1. Wortlaut der von Biden formulierten Roten Linie
US-Präsident Biden habe seinem Partner in Russland am 7. Dezember konditionierte Folgen angedroht. Die Folgen sind – selbstverständlich – nicht ausbuchstabiert. Nur eines hat der US-Präsident explizit ausgeschlossen: Eine militärische Reaktion der USA (unilateral – eine andere Entscheidung des Kollektiv-Organs NATO hat er höflicherweise offen gelassen). Die Folgen sind in der Berichterstattung zu der Begegnung angesichts des winterlichen Aufmarsches russischer Truppen unweit der Ukraine vielfältig Thema in den Medien. Gelungen ist die Überschrift des Kommentars der Süddeutschen Zeitung, die deren Washingtoner Korrespondent beitrug: „Putin kennt jetzt den Preis“.
Aber den Preis wofür? Das wird medial kaum ausbuchstabiert. Das aber haben die Bevölkerungen des Westens zu bedenken.
Für die Auslösung der angedrohten Folgen habe Präsident Biden das Wort „Invasion“ gewählt. Nach dem Ende des Gesprächs hat, wie üblich, sein Sicherheitsberater ausgewählten US-Journalisten ein Briefing gegeben. Demnach sind die Reaktionen, inklusive Sanktionen, angedroht worden für „if Russia further invades Ukraine“. „further invades“ ist die Rote Linie. Was heisst das? Was ist eine „Invasion“? Und was besagt die Betonung auf FURTHER?
Zur Ehrenrettung der Professionalität der US-Diplomatie sei ergänzt: Das hat Präsident Biden natürlich nicht gesagt. Das Read Out zu seinem Gespräch mit Präsident Putin besagt lediglich „military escalation“.
2. Was heisst “Invasion”?
Das Bild, welches die mediale Berichterstattung anklingen lässt, ist eine Art „Einmarsch“ russischer Truppen unter Führung von Panzern. Zu erwarten im Januar/Februar 2022, wenn die Truppenzahl auf 170.000 angestiegen sein wird und wenn die Böden gefroren sind Wichtig ist das für die Bewegungsfreiheit der gepanzerten russischen Verbände jenseits befestigter Straßen. Die haben sie, wenn die Böden durchgefroren sind. Das ist offenkundig eine Invasion; und sie ist auch eine „weitergehende“ Invasion, weil weitere Gebiete der Ukraine erobert werden.
Das aber wird aller Voraussicht nach nicht geschehen. Die Öffentlichkeit wird aufwachen, wenn Russland lediglich offiziell macht, was eh bereits der gegenwärtige Status ist: Sie wird eigene Truppen verlegen in die Gebiete von Rebellen, die sie eh militärisch stützt. Im völkerrechtlichen Sinne wäre auch das eine „Invasion in die Ukraine“. Ist das aber eine „weitere“ Invasion? War das, was lediglich rechtlich einen Unterschied macht, gemeint mit der Roten Linie, die Präsident Biden gezogen hat? Das wird dann gefragt werden.
Dieses Szenario des erwartbaren abgestuften Vorgehens Russlands stammt von dem Spezialisten der SWP, des außenpolitischen Think Tanks der Bundesregierung, André Härtel. Es wird auch dem Geiste Putins gerecht, der nämlich, so das Diktum des ersten US-Außenministers unter Trump, „dreidimensional“ Schach zu spielen vermöge. Diese Verlagerung, so Härtel weiter, bietet Moskau die Möglichkeit, die Regierung in Kiew unter erheblichen Druck durch Reputationsverlust zu setzen.
Es sei nun einmal so, dass die ukrainischen Militärs aufgrund der Kampferfahrungen der vergangenen Jahre und der anhaltenden Modernisierung des Verteidigungssektors tatsächlich potenter geworden sind. Mit Blick auf die Luftstreitkräfte aber bleibt die ukrainische Armee gegenüber ihrem russischen Pendant klar unterlegen. Es gilt eben der Satz von Bundeskanzlerin Merkel bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2015: Aufrüstung der Ukraine bringt keinen Wechsel der Überlegenheit. Graduelle Aufrüstung ist somit herausgeworfenes Geld.
Russland könne dann jeden weiteren Vorfall, z.B. Einsätze der frisch angeschafften Drohnen aus türkischer Produktion, als Anlass für Luftangriffe auf Stützpunkte der ukrainischen Armee in der nicht besetzten Ostukraine nehmen. Kiew hätte darauf kaum eine wirksame Antwort. Ihre Zustimmungswerte würden in den Keller gehen, ihre Autorität zerbröseln, wenn dem martialischen rhetorischen Gewand, welches auch der jetzige Präsident schließlich in seiner Verzweifelung angelegt hat, keine Taten entsprechen.
3. Zuspitzung mit Blick auf Innenpolitik
Mittel der Verwirrung ist ein produziertes Missverständnis. Leitend in der Außenpolitik ist eben häufig der innenpolitische Effekt. Die Aufgabe des US-Sicherheitsberaters ist (auch) die eines „spin doctor“ – für den heimischen Mediengebrauch spitzt er zu. Die Medien in Deutschland übernehmen das: Sie kommunizieren nicht präzise die Frage, für welche Art von militärischer Eskalation die Sanktionen angedroht sein mögen. Wenn es dann eines Tages so abgestuft kommen wird, wie der Putinschen Intelligenz entspricht, wird erst dann „überrascht“ die Frage debattiert werden, was die gezogene Rote Linie eigentlich bedeutet; erst wenn etwas Niederschwelliges geschehen ist, was nicht eindeutig ein Überschreiten der Roten Linie ist, sehr wohl aber als ein solches interpretiert werden könnte …