Lars Klingbeil, der bisherige Generalsekretär der SPD und als solcher verantwortlich und gefeiert für die erfolgreiche Wahlkampagne der Partei für Olaf Scholz, hat mit 1,96 Metern Länge Gardemaß, was nicht bedeutet, dass sich der Sozialdemokrat an den langen Kerls des früheren preußischen Königs Friedrich Wilhelms I orientieren würde. Im übrigen hat Klingbeil, dessen Vater Berufssoldat war, nicht gedient, sondern einst den militärischen Dienst verweigert und stattdessen Zivildienst in der Bahnhofsmission Hannover geleistet. Am Samstag wird der 43jährige Klingbeil, der seinen Magister an der Uni Hannover gemacht hat in Politik, Geschichte und Soziologie, zum Nachfolger von Norbert Walter-Borjans gewählt und damit neben Saskia Esken einer der SPD-Vorsitzenden. Eine immer ehrenhafte, interessante, aber auch eine riskante Aufgabe. Die SPD ist die älteste deutsche Partei, die viel Tradition mit sich herumschleppt, viele Probleme, Meinungen, eben eine lange Geschichte mit vielen berühmten Namen. Ich kenne die Schuhgröße von Lars Klingbeil nicht, vermute aber aufgrund seiner Körpermaße eine Größe, die meine Schuhgröße von 42,5 bei weitem überragt. Ob er in die Schuhe der Bebels, Eberts, Wels, Schumachers und Brandts passt, wird man sehen. Er wird daran gemessen werden- wie jeder seiner vielen Amtsvorgänger und der wenigen Amtsvorgängerinnen.
Die Geschichte der SPD-Vorsitzenden ist auch eine deutsche Geschichte, zumindest umfasst sie die Jahre von 1863 bis heute. Die Geschichte eines Kampfes gegen Bismarck, die Nazis und die Kommunisten. 1863 wurde die SPD in Leipzig gegründet. Andere Daten weisen die Jahreszahlen 1869 aus, 1875 und 1890 und die Orte Eisenach, Gotha und Halle an der Saale. Alles Orte aus dem Osten des Landes. Die Namen August Bebel werden damit verknüpft, Wilhelm Liebknecht und Ferdinand Lassalle. 1863 gründete sich in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein(ADAV) unter dem Vorsitz des Juristen Ferdinand Lassalle. Ziel des Vereins war die Vertretung der sozialen Interessen der deutschen Arbeiter. Hauptgegner waren das reiche Großbürgertum, der Adel und das Militär. Lassalle starb 1864 an den Folgen eines Duells, es ging um eine Frau, die er einem rumänischen Adeligen ausgespannt hatte. 1875 schloss sich der Verein mit der von Bebel und Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei(SDAP) zusammen zur Sozialistischen Arbeiterpartei, aus der dann 1890 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit dem Kürzel SPD wurde. Zu nennen wären hier noch die Vordenker sozialistischer und revolutionärer Ideen wie Karl Kautsky, Eduard Bernstein, nicht zu vergessen Karl Marx.
Kommen wir zu den großen Schuhen: Da ist natürlich August Bebel als Großer zu erwähnen. Handwerker aus kleinen Verhältnissen, der von Lassalle inspiriert worden war. Doch dessen Leben wird Klingbeil weniger beschäftigen, war Lassalle doch der Sohn eines reichen jüdischen Kaufmanns aus Breslau, der sich stets zwischen allen Stühlen bewegte, der an der Revolution 1848/49 teilgenommen, aber auch erfolgreich für eine reiche Adelige deren Scheidung erstritten hatte, der für das Proletariat kämpfte und andererseits Bismarck verehrte und die Nähe zu den Reichen suchte. Oder Wilhelm Liebknecht, der mit Bebel den ADAV gründete. Liebknecht verbrachte nach der Revolution 1848 ein Dutzend Jahre im Londoner Exil, eine Erfahrung, die Sozialdemokraten später unter der Nazi-Herrschaft machten, wenn sie rechtzeitig das NS-Reich verlassen konnten. Liebknecht wurde von Preußen, das er nicht mochte, als Staatsfeind ausgewiesen und wechselte nach Sachsen. Übrigens war der ADAV antipreußisch und marxistisch. Bebel führte die SPD bis zu seinem Tod 1913 zusammen mit Paul Singer. Auch die Nachfolger leiteten die Partei als Doppelspitze, Friedrich Ebert und Hugo Haase.
Kampf um Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit
Die Geschichte der SPD ist eine Geschichte des Kampfes um Freiheit, soziale Gerechtigkeit, freie Wahlen, bessere Bezahlung, gegen Kinderarbeit. Die Geschichte eines Kampfes, den man immer wieder aus dem Untergrund führen musste. Bismarcks Sozialistengesetz als Beispiel, das mehrfach verlängert wurde und der Partei schwer zusetzte. Kaiser, Adel und Militär sahen in der SPD ihren eigentlichen Feind, wohl auch, weil die ziemlich arme und vielfach rechtlose Arbeiterklasse in der SPD ihre Hoffnungen sah, dass es anders werden könnte für sie und ihre Familien, besser. Trotz vieler Behinderungen errang die SPD unter Bebel bei den Reichstagswahlen 1912 rund 35 Prozent der Stimmen. „Arbeiterkaiser“ wurde der beliebte SPD-Chef Bebel genannt.
Der Streit um die Kriegskredite 1914 spaltete die Partei. Die Reichstagsfraktion der SPD stimmte trotz heftiger innerparteilicher Proteste dafür, weil nicht wenige Sozialdemokraten nicht länger als vaterlandslose Gesellen beschimpft werden wollten. Der Kriegsausbruch wurde schließlich gefeiert, als hätte man die Schlachten schon gewonnen. Der Streit blieb, auch als Kaiser Wilhelm II davon schwadronierte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Bebel hätte die Kredite abgelehnt, aber er war tot. 1917 gründete sich die USPD. Zuvor war der Spartakus-Bund entstanden unter Liebknecht und Rosa Luxemburg, der sich wenig später zur KPD wandelte. Damit war die Spaltung der Arbeiterklasse vollzogen. Friedrich Ebert blieb SPD-Chef, ehe er 1919 erster Reichspräsident der neuen Republik wurde. Der Kaiser hatte abgedankt, war nach Holland gezogen, wo er 1941 in Doorn starb. Nachfolger Eberts wurde Otto Wels, dessen wichtigste Rede dieser am 23. März 1933 hielt. Als einzige Partei stimmte die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz, das Adolf Hitler und den Nazis alle Hebel in die Hände gab, um die Nazi-Diktatur zu begründen. Otto Wels Worte waren: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Zu der Zeit saßen schon viele Sozialdemokraten und Kommunisten in Gefängnissen, danach folgten viele mehr in die Konzentrationslager. Wels floh nach Prag, dann nach Paris, wo er 1939 starb. Er blieb Vorsitzender der SPD bis zu seinem Tod. Willy Brandt hat auf manchen Parteitagen an das Schicksal seiner Partei erinnert und oft Wels Worte zitiert.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs gab es zunächst zwei sozialdemokratische Parteien, eine im Osten unter Otto Grotewohl, die dann unter Zwang mit der KPD zur SED vereinigt wurde. Als Folge wurde 1946 in Hannover die SPD gegründet. Entscheidende Figur war Kurt Schumacher, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren und unter den Nazis schwer gelitten hatte. Sie hatten ihn u.a, in den Konzentrationslagern Dachau und Neuengamme gefoltert und verprügelt. Schumacher war ein Antikommunist. Er bezeichnete die Kommunisten als rot lackierte Faschisten. Er war der erste Vorsitzende der SPD nach 1945 und blieb es bis zu seinem Tod 1952. Er prägte die SPD in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, den CDU-Kanzler Konrad Adenauer kritisierte er als „Kanzler der Alliiierten“. Schaut man sich dann die Ahnengalerie der SPD-Chefs an, bleibt man automatisch an Willy Brandt hängen, der großen SPD-Persönlichkeit der Nachkriegszeit, ohne Erich Ollenhauer, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Kurt Beck, Franz Müntefering, Martin Schulz, Andrea Nahles, den kommissarischen Vorsitzenden Manuela Schwesig, Malu Dreyer, Thorsten Schäfer-Gümbel und last but noch least Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu nahe zu treten.
Der Erfolg kam mit Nowabo und Esken
Vor allem Nowabo und Saskia Esken muss man noch einige Worte widmen. Sie hatten vor gut zwei Jahren die eigentlichen Favoriten im Rennen um den Vorsitz der Partei, Olaf Scholz und Klara Geywitz, besiegt. Nowabo, schon Polit-Rentner, und Esken, eine Linke, die kaum jemand kannte. Das Duo wurde unterstützt von den Jusos, deren Vorsitzender ein gewisser Kevin Kühnert war. Ein Gegner von Scholz. Und Nowabo, Esken, Kühnert und Klingbeil gelang es, die Partei zusammenzuführen, hinter Scholz, den sie zum Kanzlerkandidaten machten, zu versammeln. Und durch diese Geschlossenheit ließen sie die Union alt ausssehen mit Armin Laschet, Markus Söder und all den anderen, die gegen Laschet waren. Es war ein völlig überraschendes Bild: hier die vereinte harmonische SPD, aus der es keinen schiefen Ton gab, in der sich plötzlich alle lieb hatten, auf der anderen Seite die Kanzlerpartei Union, die ohne Merkel ihren alten Glanz verlor.
Norbert Walter-Borjans hat freiwillig auf ein Mandat im neuen Bundestag verzichtet, wollte nie Minister werden in einer SPD-geführten Regierung, er hat nach der
erfolgreichen Bundestagswahl wiederum freiwillig eine erneute Kandidatur für den SPD-Vorsitz abgelehnt. Aus Altersgründen. Nowabo ist 69 Jahre alt. Saskia Esken(60) will weitermachen, zusammen mit Lars Klingbeil die älteste deutsche Partei führen. Aber nicht gegen den SPD-Kanzler Scholz, man will auch kein Kanzlerwahlverein werden wie es die CDU viele Jahre war. Man will die Fehler der Regierung Schröder in den Anfangsjahren der rot-grünen Koalition nicht wiederholen, sondern gemeinsam diskutieren und regieren. Klingbeil hat gesagt: „Ein Wahlsieg reicht mir nicht.“ Gemeint: dem Sieg bei der Bundestagswahl sollen Siege bei den Landtagswahlen im nächsten Jahr folgen: im Saarland, in NRW, Schleswig-Holstein und in Niedersachsen. Und natürlich wollten sie alle Olaf Scholz dabei helfen, dass der Kanzler 2025 wieder gewählt wird. Das sieht der frühere Scholz-Gegner Kühnert im übrigen genauso. Scholz ist sein Kanzler, den er unterstützen wird. Klingbeil und Kühnert wollen auch jene bei der Stange halten, die nicht Scholz-Fans sind, diesen aber gewählt haben. Diese Geschlossenheit ausgerechnet der SPD beizubehalten, den Umbruch der Partei mitzugestalten, die Hälfte der Bundestagsabgeordneten ist neu im Parlament, ein Viertel unter 35, das wird das Kunststück sein. Und dazu kommen die gewaltigen Aufgaben der Regierung Scholz, angefangen von der Corona-Pandemie, die dringend nötige Digitalisierung, über die Finanz- und Steuerpolitik, den Wohnungsbau, Fragen der sozialen Gerechtigkeit bis hin zu Problemen, die die europäische Einigung betreffen wie den künftigen Umgang mit Russland, der Türkei und China.
An all dem werden sie gemessen. Sie wissen selber, wie schwer das werden kann und wird. Und dass der Wechsel zur Demokratie gehört, wie sie gerade selber erfahren haben. Selbstgefälligkeit ist unangebracht wie Arroganz der Macht. Macht wird nur auf Zeit verliehen. Die Geschichte der SPD und ihrer vielen Vorsitzenden liefert viele Beispiele dafür.