftlich debattiert werden, auf das sich die besten Ideen und Konzepte durchsetzen. Wie wir jedoch diese Debatte führen hat einen zentralen Einfluss darauf, wie stark wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zusätzlich zu den körperlichen auch noch an emotionalen und geistigen Schäden tragen werden. Wir müssen diesen Hebel endlich erkennen und unseren kommunikativeren Umgang mit Corona (und miteinander!) bewusster gestalten.
Über die Studie
Der Pre-Print der Studie wurde am 10. Dezember veröffentlicht auf https://www.researchgate.net/publication/356918687_Entwicklung_und_Treiber_psychischer_Krankheitsindikatoren_in_der_Covid-19-Pandemie
Das Datenanalyseunternehmen HASE & IGEL (u.A. Urheber der ersten systematischen Untersuchung der Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen in Deutschland) und das Institut für Verhaltensökonomie (seit 2013 Kooperationspartner von Renten- und Versicherungsträgern im Bereich der psychischen Gesundheit) haben auf eigene Veranlassung und Rechnung untersucht, wie sich im Pandemiezeitraum die Zahl der Hilfesuchenden in den wichtigsten Bereichen psychischer Störungen entwickelt hat und welchen Einfluss darauf politische Corona-Maßnahmen und die mediale Kommunikation rund um die Pandemie hatten.
Wie viele Menschen mit welchen Symptomen nach Hilfe suchen, wurde ermittelt anhand der 553 häufigsten Google-Suchanfragen, die Betroffene online zu Ärzten, Therapeuten und Coaches führen. Das Suchverhalten hat sich als Indikator international etabliert, da bei der Suche nach Gesundheitsinformationen und Behandlungsmöglichkeiten die Online-Recherche zum wichtigsten Vehikel geworden ist. 12.688.496 Suchanfragen vom 1.1.2019 bis 30.6.2021 wurden analysiert.
Der Einfluss politischer Maßnahmen wurde für das Jahr 2020 untersucht auf Basis einer Maßnahmendatenbank, die aus einem vorherigen Forschungsprojekt (s.o.) vorhanden war.
Der Einfluss der Kommunikation in Journalismus und Sozialen Medien wurde untersucht anhand aller öffentlichen digitalen Beiträge vom 1.1.2020 bis 30.6.2021, die entweder mindestens 100.000 Leser oder mindestens 100 Reaktionen (z.B. Kommentar, Zitat, Verlinkung) erzielt haben. Die 7.852.852 Beiträge wurden vom Medienanalyse-Unternehmen Talkwalker erhoben, inklusive der Zahl der Leser und Reaktionen sowie einer Klassifizierung der Emotionalität und der Art der Emotionen im Text. Die Analysen von Trends und Zusammenhängen wurden mit KI-gestützten Instrumenten von HASE & IGEL mit Methoden der Zeitreihenanalyse und Multivariaten Regressionsanalyse durchgeführt.
Haben Sie jemals mit einem „eingefleischtern“ Impfgegner „diskutiert“? Es ist bei diesen Menschen nicht möglich sachlich mit Fakten zu argumentieren. Jeder wissenschaftliche Beleg zB für die Wirksamkeit der Impfstoffe werden ohne jeden Nachweis weggeschwurbelt. Und nach fast 2 Jahren habe ich auch keinerlei Lust mehr, immer wieder das Gleiche zu wiederholen. Und deswegen finde ich es richtig, die möglichen Konsequenzen einer Covid-19-Infektion so drastisch darzustellen, wie die Medien oder auch manche Politiker es tun. Es ist doch bei drn Sterbegällen durch Corona tatsächlich so, als würde täglich ein voll besetztes Flugzeug abstürzen. Wieso sollte man das beschönigen? Fragen Sie doch einmal die Angehörigen dieser Verstorbenen, was diese von Schlussfolgerungen halten die Sie in Ihrer Studie getroffen haben
Sehr geehrte Frau Trieb, Emotionalisierung, Spektakularisierung und Konfliktisierung in journalistischen und sozialen Medien machen die Menschen nachweislich krank. Das ist ein Fakt. Wenn Sie argumentieren, dass man diesen Kollateralschaden hinnehmen sollte, um „etwas“ zu erreichen, ist das eine Abwägung, deren ethische Zulässigkeit mit dem „etwas“ steht und fällt, das erreicht werden soll und der Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt. Bisher sieht es mitnichten so aus, als ob „eingefleischte Impfgegner“ sich durch spektakuläre Schlagzeilen, Twitter-Shitstorms und Wut-Tiraden in Talkshows umstimmen ließen. Im Gegenteil: Bisherige Studien sprechen dafür, dass sich durch eine polarisierte öffentliche Kommunikation mehr Menschen radikalisieren. Wenn indes nur noch als Argument übrig bleibt, dass Sie „keine Lust mehr haben“, ist das m.E. keine legitime Basis, durch unachtsame Kommunikation unnötiges, zusätzliches Leid für Millionen Menschen (und unnötige, zusätzliche zig Milliarden Sozialkosten) in Kauf zu nehmen. Mit Solidarität hat das nichts mehr zu tun.
Zum „vollbesetzten Flugzeug jeden Tag“: das hat doch nichts mit unserer Studie zu tun: mit mehr Hass auf Telegram, mehr Wut in Talkshows und mehr Apokalypse in den Schlagzeilen verhindern Sie keinen einzigen Corona-Todesfall, sonst hätten Länder, in denen weniger polarisiert kommuniziert wird, viel höhere Inzidenzen und R-Werte. Sie nehmen nur noch mehr psychisches Leid in Kauf. Es geht hier ja mitnichten um „beschönigen“, sondern um „bei den Fakten bleiben, statt in einen Krieg der Meinungen und Emotionen einzusteigen“.
Jenseits davon – und nun wirklich „off topic“, da nicht im Zusammenhang mit der Studie: Die Metapher mit dem Flugzeug ist höchst fragwürdig. Die Übersterblichkeit im Gesamt-Pandemieverlauf ist bisher nicht statistisch signifikant erhöht und das durchschnittliche Alter eines Corona-Toten liegt deutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung der Deutschen. Die Summe an Lebensjahren, die in unserem Land durch Covid verloren ging bisher dürfte somit nicht höher sein – womöglich sogar niedriger – als jene, die durch psychische Erkrankungen und wirtschaftliche Schäden in Folge der Pandemie verlustig gingen. Derlei ist aber zum einen bisher in alle Richtungen lediglich Modellierung, wie es wirklich wird zeigen erst die nächsten Jahre. Klar ist indes, dass es sich ethisch, medizinisch und volkswirtschaftlich rächen wird, die psychische Komponente (weiter) zu unterschätzen.