1. Bewegung in den USA
Am 21. Juli hatten sich die deutsche Bundesregierung und die Biden-Administration in den USA auf eine „Gemeinsame Erklärung“ verständigt. Mit Bezug auf die fertiggestellte Gas-Pipeline Nord Stream 2 wird da, etwas verklausuliert, festgehalten, dass Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden darf, wenn es die Sicherheit der Energieversorgung der EU im Sinne der EU-Gas-Richtlinie nicht gefährdet und solange „Russland keine Pipeline, einschließlich Nord Stream 2, zur Erreichung aggressiver politischer Ziele einsetzt“. Implikation ist, auch wenn es nicht explizit gesagt wird, dass auch die Biden-Administration zu liefern hat. Sie hat zu verhindern, dass die US-Seite den Betrieb der Pipeline unabhängig von diesen beiden Kriterien torpediert.
In Washington zirkuliert ein „Non-Paper“ der Bundesregierung, welches hier als Verschlusssache eingestuft ist. In ihm werden konkrete Sanktionsfolgen ausbuchstabiert, die es gemäß der deutsch-amerikanischen Vereinbarung hätte, falls Moskau seine Pipelines als Waffe einsetzt. Der Schwerpunkt liegt auf wirtschaftlichen Maßnahmen: Unterstützung für die ukrainische Gasversorgung durch Sicherstellung des „Reverse Flow“ von West nach Ost; . Begrenzung staatlicher Exportkreditgarantien im Bereich des russischen Energiesektors; Investitionsgarantien für künftige Projekte im russischen Energiesektor aussetzen. Eine Einstellung des Betriebs von Nord Stream 2 gehört nicht dazu.
Die Republikaner im US-Senat aber wollen exakt das – und können sich der grundsätzlichen Sympathie etlicher Senats-Kollegen aus den Reihen der Demokraten sicher sein. Sie wollen der Regierung dieserhalb das Heft aus der Hand nehmen, indem sie den Passus, der dem Präsidenten die Möglichkeit einräumt, Ausnahmen im nationalen Interesse zu erteilen, streichen wollen.
Bislang wollen die Republikaner im Senat dem US-Verteidigungshaushalt für 2022 (National Defense Authorization Act (NDAA)) nur zustimmen, wenn die von ihnen geforderten Nord Stream 2 Sanktionen enthalten sind. Bei einer Abstimmung am 29. November bekam die Vorlage mit 45:51 nicht die erforderlichen 60 „Ja“-Stimmen.
2. Stand in der Ukraine zur Ertüchtigung des UGTS
Dass Nord Stream 2 kommen wird und das aus sowjetischer Zeit stammende Durchleitungssystem UGTS auf dem Boden der Ukraine in dieser Funktion ersetzen wird, ist seit langem klar. Den Stand der Vorbereitung dazu schildert der Bremer Energieexperte für Osteuropa Heiko Pleines in einem am 4. Dezember erschienenen Fachbeitrag. Aus diesem Beitrag hebe ich Folgendes hervor.
Der Autor beschreibt den maroden Zustand des UGTS, der natürlich eine lange Geschichte schon hat; schließlich ist das System uralt. In den 1990er Jahren bereits gab es einen erheblichen Modernisierungsbedarf, da über ein Drittel des Pipeline-Systems damals seit über 25 Jahren in Betrieb war. Die tatsächlich nutzbare Kapazität des UGTS liegt deshalb bei nur noch 80% der nominellen Kapazität. Eine umfassende Bestandsaufnahme des Modernisierungsbedarfs und der entsprechenden Kosten existiert nicht oder ist zumindest nie veröffentlicht worden. Und das mit gutem Grund.
Eine umfassende Modernisierung des UGTS unter Beteiligung ausländischer Investoren wurde schließlich mehrfach ventiliert, konnte aber nie verwirklicht werden. Erstmals wurden Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Jahre 2002 aufgenommen, unter Einbeziehung der Ruhrgas AG. Einen erneuten Anlauf gab es 2009. Da wurde ein Konsortium mit all den westeuropäischen Unternehmen, die nun an Nord Stream 2 beteiligt sind, einbezogen. Auch dieser Anlauf scheiterte. Die Gründe: In der Ukraine gab es Vorbehalte, Russland an strategisch wichtiger Infrastruktur zu beteiligen. Westliche Investoren erhielten keine Transitzusagen Russlands, um ihre Investitionen abzusichern. Im Ergebnis hat die Ukraine zwar regelmäßig einzelne Verdichterstationen erneuert, aber keine umfassende Modernisierung des Pipelinenetzes vorgenommen. Warum sollte sie auch, wenn die längerfristige Nutzung in den Sternen stand?
Das UGTS wird heute vom staatlichen Energiekonzern Naftogaz Ukrainy betrieben. Gemäß den Vorgaben der EU wurden innerhalb von Naftogaz separate Einheiten für Produktion und Transport geschaffen – es wurde also genau die Konstruktion gewählt, für die auch Nord Stream sich entschieden hat und nun die Genehmigung von der Bundesnetzagentur erwartet. Erdgastransport und Erdgasspeicher werden von Ukrtransgaz, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft von Naftogaz betrieben. Soweit, so rechtlich solide.
Die Einnahmen von Naftogaz aus dem Transit russischen Erdgases betrugen unter dem Transitvertrag, der auf Ende 2019 auslief, im Durchschnitt gut 2 Mrd. Euro pro Jahr. Im Jahr 2021 dürften die ukrainischen Transiteinnahmen bei nur noch bei 1 Mrd. Euro liegen. Diese Summe entspricht immerhin noch gut 2 Prozent der im Staatshaushalt vorgesehenen Einnahmen und 10 Prozent der vorgesehenen Neuverschuldung. So wird es immer wieder, gebetsmühlenartig, berichtet. Doch ein solcher Vergleich sei irreführend, sagt Heiko Pleines. Und belegt es mit Folgendem.
„Erstens kann (neben regelmäßig anfallenden Steuerzahlungen) maximal der Gewinn an den Staatshaushalt abgeführt werden, der zum Beispiel im letzten Jahr für den Erdgastransit nur bei 40 Mio. Euro lag. Zweitens braucht Naftogaz die Einnahmen eigentlich selbst, um die Modernisierung des Konzerns zu finanzieren. Dies betrifft auch die veralteten Erdgaspipelines. Tatsächlich sind die Finanzen des Staatskonzerns Naftogaz für die anstehenden Investitionen nicht ausreichend.
Der hochverschuldete ukrainische Staat hat sich im Zuge der pandemiebedingten Wirtschaftskrise durch hohe Dividendenzahlungen zusätzliche Einnahmen zu Lasten des Energiekonzerns gesichert. Hinzu kommt, dass die privaten Erdgasversorger, insbesondere diejenigen, die dem ukrainischen Oligarchen Dmytro Firtasch gehören, gegenüber Naftogaz erhebliche Schulden angehäuft haben. Gleichzeitig gibt es Vorwürfe von Intransparenz, Ineffizienz und Korruption im Konzern.
Im Ergebnis erklärte Naftogaz im April 2021, dass es im Vorjahr einen Verlust von einer halben Milliarde Euro erwirtschaftet habe, während der Plan für den Staatshaushalt, der im Dezember verabschiedet worden war, noch mit einem erheblichen Gewinn rechnete. Gleichzeitig habe das Management hohe Bonuszahlungen erhalten, die im Unternehmensbericht nicht getrennt ausgewiesen wurden. Die ukrainische Regierung reagierte mit der spontanen und rechtlich umstrittenen Entlassung des Top-Managers, Andriy Koboljew, was die unabhängigen Mitglieder des Aufsichtsrates zum Rücktritt veranlasste. Staat und Unternehmen sind dementsprechend schlecht aufgestellt, um das ukrainische Pipelinenetz für Erdgas zukunftsfähig zu machen.“ Um seinen Erdgasbedarf aus Russland sicher transportierbar zu machen, braucht Europa einen Partner. Der kann entweder Skylla (Russland/Putin) oder Charybdis (Ukraine/Oligarchen-Moloch) sein. Die übliche Darstellung in sicherheitspolitischen Kreisen besteht darin, Skylla ausgiebig zu porträtieren, Charybdis aber, meist mangels Kompetenz, im Schatten zu belassen. Die Besonderheit des Autors Pleines ist, dass er Skylla und Charybdis ungeschminkt darzustellen vermag. Hier, in diesem Beitrag, wurde allein sein Charybdis-Portrait wiedergegeben. Das ist einseitig, aber zum Ausgleich erforderlich.
Bildquelle: Onno, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons