Die Vergleiche, die der Belgier Charles Michel bemühte, wirkten ein wenig schräg, vielleicht gekrampft. Zu Angela Merkels Abschied sagte der Ratspräsident der Europäischen Union, ein Gipfel ohne die Bundeskanzlerin sei wie Rom ohne den Vatikan oder wie Paris ohne den Eiffelturm. Unvorstellbar? Unersetzlich? Die Botschaft erschließt sich nicht, ist kaum mehr als der missglückte Versuch einer charmanten Floskel.
Der Regierungswechsel in Berlin reißt keine Lücken und lässt keine Bauwerke einstürzen. Die Bedrohungen, die das europäische Einigungswerk existenziell gefährden, gehen von anderen Hauptstädten aus, und sie sind in den 16 Merkel-Jahren brisanter geworden. Mehr als hundert EU-Gipfel hat die Kanzlerin in ihrer Amtszeit bestritten; ihr Nachfolger wird den Staffelstab voraussichtlich zum Ratstreffen im Dezember übernehmen. Nur falls der Zeitplan zur Regierungsbildung in Berlin aus dem Ruder läuft, kehrt Merkel als geschäftsführende Bundeskanzlerin noch einmal auf die Europabühne zurück.
Das erwarten nur wenige, und noch weniger wüschen es sich. So wohlmeinend die Kommentare ihrer Amtskollegen in Brüssel auch gewesen sein mögen – von Merkels Kompromissfreude war die Rede, auch von ihrer Menschlichkeit und Weisheit -: der Grundkonflikt über das Selbstverständnis der EU schwelt stärker denn je, und von Deutschland sind 16 Jahre lang keine konstruktiven Impulse ausgegangen, diesen Konflikt zu lösen. Die Vereinigten Staaten von Europa oder ein Europa der Vaterländer? Vertiefung oder/und Erweiterung? Kerneuropa, Europa zweier Geschwindigkeiten? Die Debatte über die Zukunft ist praktisch zum Erliegen gekommen.
Das war kaum verwunderlich, weil weder in Merkels CDU noch der bayerischen CSU von echter Europabegeisterung die Rede sein kann. Statt einer gemeinsamen Vision, einer Stabilisierung durch vertiefende Verträge, ging es nur darum, den Laden irgendwie zusammenzuhalten. Aber Stillstand bedeutet Rückschritt, und das Wiedererstarken der Nationalisten, das Ausscheiden der Briten, die vielen faulen Kompromisse kennzeichnen diesen Rückschritt bis hin zur Gefahr des Zerfalls.
Zu ihrem Abschied hat Merkel das Problem selbst angesprochen. Sie hob den Rechtsstaatsstreit mit Polen auf eine andere Ebene, als sie sagte, es Europa müsse grundsätzlich klären, ob es eine immer engere Zusammenarbeit oder aber ein loses Gebilde von Nationalstaaten sein wolle. Einen eigenen Standpunkt dazu teilte sie nicht mit, und sie vermied es wie so oft, in dem konkreten Konflikt mit Warschau Stellung zu beziehen.
Der luxemburgische Premier Xavier Bettel hatte womöglich diese Art Europapolitik im Sinn, als er Merkel als „Kompromissmaschine“ bezeichnete. Das war vermutlich durchaus anerkennend gemeint, weil es in vielen Krisen gelang, einen Streit zu schlichten. Oft in langen nächtlichen Verhandlungen, in Kamingesprächen, Beichtstuhlverfahren, mittels Ausdauer und Stehvermögen auf der einen, Ermüdung und Erschöpfung auf der anderen Seite. Nur, dass diese Kompromisse oft teuer erkauft wurden und nicht von Dauer waren. Im aktuellen Streit mit Polen hat sich nichts bewegt. Aussitzen, vertagen, auf die lange Bank schieben bringen keine Lösungen.
Rechtsstaatlichkeit ist nicht verhandelbar, und die Menschlichkeit sollte es auch nicht sein. Die anhaltende Unfähigkeit zur Einigung in Fragen von Flucht und Migration ist beschämend. Europas Baustellen, sagte Merkel bei ihrem Abgang, seien groß. Auf ihren Nachfolger im Kanzleramt konzentrieren sich viele Hoffnungen, dass die Europäische Union mit mehr Entschlossenheit zu einem demokratischen, sozialen, ökologischen und global verantwortungsvollen Gemeinschaftswerk erstarkt.
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