Nach einer so langen Zeit in der Bundesregierung fällt es den Abgeordneten der Union schwer, sich in die Rolle der Opposition zu fügen. Viele der älteren Politiker erinnern sich noch an die zutreffende Diagnose ihres früheren leidgeprüften Kollegen Franz Müntefering, der diesen Status als „Mist“ bezeichnete. Nur wenige schöpfen ein wenig Mut aus der Verheißung, dass die Opposition von heute in unserer Demokratie die Regierung von morgen sein kann. Allen Christdemokraten und Christsozialen ist indessen klar, der Aufstieg aus dem tiefen Oppositionskeller wird sehr schwierig sein und viel Zeit brauchen.
Schwierige Suche nach dem CDU-Vorsitzenden
Die Neuformation der Ampelkoalition verlief von den ersten Sondierungen bis hin zu den Unterschriften des rot-grün-gelben Bündnisvertrages ebenso diskret wie erfolgreich. Der neue Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Regierung werden von einer breiten Mehrheit getragen. Viele neue Ämter wurden ohne große Dispute vergeben, manche Positionen in den Behörden und für andere Funktionen sind noch zu besetzen.
In der Opposition bleibt nur sehr wenig zu verteilen, nämlich nur der Partei- und Fraktionsvorsitz sowie daneben die Stellvertreter- und Sprecher- sowie einige Ausschussvorsitz-Posten. Derzeit läuft die Abstimmung über den CDU-Vorsitzenden: Merz, Röttgen und Braun stehen auf der Liste. Merz ist wohl der Favorit, weil er auch mit Mario Czaja einen Supermann für die Position des CDU-Generalsekretärs im Angebot hat.
Allerdings könnte es auch noch zu einer „Stichwahl“ zwischen Merz und Röttgen kommen, bevor die 1001 CDU-Parteidelegierten den neuen Führer an der Spitze wählen werden. Wenn der Sauerländer, der vor rund 20 Jahren Chef der Unionsfraktion und damals ein guter Oppositionsführer war, den Parteivorsitz erobern sollte, dürfte es schon Anfang 2022 in der CDU Überlegungen geben, ob er nicht auch die Fraktionsspitze übernehmen sollte. Mit seinen Reden im Bundestag würde er jedenfalls eine wesentlich größere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit finden als nur in der obersten Etage des Adenauerhauses. Dafür müsste jedoch der jetzige Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus, dem ohnehin erst einmal eine „Galgenfrist“ bis April nächsten Jahres eingeräumt wurde, aus dieser Funktion verdrängt werden.
Lähmende Endzeit der Merkel-Aera
Es wird also noch einige Zeit ins Land gehen, bis ein neues Team der Union sich in der Opposition aufgestellt haben wird. Ruhige Zeiten wird es bis dahin für die CDU nicht geben. Die größte Herausforderung wird sich danach stellen, denn die Union muss einen Revitalisierungsprozess einleiten und ein neues Grundsatzprogramm formulieren. Die asymmetrische Demobilisierung und programmatische Deformation haben bereits vor langer Zeit unter der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel begonnen: Sie war 18 Jahre an der Spitze der Partei und 16 Jahre Bundeskanzlerin. In dieser langen Regierungszeit hat es zweifellos positive Entscheidungen und Entwicklungen gegeben. Die Erfolge dieser Aera hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag gerade jüngst den Unionsabgeordneten ausführlich präsentiert und der „lieben Angela“ dafür so gedankt: „Wir sind stolz auf 16 gemeinsame Jahre verlässliche Politik der Mitte unserer Gesellschaft. Es war uns eine Freude und Ehre, mit Dir für unser Land arbeiten zu dürfen.“
Abgehobenheit statt Basisnähe
Der nostalgische Blick zurück mag tröstlich stimmen, doch für den zukünftigen Kurs bringt er wenig. Denn die Union muss sich nun in der Opposition personell regenerieren, ihre Strukturen verändern und insbesondere inhaltlich neu orientieren. Ihre Mitglieder und sogar viele ihrer Funktionsträger fragen danach, wofür die CDU heute eigentlich noch steht und wie sie ihren Zukunftskurs definiert.
Der enge Kontakt zur Basis ist weitgehend verloren gegangen, es fehlt die direkte Verbindung der Parteioberen zu den Kreisvorsitzenden, Landräten und Bürgermeistern. Viele Amtsinhaber im Bund und in den Ländern wirkten mehr und mehr abgehoben. Die Distanz zu den Bürgerinnen und Bürgern wurde immer größer. In den Parteizentralen hat man sich viel zu sehr auf die „sozialen Medien“ verlassen, doch Instagram, Twitter und E-Mails hatten zumeist eine unsoziale Wirkung; der persönliche Kontakt, die Begegnung vor Ort mit den Menschen blieben dabei auf der Strecke. Die Techniken wurden zwar immer besser, die direkte Kommunikation immer schlechter. Der noch amtierende Generalsekretär Ziemiak, im Vergleich zu manchen seiner Vorgänge ein politischer Leichtmatrose, hat diese negativen Wirkungen nie begriffen und war intellektuell überfordert.
Die CDU wird als Volkspartei nur noch eine neue Chance haben, wenn sie ihr Ohr wieder stärker an die Basis der Bürgerinnen und Bürger halten wird. Die Truppe der Mandatsträger sollte in ihren Wahlkreisen mit dem notwendigen Aufbruch sofort beginnen – vor allem auch jene, die als Kandidaten oft genug nur über Listenplätze in die Parlamente gelangten und größtenteils nur sporadisch Wahlkreise „betreuten“; vielfach blieben diese „Betreuer“ in diesen Wahlkreisen fast unbekannt und damit unbeachtet.
Von der Champions League in der Landesliga Die Union im Bundestag muss größte Anstrengungen unternehmen, ihre Position als Volkspartei in der Opposition zu behaupten. Sie spielt nun nicht mehr in der Champions League, sondern in Klassen darunter – nämlich in der Landesliga. Viel Zeit bleibt ihr nicht, diese neuen Herausforderungen zu analysieren und anzunehmen. Im nächsten Jahr stehen gleich vier große Wahlkämpfe an – im Saarland, in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen. Die aktuellen demoskopischen Befunde für die CDU sind dort zur Zeit nicht sehr positiv. Dagegen befinden sich die SPD, die Grünen und die FDP im Aufwind der Ampelkoalition im Bund. Eine Veränderung der politischen Großwetterentwicklung wird in den nächsten Monaten nur möglich, wenn die CDU mit einer starken Motivation und Mobilisierung eine neue Offensive startet und nicht viel Zeit mit dem Lecken ihrer Wunden vergeudet. Nicht der Blick zurück im Zorn, sondern der Blick mutig nach vorn – das müsste die Devise für alle Politiker der Union sein.
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